# taz.de -- Angefeindete Bürgermeister: Im Kreuzfeuer
       
       > Viele Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagieren, erleben
       > Anfeindungen. Vor allem Bürgermeister stehen unter Beschuss.
       
 (IMG) Bild: Ländliche Idylle? Kinder des Kindergartens in Nebelschütz feiern Ende Januar 2022 in sorbischen Trachten die Vogelhochzeit
       
       NEBELSCHÜTZ/PULSNITZ taz | Bürgermeister zu sein, ist der schönste Beruf“,
       sagt Thomas Zschornak ganz am Ende des Gesprächs. Dieser Satz ist eine
       Überraschung. Zschornak, 59 Jahre alt, Angehöriger der slawischen
       Minderheit der Sorben, seit 1990 CDU-Mitglied, sitzt entspannt in seinem
       Garten. Es ist ein heißer Tag im Sommer 2023, die Sonne steht bereits tief.
       
       Zschornak war seit 1990 Bürgermeister in seiner Heimatgemeinde Nebelschütz,
       20 Kilometer von Bautzen entfernt. Zur Wahl 2022 trat er nicht mehr an.
       Jüngere sollten ran. Den Übergang hatte er geordnet. So glaubte er.
       
       Doch einen Sommernachmittag lang erzählt Zschornak, wie es anders kam. Wie
       er plötzlich an Krücken ging, an Entzündungen litt, monatelang krank war.
       Und wie sein Vertrauen in die politischen Institutionen ins Wanken geriet.
       
       60 Prozent der Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagieren, haben
       bereits Anfeindungen und Aggressionen erlebt, [1][belegt eine Studie der
       Universität Duisburg-Essen in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung
       vom Dezember 2022]. Aus diesem Grund hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser
       Ende Januar die [2][Ansprechstelle zum Schutz kommunaler Amts- und
       Mandatsträger] gestartet, die vom deutschen Forum für Kriminalprävention
       aufgebaut wird. Es sind Ratsmitglieder, politische Wahlbeamte oder
       ehrenamtliche Bürgermeister wie Thomas Zschornak, der sich seit fast zwei
       Jahren gegen anonyme Anfeindungen zur Wehr setzt.
       
       Zschornak kam im Wendejahr 1990 in die Kommunalpolitik. Er hatte den
       Ehrgeiz, seinem Dorf einen Ausweg zu zeigen aus Abwanderung, Niedergang,
       Mutlosigkeit – das Gemisch hatte viele Orte erfasst, besonders aber die
       wenigen sorbischen zwischen Kamenz und Bautzen, wo jeder Wegzug doppelt
       wog. Die Sorben sind ein winziges Volk. Von 60.000 ist seit Jahrzehnten die
       Rede, vermutlich sind es weniger.
       
       Die Nebelschützer wählten 1990 einen 26 Jahre jungen Kerl zum Wjesnjanosta,
       zum Bürgermeister. Irgendwann ließ er in den Balken vom Gemeindehaus
       hacken: „Za plotom njeschwaj so!“, auf Deutsch: „Pack zu!“
       
       Nach mehr als drei Jahrzehnten ist das Ergebnis eindeutig. Das belegen
       Auszeichnungen, darunter Landeswettbewerbe und Bundeswettbewerbe, ein
       europäischer Preis, ein Generationenpreis und ein Zukunftspreis für
       „enkeltaugliche Energiewirtschaft“.
       
       „Enkeltauglichkeit“ ist Zschornaks Lieblingswort. Busladungen von Gästen
       hat der Bürgermeister durch Nebelschütz geführt, darunter auch eine
       taz-Reisegruppe. Thomas Zschornak hat den Kindergarten präsentiert, den
       Dorfladen, die schattige Bachaue, aber auch die alte Ferkelanlage, aus der
       eine Garnelenzucht geworden ist. Und im Steinbruch „Krabatstein“ treffen
       sich alljährlich im August Bildhauer aus aller Welt und verwandeln
       Granitblöcke zu Plastiken.
       
       Dazu kommen die Energiegenossenschaft und die Flurstücke für das Ökokonto,
       mit dem die Gemeinde Flächen anbietet für Ausgleichsmaßnahmen, etwa beim
       Bau von Windrädern. Zschornak hat sich auch inspirieren lassen, hat die
       Gemeinde geöffnet. Er hat Energieberater eingeladen, Kontakt zu Start-ups
       geknüpft. Und da in Nebelschütz, sorbisch Njebjelcicy, das Wort Njebjo
       steckt, zu Deutsch Himmel, heißt der Werbespruch der Gemeinde:
       „Nebelschütz, vom Himmel geküsst“.
       
       Manchem muss Thomas Zschornak wie ein Zauberer vorgekommen sein, wie ein
       neuer Krabat, jene sorbische Sagenfigur, über die man Wundersames
       berichtet. Das Vorbild für Krabat war Johann Schadowitz aus dem 17.
       Jahrhundert, der vom sächsischen Kurfürsten mit einem Gut in der
       Oberlausitz belehnt wurde.
       
       „Krabat von Nebelschütz – von der Wahrheit geküsst“ stand auf dem Zettel,
       der im März 2022 in Nebelschützer Postkästen steckte und „Wahrheiten statt
       Phantasie“ versprach, vor allem über den horrenden Schuldenstand der
       Gemeinde und eine angeblich drohende Insolvenz.
       
       Das Pamphlet kündigte Beweise für die Behauptungen an, die am nächsten Tag
       freigeschaltet werden sollten unter wahrheit-schadowitz.com.
       
       Wer hat die Webseite verfasst? Wer hat vertrauliche Dokumente online
       gestellt? Wer hat die Zettel verteilt? Eine „investigative Gruppe aus
       Recherche- und Wirtschaftsspezialisten“, behauptet die Webseite.
       
       ## Zögerliche Ermittlungen
       
       „Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte“, gesteht Zschornak beim
       Gespräch in seinem Garten. Seine Familie wurde angegriffen. Sein Sohn hätte
       billig ein Grundstück erworben, sein Gartenteich wäre illegal angelegt
       worden. Es ging um angeblich windige Gemeindefinanzen, rechtswidrige
       Verträge, um Vetternwirtschaft, Amtsmissbrauch, Titelhuberei.
       
       Zschornak erstattet Anzeige gegen unbekannt. Weil die Ermittlungen nur
       zögerlich anlaufen, sucht er selbst nach Zeugen und beauftragt einen
       Detektiv. Der recherchiert, die Webseite soll von einer Briefkastenfirma in
       Prag betrieben worden sein im Auftrag eines slowenischen Geschäftsmanns. Es
       wirkt wie eine Verschwörung.
       
       Die Landesregierung in Dresden meldet sich. Allerdings anders als von
       Zschornak erhofft. Das Innenministerium lässt die anonymen Vorwürfe prüfen
       und beauftragt die Kommunalaufsicht des Landratsamts Bautzen. „Ich habe
       zwei Monate lang Protokolle geprüft“, erzählt Zschornak. „Ich war ja noch
       ehrenamtlicher Bürgermeister!“ Und so muss Zschornak wie ein Beschuldigter
       im Gemeindearchiv nach Entlastendem suchen. Es hat etwas Erniedrigendes.
       
       Hinzu kommen Selbstzweifel. Hat er jemanden verletzt? Jemanden übergangen?
       Sind ihm Fehler unterlaufen? Hat er Hinweise missachtet? Zschornak
       exponiert sich beim Serbskj Sejm, der ersten gewählten Volksvertretung der
       Sorben, die mit Wucht für Minderheitenrechte streitet, was nicht bei allen
       – auch nicht bei allen Sorben – gut ankommt. Der Sejm hat sich 2018
       konstituiert. In Nebelschütz.
       
       Hat sich Zschornak Feinde gemacht? Es gibt eine Vorgeschichte, erzählt er.
       Nach der Kommunalwahl 2019 ändert sich der Gemeinderat. Neue Mitglieder
       kommen hinzu. Es gibt Streit. Erste anonyme Anzeigen werden aktenkundig,
       auch Dienstaufsichtsbeschwerden, dazu Abmahnungen von seinem Vorgesetzten
       über angebliches Fehlverhalten. Zschornak arbeitet im Verwaltungsverband,
       zu dem Nebelschütz gehört. „Bei der ersten Abmahnung habe ich noch
       gelacht.“ Doch das kippte bald. „Ich konnte nichts mehr sagen. Ich habe
       geweint.“
       
       Im Juli 2022 bekommt Zschornak den Bescheid, dass die „rechtsaufsichtliche
       Prüfung“ keine persönliche Vorteilsnahme“ und kein „rechtswidriges Handeln“
       erkennt. Doch die Webseite bleibt online. Zschornak hat inzwischen
       Entzündungen am ganzen Körper, seine Knie schwellen an, er geht an Krücken,
       bekommt Depressionen. Auf Fotos wirkt er deutlich gealtert. Es erscheint
       alles wie eine Abrechnung. Aber warum jetzt, da Zschornak aufhört?
       
       Es geht offenbar darum, Zschornaks Vision von einer Gemeinde, zugleich
       bodenständig und weltoffen, traditionsbewusst und zukunftsfähig, zu
       diskreditieren und ihn politisch zu erledigen. Mit Folgen. Zschornaks
       Stellvertreter, der für das Bürgermeisteramt kandidieren wollte, zieht
       zurück. Er war ebenfalls anonym geschmäht worden. In einem Telefonat mit
       der taz bestätigt er das, nennt aber noch einen weiteren Grund. Dem
       Dachdeckermeister war klar, dass die Aufgabe im Ehrenamt nicht mehr zu
       bewältigen sei. Er hatte darauf gesetzt, dass der Gemeinderat den Weg
       öffnet für einen hauptamtlichen Bürgermeister, gemeinsam finanziert von
       Gemeinde und Freistaat.
       
       Doch der Gemeinderat lehnt ab. So steht im Juni 2022 nur noch ein Kandidat
       zu Wahl. Er wird mit mehr als 86 Prozent gewählt.
       
       ## Verworrene Internetdelikte
       
       Im August 2023 legt der sächsische Rechnungshof einen turnusmäßigen
       Prüfbericht der Gemeinde vor. Die Behörde moniert fehlende
       Haushaltsdisziplin, stellt aber fest, dass die Gesamtverschuldung knapp
       unter dem Richtwert von 850 Euro pro Einwohner liegt, und attestiert
       Nebelschütz eine „hinreichende Leistungsfähigkeit“ – von Insolvenz keine
       Rede.
       
       Doch die Beamten finden Kritikwürdiges, etwa mangelnde Aktenführung,
       anfechtbare Beraterverträge, zu geringe Pachteinnahmen, das Fehlen eines
       Vertragsregisters. Es sind Kritikpunkte, aber nichts, was Thomas Zschornaks
       Bürgermeisterzeit nachträglich in Verruf bringen würde. Wer die 63 Seiten
       allerdings gelesen hat, verspürt keine Lust mehr auf den Job eines
       ehrenamtlichen Bürgermeisters.
       
       Die Urheber der Webseite sind bis heute unbekannt. Politisch lassen sie
       sich nicht zuordnen. Zschornak vermutet Personen aus seiner Gemeinde. Kurz
       nach einem ersten überregionalen Beitrag im Deutschlandfunk verschwindet
       die Seite im Sommer 2023 aus dem Internet. Wenig später nimmt die
       Staatsanwaltschaft Görlitz in Zusammenhang mit der anonymen Webseite
       Ermittlungen gegen Zschornaks Amtsnachfolger und den damaligen Leiter des
       Verwaltungsamtes auf.
       
       Der parteilose heutige Bürgermeister, von der taz befragt, schweigt zu den
       Ermittlungen, listet aber alle Verfehlungen aus dem Prüfbericht auf. Der
       ehemalige Amtsleiter vergleicht die Urheber der anonymen Webseite mit der
       Investigativgruppe Bellingcat, die unter anderem zu Kriegsverbrechen in der
       Ukraine recherchiert. „Jegliche Verleumdung ist zu verabscheuen“,
       bekräftigt er, um anschließend bei Zschornak eine psychische Erkrankung zu
       insinuieren.
       
       Als „verworren“ bezeichnet der Sprecher der Staatsanwaltschaft Bautzen den
       Fall und räumt ein, dass Internetdelikte grundsätzlich schwer zu verfolgen
       seien. Die CDU im Landkreis Bautzen hält sich auffallend zurück, einem
       langjährigen Kommunalpolitiker beizustehen. Die Geschäftsführerin der
       Kreisgeschäftsstelle lehnt eine mündliche Stellungnahme ab, eine in
       Aussicht gestellte schriftliche erfolgt auch nach Tagen nicht.
       
       Thomas Zschornak wirkt in seinem Garten im Sommer erholt und spricht über
       neue Pläne. Er plant, eine gemeinwohlorientierte Stiftung zu gründen, es
       geht um natürliche Ressourcen, um das Zusammenleben im ländlichen Raum, um
       Kommunikation, Beratung, einen Namen hat er schon: „Enkeltauglichkeit“. Er
       sammelt Stiftungskapital. Und er geht gezielt auf Leute zu, die sich für
       den neuen Gemeinderat aufstellen lassen, der im Juni 2024 gewählt wird.
       Vielleicht findet sich dabei jemand, der später einmal in Zschornaks
       Fußstapfen treten wird. Ein Grund, sich reinzuknien, wird dabei nicht
       fehlen: „Bürgermeister zu sein, ist der schönste Beruf!“
       
       Die Kampagne gegen Thomas Zschornak mag außergewöhnlich sein, einzigartig
       ist sie nicht. Mitte Februar 2023 finden sich in verschiedenen Postkästen
       der Kleinstadt Pulsnitz „Urlaubsgrüße“, angeblich von Bürgermeisterin
       Barbara Lüke, die sich damals tatsächlich mit ihrer Familie im Urlaub
       befindet. Die Botschaft: Die Bürgermeisterin ist in der weiten Welt
       unterwegs und kümmert sich nicht um ihre Stadt. Im Kleingedruckten ist von
       einer „satirisch künstlerischen Aktion“ die Rede, die Verfasser bleiben
       anonym.
       
       Vom Urlaub, sagt Lüke, wussten nur die engsten Rathausmitarbeiter und der
       Ältestenrat im Stadtrat. Im Internet wird die vermeintliche Karte
       verbreitet. In Pulsnitz ist zu dieser Zeit gerade Wahlkampf, die parteilose
       Lüke will das Rathaus verteidigen. Mit 58 Prozent wird sie im zweiten
       Wahlgang bestätigt. Der Herausforderer von der AfD unterliegt deutlich.
       Sicher war das nicht. Denn Lüke verbringt die entscheidenden Wochen vor der
       Wahl im Krankenbett.
       
       Hätte sie aufgegeben, hätte damals der erste hauptamtliche
       AfD-Bürgermeister Deutschlands im Pulsnitzer Rathaus die Geschäfte
       aufgenommen. Das geschah ein Vierteljahr später in Raguhn-Jeßnitz in
       Sachsen-Anhalt.
       
       ## Zerstörerische Kraft von Falschbehauptungen
       
       Beim Treffen mit der taz ist es Dezember, Barbara Lüke laboriert seit dem
       Frühjahr am Knie, ihre Gesundheit ist noch nicht wiederhergestellt, das
       Gehen fällt ihr schwer. Von Pulsnitz nach Nebelschütz sind es kaum 15
       Kilometer, beides Orte im Landkreis Bautzen.
       
       Lüke kennt Thomas Zschornak. Gemeinsam mit ihm und zwei weiteren
       Amtsträgern hat sie dem sächsischen Innenminister Armin Schuster von der
       CDU im September 2022 einen Brief geschrieben zur „Unterstützung von
       Bürgermeistern in Bedrohungslagen“. Dabei gehe es nicht nur um
       „strafrechtliche Aspekte“ oder spektakuläre Einzelfälle“. Mandatsträger
       fühlen sich bei Gefährdungen alleingelassen, geben auf, treten nicht mehr
       an. Lüke selbst kann von Eierwürfen auf ihr Haus erzählen, auch von
       Beschimpfungen auf offener Straße und Unglaublichkeiten in den sozialen
       Netzwerken.
       
       Solche Anfeindungen hatten ihr bereits im Sommer 2019 zusammen mit anderen
       eine Einladung zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue eingebracht.
       [3][Und im Dezember 2019 lud Frank-Walter Steinmeier zu einer seiner
       „Kaffeetafeln“ nach Pulsnitz.]
       
       Doch das ist nicht der Alltag. „Es sind die vielen kleinen Geschichten,
       dieses Diffuse, was sich in den letzten Jahren breitgemacht hat“, erzählt
       Lüke. Es geht um die Unterminierung von Verwaltung, um die Diffamierung von
       Amtsträgern, um die Diskreditierung von Beschlüssen im Stadtrat. Es ist
       eine Strategie, bei der man die Verästelungen der Geschäftsordnung und
       Kommunalverfassungen kennen muss, um zu wissen, wie Stadtratssitzungen
       protokolliert werden und welch zerstörerische Kraft Falschbehauptungen
       entfalten können.
       
       Die Methode ist denkbar einfach. „Es müssen auch Falschbehauptungen
       protokolliert werden, wenn es eine Fraktion wünscht“, erklärt Lüke. Diese
       Unwahrheiten werden dann Teil der offiziellen Sitzungsniederschrift. Mit
       Unterschriften versehen sind sie „amtlich beglaubigt“ und Teil einer
       verborgenen Wirklichkeit. Eine Meisterin dieser geradezu Orwell’schen
       „Wahrheiten“ ist die AfD, die seit 2019 im Pulsnitzer Stadtrat vertreten
       ist. Ihr Kopf ist der Fraktionsvorsitzende, ein Bauingenieur, der Lüke im
       zweiten Wahlgang der Bürgermeisterwahl unterlegen war.
       
       In der Praxis läuft das so ab: Man kann zu jedem realen Sachverhalt im
       Stadtrat das Gegenteil behaupten und anschließend fordern, dass diese
       Behauptung ins Protokoll aufgenommen wird. Später kann die AfD dann solche
       Sätze auf sozialen Kanälen als „unterdrückte Tatsachen“ enthüllen. Die
       Sitzungsprotokolle haben sich seitdem auf dutzende Seiten aufgebläht. Und
       wehe, wenn doch noch eine solcher „Tatsachen“ fehlt. Dann beklagt die AfD
       „frisierte Mitschriften“, verkündet eine „Protokollaffäre“ und leitet eine
       Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Bürgermeisterin ein.
       
       Dienstaufsichtsbeschwerden erweisen sich auch sonst als hervorragende
       Knüppel, Bürgermeister zum Straucheln zu bringen. „Obwohl ich für meine
       politischen Überzeugungen gewählt wurde, darf ich sie als Bürgermeisterin
       nicht vertreten“, sagt Lüke. „Denn als Wahlbeamtin bin ich zur Neutralität
       verpflichtet.“ Ein Paradoxon. „Sobald ich in meiner Amtsausübung etwas
       sage, was nicht neutral ist, hagelt es Beschwerden, weil ich den Grundsatz
       der Neutralität verletzt hätte.“ Jemand wie Lüke muss jedes Wort auf die
       Goldwaage legen. Sie nennt es „Gratwanderung“. Und so findet das Gespräch
       mit der taz in privater Runde statt – vorsichtshalber.
       
       Ihr Arbeitsplatz, das Rathaus am Markt – es sind eigentlich drei
       historische Gebäude an der Ostseite des Marktes –, ist seit der
       Komplettsanierung Gegenstand permanenter Desinformation. Die Steigerung der
       Sanierungskosten auf 6 Millionen Euro ist bei einer denkmalgerechten
       Sanierung einer ganzen Häuserzeile in Zeiten von Inflation und rapide
       gestiegenen Baukosten erklärbar. Inzwischen ist das Ensemble ein Blickfang
       für den Markt, zudem ein funktionaler Verwaltungsbau in historischem
       Gewand. Lüke hatte außerdem herausgehandelt, 90 Prozent der Baukosten
       gefördert zu bekommen.
       
       Für die AfD ist es trotzdem ein „Millionengrab“, für das die Bürger mit
       höheren Hundesteuern bluten müssten. Ein Protestschreiben gegen die erhöhte
       Hundesteuer endete „mit deutschem Gruß“. Dass diese Formel in der
       Bundesrepublik verboten ist, habe er nicht gewusst, entschuldigte sich der
       „deutsche Steuerzahler“ vor Gericht.
       
       „Wir müssen jedes kleine Mosaikstückchen zusammensetzen und dann gucken,
       was rauskommt“, sagt Lüke. Für sie ist das Bild eindeutig, es ist eine Form
       von „Zersetzung“, von „geschulten Leuten“ organisiert und mit einer
       unheimlichen Ausdauer gegen Amtsträger gerichtet. „Das führt dann dazu,
       dass sie als Bürgermeister in eine reaktive Position kommen. Sie können
       nicht mehr agieren.“
       
       Verfahrenstricks, Protokollaffären, Beschwerden – der Pulsnitzer
       AfD-Fraktionsvorsitzende hat das destruktive Theater inzwischen auf den
       Landkreis Bautzen ausgeweitet, sagt Lüke. Der Ingenieur wurde 2019 vom
       Kreistag zum zweiten stellvertretenden Landrat gewählt, mit Unterstützung
       der CDU-Fraktion. „Und dann sagt man mir: Dramatisieren Sie doch nicht so
       viel! Die müssen mal die Augen aufmachen.“ Barbara Lüke weiß, dass sie in
       solchen Momenten wie eine Kassandra wirkt.
       
       Vermutlich sieht die Juristin, Jahrgang 1968, tatsächlich vieles klarer.
       Sie stammt aus Marburg in Hessen, zog im Jahr 2000 nach Pulsnitz, ihre
       Tochter wurde hier geboren. Lange noch pendelte sie nach Leipzig zur
       Sächsischen Aufbaubank, wo sie eine leitende Position innehatte. Erst 2016
       wird sie als Quereinsteigerin, unterstützt von einem kommunalen Bündnis,
       zur neuen Bürgermeisterin gewählt. Auslöser für ihr Engagement war die
       beabsichtigte Schließung einer Grundschule.
       
       Es gibt aber noch einen anderen, einen familiären Hintergrund. „Mein Vater,
       Jahrgang 1910, hat mich in die Politik gebracht. Er hat genau mitgekriegt,
       wie das ‚Dritte Reich‘ entstanden ist“, erzählt sie. „Und ich habe
       permanent Déjà-vus.“
       
       Etwa ein Drittel ihrer Stadträte tragen sich mit dem Gedanken, im Frühjahr
       aufzuhören, sagt Lüke – keine Zeit, zu alt, keine Motivation. „Wir können
       eigentlich nur damit motivieren, dass wir sagen: Platz nehmen, kein Vakuum
       lassen!“ Jeder, der geht, macht möglicherweise Platz für einen
       AfD-Kandidaten. Wirklich einladend klingt das nicht. Derzeit hat die AfD
       drei Stadträte. Doch sie trommelt schon lang für „neue politische
       Verhältnisse“ im Juni 2024.
       
       Auf das Schreiben an Innenminister Schuster 2022 hat Lüke keine Antwort
       erhalten. Doch inzwischen mehren sich die Zeichen, dass die Landespolitik
       die Gefahr für die „Keimzelle der Demokratie“ – so die in Festreden gern
       verwendete Umschreibung für Kommunalpolitik – erkannt hat. Thomas Zschornak
       hat Anfang Februar mit dem Koordinator für Opferschutz der sächsischen
       Polizei gesprochen, und ein CDU-Landtagsabgeordneter, Mitglied im
       Innenausschuss, hat ihm Unterstützung zugesagt. Für Februar hat das
       sächsische Innenministerium eine [4][Konferenz zur Sicherheit von
       kommunalen Amts- und Mandatsträgern] angekündigt.
       
       Sie ist auch nötig. Im Dezember erhält der ehrenamtliche Ortsvorsteher von
       Dörgenhausen, einem Dorf im nördlichen Teil des Landkreises Bautzen, eine
       anonyme Aufforderung zum Rücktritt. In dem Schreiben heißt es, der
       Ortsvorsteher habe seine Machtposition für eigene Interessen ausgenutzt,
       „ohne daran zu denken, dass wir EINE Gemeinschaft und EIN Dorf sind“. Es
       ist überhaupt viel von „Gemeinschaft“ die Rede. Unterschrift: „Ein
       besorgter Bürger, der das ausspricht, was Bürger unseres Dorfes denken.“
       
       Ortsvorsteher Eugen Diesterheft berichtet der taz am Telefon, dass er den
       Brief sofort der Polizei übergeben habe. „Offene Kritik, ja“, sagt
       Diesterheft. „Aber anonyme Angriffe?“ Es ist wie ein Übel, wie Fäulnis.
       „Wenn das durchkommt, wer soll sich da noch als Ehrenamtlicher aufstellen
       lassen?“
       
       14 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
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