# taz.de -- Die EU vor der Europawahl 2024: Die Ohnmacht überwinden
       
       > Die Stärke rechter Parteien erzeugt bei progressiven Wählern ein Gefühl
       > der Machtlosigkeit. In Polen wurde das erfolgreich überwunden.
       
 (IMG) Bild: Pro-Europaparteien müssen ihren Wähler*innen darlegen, warum die kommende Wahl eine Chance ist
       
       Der tägliche Blick in die Nachrichten ist für Progressive in Europa
       inzwischen eine schmerzhafte Erfahrung. Die Ukraine stagniert in ihrem
       Krieg mit Russland, Donald Trump ist auf dem besten Weg zurück ins Weiße
       Haus, und antieuropäische Parteien schneiden in Meinungsumfragen im Vorfeld
       der Wahlen zum Europäischen Parlament sehr gut ab.
       
       Europas Bürgerinnen und Bürger können kaum etwas an der
       Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten oder an den Entwicklungen
       an der Kriegsfront in der Ukraine ausrichten. Doch die Wahlen [1][in den 27
       EU-Ländern] im Juni bieten ihnen die seltene Gelegenheit der Einflussnahme.
       Die entscheidende Frage ist: Werden sie sich überhaupt bemühen?
       
       In der [2][Vergangenheit hatten es diese Wahlen schwer,] die
       [3][Aufmerksamkeit der Stimmberechtigten] zu gewinnen: 2019 ging nur jeder
       Zweite zur Wahl; in Tschechien, Kroatien und der Slowakei lag die
       Wahlbeteiligung sogar unter 30 Prozent. Dieses mangelnde Interesse wird
       häufig mit der weitverbreiteten Annahme erklärt, die Wahl zum
       Europaparlament habe keine Relevanz.
       
       Doch dieses Jahr gibt es einen entscheidenden Unterschied. In mehreren
       Ländern sind die Anhänger antieuropäischer Parteien – die sich in der
       Vergangenheit eher wenig für Europa interessierten – stark mobilisiert.
       Der jüngsten öffentlichen Meinungsumfrage des European Council on Foreign
       Relations (ECFR) zufolge geben beispielsweise 71 Prozent der AfD-Anhänger
       an, dass sie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament „auf jeden Fall“
       wählen werden – verglichen mit 64 Prozent der Unions-Wähler. In Frankreich
       und Österreich deuten die Umfrageergebnisse ebenfalls darauf hin, dass die
       Anhängerschaft der stärksten antieuropäischen Parteien ebenso mobilisiert
       ist wie die ihrer direkten Konkurrenten.
       
       ## Wählerschaft etablierter Parteien ist schwer zu mobilisieren
       
       Dass die Wählerschaft der etablierten Parteien in mehreren Ländern so
       schwer zu mobilisieren ist, lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich
       ihre Kontrahenten erfolgreich „entgiftet“ haben. Kaum jemand glaubt heute
       noch, dass die [4][italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni]
       Italiens Austritt aus der EU oder der Eurozone im Sinn hat, trotz der
       Befürchtungen vor dem Wahlsieg ihrer Partei im Jahr 2022.
       
       Dass die Schwedendemokraten die Regierung ihres Landes unterstützen, dürfte
       in den Augen vieler Wähler die Motive der Partei normalisiert haben. Und
       auch Marine Le Pen hat es geschafft, ihr persönliches Image und das ihrer
       Partei zu verbessern – so sehr, dass sie als Spitzenkandidatin für die
       französische Präsidentschaftswahl 2027 gehandelt wird. Folglich fällt es
       proeuropäischen Parteien schwer, überzeugend darzulegen, dass Europa vor
       den Rechtsextremen gerettet werden muss.
       
       Die unterschiedlich ausgeprägte Mobilisierung rührt wohl von den
       grundlegend ungleichen Stimmungslagen her. Im Gegensatz zu den
       Rechtspopulisten, die den Wind in ihren Segeln spüren, sind viele
       Progressive desillusioniert von der Arbeit ihrer nationalen Regierungen,
       ausgelaugt von den zahlreichen Krisen und glauben vielleicht sogar, dass
       ein Rechtsruck unvermeidlich ist.
       
       Bezeichnenderweise herrscht selbst bei den Themen Wohlstand und Sicherheit,
       die seit dem Ende des Kalten Kriegs das Fundament der liberalen Demokratie
       bilden, unter den Wählern eine [5][zunehmende Negativstimmung]. Im
       Endeffekt wird dies eher EU-Gegnern und ihren Forderungen nach Veränderung
       zugutekommen, als dass es die Bevölkerung zur Mitte hin mobilisiert.
       
       ## Polen bildet eine schlagkräftige Ausnahme
       
       [6][Ein Land bildet hier jedoch eine schlagkräftige Ausnahme: Polen]. Die
       Wähler aus dem Umfeld der von Donald Tusk geführten Bürgerkoalition (KO)
       sind vor der Wahl im Juni deutlich stärker mobilisiert als die ihrer
       antieuropäischen Kontrahenten, der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). 73
       Prozent der Wähler der KO – gegenüber 61 Prozent der PiS-Wähler – sagen
       laut unserer Umfrage, dass sie bei der Europawahl „auf jeden Fall“
       abstimmen werden.
       
       Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Oktober vergangenen Jahres hat die KO
       sich sehr bemüht, die progressiven Wähler davon zu überzeugen, dass eine
       Abwahl der PiS möglich ist. Diese positive Vision hat die Wahlberechtigten
       zum Aktivwerden animiert, und so haben sie bei der Wahl den Wandel
       ermöglicht.
       
       Als ein Land, in dem [7][Europabefürworter im Aufwind sind], stellt Polen
       in Europa zwar einen Sonderfall dar, doch bietet dieser Wandel wertvolle
       Einsicht in die Bedeutung von Wählervertrauen.
       
       ## Klare und greifbare Vision schaffen
       
       In der Vergangenheit führte eine zunehmende Annäherung politischer
       Strategien und Narrative des europäischen „Mainstreams“ dazu, dass zuvor
       marginale oder noch gar nicht existierende antieuropäische Parteien sich
       als die einzigen authentischen Alternativen im Land profilieren konnten. Je
       besser es Letzteren gelang, neue Wählergruppen anzuziehen, desto mehr
       scheinen sie bei den Progressiven ein Gefühl der Ohnmacht auszulösen. Für
       EU-Befürworter besteht heute die größte Herausforderung darin, diese
       Stimmung zu drehen.
       
       Die proeuropäischen Wähler zu verängstigen, indem man die Vision eines
       Lebens unter der extremen Rechten heraufbeschwört, mag den
       EU-Befürwortern in einigen Ländern – etwa in Deutschland und Spanien –
       helfen, wird aber nicht ausreichen, um die Apathie zu durchbrechen. Mit
       jeder Wahl wird Angst als Wahlkampfthema wackliger.
       
       Um ihre Wählerschaft zu mobilisieren, müssen die Pro-Europa-Parteien
       vielmehr mit einer klaren und greifbaren Vision von einem starken und
       geeinten Europa begeistern. Sie müssen ein neues Vertrauen in die
       Institutionen und die liberale Demokratie wecken – und zugleich überzeugend
       darlegen, warum diese Wahlen für die Zukunft ihrer Wähler eine Rolle
       spielen. Gelingt ihnen dies im Juni, können sie dazu beitragen, einen Teil
       der düsteren Stimmung nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten
       Staaten und der Ukraine zu vertreiben.
       
       29 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Pawel Zerka
       
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