# taz.de -- 10 Jahre nach dem Auffliegen des NSU: Der lange Schatten des Terrors
       
       > Vor 10 Jahren flog der NSU auf. Seine Taten begannen in Nürnberg.
       > Angehörige der Opfer glauben, dass es dort Helfer gab, die nicht verfolgt
       > wurden.
       
 (IMG) Bild: Eine Gedenkveranstaltung für Enver Simsek am Tatort im September 2014
       
       An einem Dienstagabend im Oktober sitzt Semiya Şimşek in ihrem Haus in der
       türkischen Provinz Isparta und blickt in die Kamera ihres Computers. Sie
       trägt ein weißes Oberteil und spricht in einem Videogespräch übers Internet
       zu gut 50 Zuschauenden, organisiert ist der Abend von einem Nürnberger
       Verein.
       
       Die 35-Jährige erzählt von ihrem Vater Enver Şimşek, „ein sehr fleißiger
       und sozialer Mann“, der ihrer Mutter viele Liebesbriefe schrieb. „Ich bin
       stolz, seine Tochter zu sein.“
       
       Semiya Şimşek hat in den vergangenen Jahren oft über ihren Vater
       gesprochen, auf Gedenkfeiern, auf Podien, im Fernsehen. Sie wirkt an diesem
       Oktoberabend zunächst gefasst, als sie erzählt, wie ihr Vater 1985 nach
       Deutschland kam und von Schlüchtern in Hessen aus einen Blumengroßhandel
       aufzog, mit Verkaufsständen in mehreren Städten. Bis er am 9. September
       2000 erschossen wurde.
       
       Er stand an diesem Tag als Urlaubsvertretung an einem seiner Stände, an
       einer Ausfallstraße im Süden Nürnbergs – zwei Unbekannte traten an ihn
       heran und feuerten neun Schüsse auf ihn ab, mitten am Tag. Şimşek starb
       zwei Tage später im Krankenhaus.
       
       Semiya Şimşek war damals 14 Jahre alt, ihr Bruder Abdulkerim 13. Die Zeit
       nach dem Mord an ihrem Vater wurde zum Albtraum für die Familie: Elf Jahre
       lang wusste sie nicht, wer hinter der Tat steckte. Ermittler verdächtigten
       die Familie, unterstellten dem Vater Drogenhandel oder eine Geliebte.
       
       Bis zum 4. November 2011. An diesem Tag erschießen sich in Eisenach die
       Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem
       gescheiterten Bankraub in ihrem Wohnmobil. Ihre Kumpanin Beate Zschäpe
       setzt in Zwickau den letzten Unterschlupf der Gruppe in Brand und
       verschickt Bekennerschreiben. Darin verherrlicht der
       „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) seine zehn Morde an migrantischen
       Gewerbetreibenden und einer Polizistin. Der erste Mord war der an Enver
       Şimşek.
       
       Das Auffliegen der Terrorgruppe ist jetzt genau zehn Jahre her. Und je
       länger Semiya Şimşek an diesem Oktoberabend darüber spricht, desto
       energischer wird sie. „Nichts ist aufgeklärt“, sagt die Sozialpädagogin
       bitter. „Wir haben immer noch dieselben Fragen wie damals. Warum mussten
       unsere Väter sterben? Warum gerade sie?“
       
       Semiya Şimşek ist überzeugt: Weil es Helfer an den Tatorten gab, die die
       Opfer ausspähten und aussuchten, gerade in Nürnberg. „Es ist kein Trio, es
       gibt viele Helfershelfer. Und ich verstehe den Staat nicht, warum er da
       nicht ermittelt, warum er sie nicht bestraft. Warum möchte er immer noch
       blind bleiben?“
       
       Semiya Şimşek muss kurz innehalten. Sie blickt auf ihrem Bildschirm in
       betroffene Gesichter der Zuhörenden. Der Moment zeigt, wie offen die Wunden
       noch immer sind. Und wie sehr der Staat in dieser Mordserie bis heute
       versagt.
       
       Der Terror des NSU ist die schwerste rechtsterroristische Anschlagsserie in
       Deutschland. Es ist der Terror von Thüringer Neonazis, der in Nürnberg
       begann – und dort die meisten Todesopfer forderte.
       
       Warum ausgerechnet Nürnberg? Weil es lokale Helfer gab? Das Jenaer Trio war
       mit Rechtsextremisten aus der Region gut bekannt. Und zwei von ihnen hatten
       vor den Taten direkten Kontakt mit den Nürnberger Mordopfern.
       
       Am 23. Juni 1999 explodiert in der Nürnberger Bar „Sonnenschein“, nahe dem
       Hauptbahnhof, eine Bombe, versteckt in einer Taschenlampe. Als der
       Betreiber Mehmet O., der seinen wahren Namen sicherheitshalber aus der
       Öffentlichkeit hält, die Taschenlampe beim Saubermachen findet und
       anknipst, zündet die Rohrbombe. O. fliegt durch das Lokal, erleidet
       Schnittwunden, muss mehrere Wochen gepflegt werden.
       
       Am 9. September 2000 folgt der Mord an Enver Şimşek und am 13. Juni 2001
       der zweite Mord der NSU-Serie, wieder in Nürnberg, an Abdurrahim Özüdoğru,
       der eine Änderungsschneiderei betreibt, in der er erschossen wird. Der
       49-Jährige war ursprünglich für ein Maschinenbaustudium nach Deutschland
       gekommen und Vater einer 17-jährigen Tochter. Am 9. Juni 2005 folgt
       schließlich der Mord an İsmail Yaşar, einem 50-jährigen Imbissbetreiber in
       Nürnberg. Er hinterlässt einen 15-jährigen Sohn und eine 22-jährige
       Tochter.
       
       In sechs anderen Städten ermordete der NSU bis 2007 sieben weitere
       Menschen: Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Theodoros
       Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kamen
       zwei Anschläge in Köln und 15 Raubüberfälle.
       
       Für die Terrorserie wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 vor dem
       Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier
       Mitangeklagte erhielten Haftstrafen bis zu zehn Jahren: der frühere
       NPD-Mann und Waffenbeschaffer Ralf Wohlleben, der engste Gefährte André
       Eminger, der Passbesorger Holger G. und der geläuterte Waffenüberbringer
       Carsten S.
       
       Semiya Şimşek aber glaubt, dass das nicht alle sind. Nach dem Auffliegen
       des NSU schrieb sie ein Buch, sie verfolgte den Prozess in München als
       Nebenklägerin, traf sich mit anderen Angehörigen, nahm an
       Gedenkveranstaltungen teil. Und wanderte 2012 nach Isparta aus. Dorthin, wo
       ihr Vater geboren wurde – und wo er heute beerdigt ist.
       
       Semiya Şimşek suchte Abstand, heiratete, zieht in Isparta heute zwei Kinder
       groß und arbeitet mit syrischen Geflüchteten. Ruhe gefunden hat sie dennoch
       nicht. Weil der Mord an ihrem Vater und die offenen Fragen sie nicht
       loslassen. Und weil sie damit nicht allein ist.
       
       An dem Videogespräch nimmt auch Gamze Kubaşık teil, die Tochter des
       Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık. „Ich bin mir sicher, dass es Helfer
       gab“, sagt auch sie. „Aber dazu werden wir wohl nie Antworten bekommen. Die
       Aufklärung wurde verhindert.“ Auch Mehmet O., der verletzte Betreiber der
       „Sonnenschein“-Bar, sagt: „Das waren definitiv nicht nur drei Leute.“ Viele
       Engagierte in Nürnberg sind davon ebenfalls überzeugt.
       
       Das Problem ist nur: Die Bundesanwaltschaft konnte bis heute keine
       NSU-Helfer an den Tatorten ermitteln – nicht in Nürnberg und nicht
       anderswo. Dabei beschrieben sich die Terroristen in ihrem Bekennervideo
       selbst als „Netzwerk von Kameraden“.
       
       129 Kontaktleute des untergetauchten Trios listete die Bundesanwaltschaft
       einst auf, darunter auch V-Leute. Im NSU-Prozess klagte sie davon die vier
       engsten Unterstützer an. Zudem laufen bis heute noch Verfahren gegen neun
       weitere Helfer, die Wohnungen oder Papiere organisiert haben sollen.
       Handfeste Beweise gegen weitere Unterstützer aber habe man nicht gefunden,
       beteuerte die Bundesanwaltschaft immer wieder.
       
       Viele der Opferangehörigen dagegen glauben, es werde nicht richtig nach den
       Helfern gesucht, weil der Staat die Dimension des NSU-Terrors nicht noch
       größer machen wolle. Tatsächlich lässt gerade der Tatort Nürnberg an der
       These eines abgeschotteten Terrortrios zweifeln.
       
       Wenige Tage nach dem 4. November 2011, dem Tag, an dem der NSU aufflog,
       geht beim Verlag der Nürnberger Nachrichten ein Brief ein, adressiert an
       die Redaktion. Eine Sekretärin gibt ihn Politikredakteur Herbert Fuehr: Es
       ist eines der NSU-Bekennerschreiben.
       
       „Das war wie ein Schock“, erinnert sich Fuehr. Jahrelang hatte seine
       Zeitung über die drei rätselhaften Morde in der Stadt berichtet. „Und
       plötzlich war klar, wie alles zusammenhängt.“ Gleichzeitig sei er verblüfft
       gewesen. „Dieses Schreiben, ausgerechnet an unsere Zeitung?“
       
       15 dieser Bekennerschreiben soll Beate Zschäpe auf ihrer Flucht an
       Zeitungsredaktionen, Parteien oder muslimische Vereine verschickt haben.
       Der Brief an die Nürnberger Nachrichten aber ist unfrankiert. „Das erinnere
       ich genau, weil unsere Sekretärin die Briefmarken sonst sammelte“, sagt
       Fuehr. Es musste also jemand persönlich den Brief eingeworfen haben.
       Zschäpe selbst war es wohl nicht – ihr rekonstruierter Fluchtweg führte gen
       Norden. „Also war es ein Helfer“, sagt Fuehr. „Einer, den wir bis heute
       nicht kennen.“
       
       Herbert Fuehr recherchierte mit Kollegen nach Helfern des NSU vor Ort,
       prüfte Kontakte lokaler Szenegrößen nach Thüringen und mögliche
       konspirative Wohnungen in Tatortnähe – letztlich erfolglos. Dann ging er in
       Rente. Heute ist er in einem Nürnberger Bündnis gegen Rechtsextremismus
       aktiv. Er sagt: „Aus meiner Sicht muss es in Nürnberg Helfer mit
       Ortskenntnis gegeben haben. Die Tatorte sind sonst nicht zu finden.“ Fuehr
       gab damals Hinweise an die Polizei weiter. „Von dort habe ich aber nie mehr
       etwas gehört.“
       
       Tatsächlich gibt es Auffälligkeiten bei allen Nürnberger Tatorten. So war
       bei der „Sonnenschein“-Bar von außen nicht erkennbar, dass sie von einem
       Migranten betrieben wurde. Gleiches galt für die Schneiderei von Abdurrahim
       Özüdoğru. Auch der Blumenstand von Enver Şimşek lag abgelegen und war nur
       unregelmäßig und an wenigen Tagen aufgebaut. Der verschlungene Weg, auf dem
       sich laut Zeugen zwei Radfahrer – Mundlos und Böhnhardt, wie sich später
       herausstellte – nach dem Mord an İsmail Yaşar vom Tatort entfernten, sei
       auch nur Ortskundigen bekannt, betont Fuehr.
       
       Untersuchungsausschüsse hielten zudem fest, dass sich Neonazis vom
       „Thüringer Heimatschutz“, zu dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehörten,
       schon in den neunziger Jahren mit Nürnberger Szenefreunden trafen, etwa in
       der Gaststätte „Tiroler Höhe“. Das Lokal stand auch auf einer Telefonliste,
       die Ermittler 1998 nach dem Abtauchen des Jenaer Trios in deren Garage
       fanden. Ausgewertet wurde die Liste erst nach dem Auffliegen des NSU.
       
       Die Anwältin der Familie Şimşek, Seda Başay-Yıldız, verweist auch auf die
       NSU-Ausspähnotizen zu Nürnberg, die Ermittler in den Resten des
       Trio-Unterschlupfs fanden. „Asylheim: Tür offen ohne Schloss, Keller
       zugänglich“, heißt es dort etwa. Oder: „Problem: Tankstelle nebenan. Türke
       aus Tankstelle geht in jeder freien Minute zu reden rüber“. Bemerkenswerte
       Details, von denen Başay-Yıldız überzeugt ist, dass sie Außenstehende nicht
       durch zufällige Beobachtungen erlangen konnten. „Alles spricht hier für
       Informationen von Insidern.“
       
       Aber wer sind diese Nürnberger Insider?
       
       Ein Name, der vor Ort immer wieder fällt, ist Matthias Fischer. Als im Juni
       1999 in der „Sonnenschein“-Bar die Bombe explodierte, ist der damals erst
       22-Jährige bereits einer der am besten vernetzten Neonazis in der Region.
       Fischer engagiert sich in Kameradschaften wie der Fränkischen Aktionsfront,
       später bei der NPD. Und er gibt in Nürnberg ein Szeneheft heraus: den
       Landser.
       
       Offen wurde dort zu einem härteren Auftreten der Szene aufgerufen. „Keine
       Worte, sondern Taten“, lautete der wiederholte Aufruf. Das wurde später die
       Losung des NSU. In einer Ausgabe Ende 1999, wenige Monate nach dem Anschlag
       aufs „Sonnenschein“, stand im Landser ein „Gruß an die Untergrundkämpfer“.
       War damit der NSU gemeint?
       
       Fischer hatte auch Kontakte nach Thüringen. Wie er bei einer
       Zeugenvernehmung 2013 beim BKA einräumte, lernte er in den neunziger Jahren
       auf Konzerten auch einen Mann aus Jena kennen, zu dem er „sporadisch
       Kontakt“ hielt: Uwe Mundlos. Der wiederum führte Fischer auf besagter
       „Garagenliste“.
       
       Mehr noch: Fischer hatte zwei Szenefreunde, die nahe der „Sonnenschein“-Bar
       wohnten, einer direkt im Nachbarhaus. Das machte die Opferanwältin Antonia
       von der Behrens im NSU-Prozess publik. Und das BKA sieht auch die
       „begründete Annahme“, dass Fischers Landser-Heft vom NSU-Trio 2001 oder
       2002 ganz direkt einen Spendenbrief erhielt.
       
       War Matthias Fischer also einer der Nürnberger NSU-Helfer? Ermittlungen
       dazu gegen ihn sind nicht bekannt. Auf eine Anfrage an den Neonazi über
       seine Partei heißt es, man rede nicht mit der taz. In seiner Vernehmung
       2013 bestritt Fischer, etwas vom NSU gewusst oder mit ihm zu tun gehabt zu
       haben. Nachfragen der BKA-Beamten gab es fast keine, nach einer Stunde war
       die Befragung vorbei.
       
       2014 zog Fischer schließlich nach Brandenburg. Von der militanten Szene hat
       er sich nicht gelöst. Fischer baute zuletzt die Neonazi-Partei „Der III.
       Weg“ auf, die er als Bundesvize leitet – die radikalste rechtsextreme
       Partei derzeit. Der Brandenburger Verfassungsschutz hält ihn für eine
       „zentrale Führungsfigur“ und einen „Strippenzieher“, der für Vernetzungen
       in der Neonazi-Szene sorge, „über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus“.
       
       Auch bei der jüngsten Provo-Aktion seiner Partei, einer „Grenzpatrouille“
       in Brandenburg, war Fischer dabei. Vom NSU-Terror distanzierte sich seine
       Partei nicht, im Gegenteil. Im Münchner Prozess hielten „III. Weg“-Anhänger
       Kontakt zu den Mitangeklagten Wohlleben und Eminger. Die Partei geißelte
       das Verfahren als „Komödienstadel“ und „Schauprozess“.
       
       Auch eine andere Rechtsextremistin lebte 2002 bis 2003 im Nürnberger Umland
       und war damals gut vernetzt: Mandy Struck. Die Friseurin hatte Kontakt zu
       Fischer und seinen Gruppen, nahm an einer ihrer Schulungen teil und schrieb
       einen Beitrag für den Landser, wie sie im NSU-Prozess einräumte.
       
       1998 lernte Struck das untergetauchte NUS-Trio kennen und besorgte ihm
       einen Unterschlupf in Chemnitz, in der Wohnung ihres damaligen
       Lebensgefährten – weil ein Szenefreund sie darum gebeten habe. Auch soll
       sie Zschäpe eine Krankenkassenkarte überlassen haben. Zschäpe wiederum
       benutzte den Namen Mandy Struck als einen ihrer Aliasse.
       
       Gegen Struck läuft bis heute ein Ermittlungsverfahren der
       Bundesanwaltschaft, eines der neun noch offenen – aber nur wegen des
       Unterschlupfs, nicht wegen möglicher Hilfen in Nürnberg. Im NSU-Prozess
       beteuerte sie, von den Terrorplänen nichts gewusst und die Szene verlassen
       zu haben. Tatsächlich aber tauchte ihr Name später noch auf der
       Anwesenheitsliste eines rechtsextremen Vereins im Erzgebirge auf. Auch der
       NSU-Ausschuss im Bundestag hielt Struck für eine „Macherin“, die sich zu
       Unrecht als „unbedeutend“ darstellen konnte und die die Ermittler
       „intensiver in den Fokus nehmen hätten müssen“.
       
       Ein anderer der damaligen Partner von Mandy Struck war der Nürnberger
       Neonazi Christian W. Der 42-Jährige war einst in der Kameradschaftsszene
       aktiv, später bei der NPD. Struck sagte im NSU-Prozess, W. habe ihr mal
       eine Bombenbauanleitung gegeben – was dieser bestreitet. Aber er räumte in
       einer BKA-Zeugenvernehmung 2012 ein, dass ihm der Verkaufsstand von Enver
       Şimşek bekannt war: Er selbst habe dort zwei Mal Blumen gekauft. Mit den
       Morden wollte er aber nichts zu tun gehabt haben. Die NSU-Taten seien
       „Wahnsinn“, erklärte er den Beamten. Ermittlungen gegen Christian W. sind
       nicht bekannt. Er lebt bis heute in der Region, will der Szene aber
       ebenfalls den Rücken gekehrt haben.
       
       Anwältin Başay-Yıldız verweist noch auf einen weiteren Nürnberger
       Rechtsextremisten, der direkten Kontakt zu einem späteren Mordopfer hatte:
       Jürgen F. Der heutige Mittfünfziger hatte mit İsmail Yaşar, dem Nürnberger
       Imbissbetreiber, vor dessen Ermordung einen Streit. Jürgen F. hatte eine
       Gipsfigur vor dem Imbiss zerstört. Den Schaden bezahlte er nicht, wurde
       deshalb von Yaşar angezeigt und vor Gericht verurteilt.
       
       Başay-Yıldız hält es für möglich, dass das Trio so auf Yaşar aufmerksam
       wurde. Das BKA erklärte dagegen bereits 2012, man sehe keinen Zusammenhang
       mit dem Mord – der vorherige Streit sei „situationsbedingt“ entstanden.
       Aber: Auch Jürgen F. traf Mundlos und andere Thüringer Neonazis laut
       Ermittlungspapieren 1995 in der „Tiroler Höhe“.
       
       Mehmet O., der einstige „Sonnenschein“-Betreiber, wies die Ermittler auf
       eine weitere Rechtsextremistin hin: Susann Eminger, die Ehefrau des engsten
       NSU-Helfers André Eminger aus Zwickau. Jahrelang wusste Mehmet O. nicht,
       wer den Anschlag auf ihn verübt hatte. Im Juni 2013 offenbarte im
       NSU-Prozess plötzlich der Thüringer Mitangeklagte Carsten S., dass Mundlos
       und Böhnhardt eine Taschenlampe in eine Nürnberger Kneipe „stellten“.
       
       Als Mehmet O. daraufhin nochmal vernommen wurde und ihm BKA-Beamte Fotos
       von Personen aus dem NSU-Komplex vorlegten, war sich der Gastronom sicher,
       eine Frau wiederzuerkennen. „Woher ich sie kenne, weiß ich nicht mehr“,
       sagt Mehmet O. heute. „Aber ich hatte sie auf jeden Fall schon mal
       gesehen.“ Erst Jahre später erfuhr Mehmet O. durch Journalisten, auf wen er
       da gezeigt hatte: Susann Eminger.
       
       Susann Eminger war jahrelang in der Szene aktiv, wurde nach Zschäpes
       Untertauchen zu deren bester Freundin, überließ ihr eine Bahncard und
       Kleidung für die Flucht. Auch gegen die 40-Jährige läuft eines der offenen
       Verfahren bei der Bundesanwaltschaft, wegen Unterstützung einer
       terroristischen Vereinigung – aber nur wegen der Bahncard. Eine Beteiligung
       am Anschlag auf das „Sonnenschein“ wird ihr nicht vorgeworfen.
       
       Ermittler begründeten dies damit, dass Mehmet O. seine Aussage zu Susann
       Eminger „weder zeitlich noch örtlich noch situativ zuordnen“ konnte. Auch
       habe das NSU-Trio Susann Eminger laut Zschäpe erst nach dem Anschlag
       kennengelernt. Eminger selbst verweigerte zu alldem im NSU-Prozess die
       Aussage.
       
       Aber auch auf dem Computer von Susann und André Eminger fanden Ermittler
       einen Kartenausschnitt von Nürnberg. Und der NSU wurde in der Familie bis
       zum Schluss verehrt. Als Beamte zwei Jahre nach dem Auffliegen die Wohnung
       der Emingers nochmals durchsuchten, fanden sie im Wohnzimmer eine
       Kohlezeichnung mit den Gesichtern von Mundlos und Böhnhardt. Dazu der
       Schriftzug: „Unvergessen“.
       
       All die Personen aus dem Umfeld des NSU-Trios und der Nürnberger Tatopfer –
       sind sie Zufall? Mehmet O. und die anderen Opferangehörigen glauben das
       nicht. „Ich will Ermittlungen gegen diese Leute sehen“, fordert Mehmet O.
       „Von Versprechungen habe ich die Nase voll.“
       
       Die Bundesanwaltschaft gibt sich zu der Unterstützer-Frage in Nürnberg
       jedoch wortkarg. Aktuell bestätigt sie nur die neun noch offenen
       Helferverfahren, darunter jene gegen Mandy Struck und Susann Eminger. Für
       weitere Unterstützer wie Matthias Fischer, Christian W. oder Jürgen F.
       fehle es an einem konkreten Tatverdacht. Für die Bundesanwaltschaft spricht
       vieles daher dafür, dass das Trio nach dem Abtauchen tatsächlich eng
       abgeschirmt lebte und in tagelangen Erkundungen seine Opfer selbst
       ausspähte.
       
       Die Opferfamilien und ihre Anwälte kritisieren, dass sie bis heute keine
       Akteneinsicht zu den neun noch offenen Verfahren bekommen – was die
       Bundesanwaltschaft mit den noch laufenden Ermittlungen begründet. Auch
       fordern sie endlich Anklagen. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Verfahren
       demnächst eingestellt werden. Da schon der engste Trio-Vertraute André
       Eminger im NSU-Prozess einen Teilfreispruch erhielt, ist ein Schuldnachweis
       für die weiteren Verdächtigen noch schwieriger.
       
       Birgit Mair fürchtet diesen Tag. „Das würde für die Opfer noch mal eine
       Ohrfeige sein.“ Die 54-Jährige gehört in Nürnberg zu den Engagierten, die
       sich seit Jahren für die NSU-Aufklärung einsetzen. Sie verfolgte
       Untersuchungsausschüsse und den Münchner Prozess, hielt Kontakt zu den
       Opferfamilien, setzte sich für Gedenkorte ein, konzipierte eine Ausstellung
       zu den NSU-Betroffenen, die bundesweit gezeigt wurde. Und es ist ihr Verein
       – das [1][Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und
       Beratung] –, der Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık zu dem Onlinegespräch im
       Oktober einlud.
       
       Auch Birgit Mair glaubt, dass es bisher nicht verfolgte NSU-Helfer in ihrer
       Stadt gibt. „Aber der Wille, sie zu überführen, ist nicht da. Denn wenn man
       das ganze Netzwerk anklagen würde, käme man an den V-Leuten nicht vorbei.
       Und da will dieser Staat nicht ran.“
       
       Es ist ein Fazit, das so ähnlich auch der NSU-Untersuchungsausschuss im
       Bundestag fällte. Eine „strukturelle Aufhellung des breiteren
       Unterstützernetzwerks ist nicht erfolgt“, heißt es in dessen
       Abschlussbericht. Dabei sei „deutlich ersichtlich, welche Protagonisten und
       Netzwerke an deren einzelnen Tat- und Aufenthaltsorten Kontakt zu
       Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten“.
       
       Auch die Nürnberger Lokalpolitik sieht Aufklärungsbedarf. Auf Druck
       zivilgesellschaftlicher Initiativen, auch der von Mair, verabschiedete der
       Stadtrat im Mai [2][eine Resolution, in der ein zweiter bayerischer
       NSU-Untersuchungsausschuss gefordert wird]. Besonders zum Anschlag auf die
       „Sonnenschein“-Bar sei bis heute vieles ungeklärt, ebenso „die
       Unterstützerszene des NSU in Nürnberg“, heißt es dort. „Als Stadt, in der
       diese Verbrechen passierten, ist es unsere Aufgabe, Aufklärung
       einzufordern.“ Oberbürgermeister Marcus König, ein CSU-Mann, teilt die
       Forderung: Eine „lückenlose Aufklärung“ und einen zweiten U-Ausschuss sei
       man „den Opfern und Hinterbliebenen schuldig“.
       
       Das Problem ist nur: Die Opfer haben die Hoffnung auf Aufklärung fast
       verloren – und ihr Vertrauen in den deutschen Staat. „Natürlich haben wir
       kein Vertrauen mehr, nach allem, was passiert ist“, sagt Semiya Şimşek.
       „Und wenn dieser Staat so weitermacht, werden immer weitere Morde
       passieren.“ Es ist auch diese Enttäuschung, die Şimşek in die Türkei zog.
       
       Das Grab ihres Vaters liegt nicht weit von ihrem Haus in Isparta entfernt,
       sie ist häufig dort. „Ich spreche oft mit ihm“, sagt Şimşek. Manchmal nehme
       sie ihre beiden kleinen Kinder mit, die nun begännen, Fragen nach ihrem
       Großvater zu stellen. „Ich versuche, das vorsichtig zu erklären.“ Aber sie
       könne eben nicht alles erklären.
       
       Nürnberg setzte [3][in diesem Jahr zumindest Zeichen des Gedenkens]. Im
       Juni enthüllte die Stadt eine Stele zum 20. Jahrestag des Mordes an
       Abdurrahim Özüdoğru, dem Schneider und zweiten Nürnberger Opfer. Im
       September weihte sie einen Enver-Şimşek-Platz ein, am Tatort des Mordes.
       Dafür reiste Abdulkerim Şimşek, Semiyas Bruder, an und hielt eine Rede.
       „Ich vermisse meinen Vater immer noch sehr“, sagte der 34-Jährige, der in
       Hessen lebt.
       
       Und er betonte, dass der Prozess in München „eine große Enttäuschung“ war,
       weil die Helferfrage dort nicht geklärt wurde. „Warum ausgerechnet mein
       Vater? Wir müssen noch heute davon ausgehen, dass Mittäter frei
       herumlaufen.“
       
       Auch Semiya Şimşek flog für diesen Tag, den Todestag ihres Vaters, mit
       ihrer Familie nach Deutschland, aber nach Jena, wo das NSU-Trio
       untertauchte und wo vor einem Jahr ebenfalls ein Enver-Şimşek-Platz
       eingeweiht wurde. Sie nahm an einem kleinen Gedenken teil, das die Stadt
       organisiert hatte. Sie sei nicht gerne in Nürnberg, am Tatort, wo ihr Vater
       erschossen wurde, sagt Şimşek. Auch Auftritte wie in Jena kosteten viel
       Kraft, sie könne nur wenige davon absolvieren. „Danach geht es mir immer
       zwei, drei Tage nicht gut.“
       
       Und dennoch seien diese Auftritte wichtig, sagt Semiya Şimşek. Damit nicht
       vergessen werde, wer ihr Vater war. Und was ihm angetan wurde. Und damit
       irgendwann vielleicht doch noch ihre offenen Fragen beantwortet werden.
       
       Ausgeschrieben wurden in diesem Text die Nachnamen jener Personen, die in
       der Öffentlichkeit bekannt sind. Die anderen wurden abgekürzt.
       
       31 Oct 2021
       
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