# taz.de -- Digitalisierung in China: Ein Code für alle Fälle
       
       > Ein Taxi bestellen, den Aufzug rufen, Strafzettel bezahlen: Wer in China
       > lebt, kommt an der App WeChat nicht vorbei. Da wird selbst Facebook
       > neidisch.
       
 (IMG) Bild: Eine Frau bezahlt ihre U-Bahnfahrt in Shenzhen mit der App WeChat
       
       PEKING/BERLIN taz | Die Kassiererin blickt genervt auf. „Kein Portemonnaie
       dabei?“, fragt sie. Verlegen wühle ich in meiner Jackentasche herum,
       fummele an meinem Smartphone. Apple-Pay funktioniert bei dieser
       Edeka-Filiale noch nicht. Das weiß ich. Aber gibt es nicht irgendeine
       andere App, mit der ich meinen Einkauf bezahlen kann? WhatsApp vielleicht?
       Die Kassiererin schaut mich verdutzt an.
       
       Es ist bereits das zweite Mal, dass ich mit vollen Tüten vor einer Kasse in
       einem deutschen Supermarkt stehe und nicht bezahlen kann, weil ich mein
       Portemonnaie vergessen habe. Sieben Jahre habe ich in China gelebt. Seit
       einem Monat bin ich wieder in Berlin. Schwer gefallen ist mir die Rückkehr
       nicht. Die Luft in Berlin ist sehr viel besser, ich kann wieder
       unbedenklich das Wasser aus dem Hahn trinken und muss es nicht vorher
       abkochen und zigfach filtern. Die Straßen in Berlin sind nicht ganz so voll
       wie in Peking.
       
       Andererseits vermisse ich die Maultauschen – „Drei Sorten“ mit Krabbe,
       Schwein und Shiitake-Pilzen – von meinem Lieblingsimbiss um die Ecke. Und
       auch an etwas anderes muss ich mich wieder gewöhnen: das Portemonnaie
       einstecken. Denn in China brauchte ich für den Alltag nur mein Smartphone.
       Und genau genommen auch nur eine App: WeChat.
       
       Es ist noch nicht lange her, da haben viele auch in China noch über diese
       App gelästert. Sie sei ja bloß ein Abklatsch von WhatsApp, das in der
       Volksrepublik nur einen kurzen Auftritt hatte, dann von der Zensurbehörde
       allerdings blockiert wurde, weil es eben keine chinesische App war.
       
       Optisch gleichen sich die beiden Apps: Auf beiden Logos sind weiße
       Sprechblasen zu sehen. Und so wie WhatsApp hatte auch WeChat als
       Kurznachrichtendienst begonnen. Doch WeChat, das auf Chinesisch Weixin
       heißt, ist längst mehr. Sehr viel mehr. Eine Art Super-App.
       
       ## Mit dem Barcode die Äpfel bezahlen
       
       Außer Nachrichten und Emojis verschicken, Online-Telefonie mit und ohne
       Videobild, lassen sich über WeChat auch Tickets im Hochgeschwindigkeitszug
       buchen, Flüge, Fahrtdienste, Kinokarten.
       
       Das funktioniert so: Der Nutzer erhält einen eigenen Barcode. Mit der
       Kamera des Smartphones kann jeder andere WeChat-Nutzer diesen Barcode
       innerhalb weniger Sekunden lesen. Daraus ergeben sich viele weitere
       Funktionen: Der Barcode ersetzt die Visitenkarte, findet sich auf jeder
       Firmenwebseite.
       
       Vor allem aber lässt sich an jeder Ecke damit bezahlen. Denn die App ist
       mit dem Bankkonto verbunden. Es genügt, den Barcode des Gegenübers zu
       scannen und die Summe wird abgebucht.
       
       In einem Land wie China ist das besonders von Vorteil. Gerade auf dem Land
       haben die meisten Bauern und Händler keine teuren Kreditkartenlesegeräte
       für Visa, Mastercard oder Union Pay, dem chinesischen Pendant. Das Bargeld
       wiederum ist oft sehr dreckig, die Scheine angerissen, weil sie durch so
       viele Hände gingen.
       
       Mit WeChat muss selbst die Obsthändlerin an der Ecke bloß ihren Barcode
       zeigen, und schon hat der Kunde seine Äpfel bezahlt. Ein Smartphone hat in
       China inzwischen jeder.
       
       ## Auch Bettler nutzen die App
       
       Selbst die Bettlerin. In meiner Nachbarschaft saß immer an der gleichen
       Stelle eine behinderte Frau mit ihrem ebenfalls behinderten Sohn und
       bettelte um Geld. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, alles
       Kleingeld, was sich bei mir ansammelte, in ihren Korb zu werfen. Doch dann
       wollte sie die vielen Münzen und Scheine nicht mehr. Sie zeigte stattdessen
       auf einen Zettel vor ihr mit einem Barcode drauf. Sie bat mich, ihr das
       Geld künftig auf ihr Konto zu überweisen. Natürlich mittels WeChat.
       
       Andere Netzwerke, die im Rest der Welt verbreitet sind, spielen in China
       keine Rolle. Facebook? Ist vielen zwar ein Begriff, in China aber gesperrt.
       Twitter? Ebenso. Und auch YouTube, Snapchat, Instagram sowie die meisten
       bekannten Google-Dienste sind nur schwer oder gar nicht abrufbar. WhatsApp
       funktioniert sporadisch – meistens aber nicht. Die übergroße Mehrheit stört
       das wenig. Schließlich haben sie ihre eigenen Dienste.
       
       Mehr als eine Milliarde Chinesinnen und Chinesen nutzen WeChat inzwischen.
       Wegen der vielen Funktionen. Oft sind sie spielerischer,
       bedienerfreundlicher und meist auch schlicht besser in der Anwendung.
       
       War China nicht eben noch ein Entwicklungsland? Jetzt ist es an den
       Europäern vorbei ins digitale Zeitalter gesprungen. Was ist passiert?
       
       ## Die Great Firewall
       
       Rückblick auf das Jahr 2009. Uigurische Aktivisten begehren gegen die
       Autoritäten auf. Uiguren sind eine muslimische Minderheit im Nordwesten der
       Volksrepublik. Seit Jahrzehnten fühlen sie sich unterdrückt. Und das werden
       sie auch. Ihren Protest haben sie über Facebook organisiert. Weil Facebook
       und Twitter sich zu der Zeit auf mehrfache Aufforderung der chinesischen
       Behörden weigerten, die Einträge zu löschen, ließ das chinesische
       Sicherheitsministerium kurzerhand die US-Dienste sperren. Die Great
       Firewall war geboren – Chinas staatliche Internetzensur.
       
       Ganz abgeschnitten ist das Land damit aber nicht vom Rest der Netzwelt.
       Facebook und Co. sind mittels VPN-Tunnel erreichbar, wenn auch umständlich.
       Offiziell ist das verboten, verfolgt werden Vergehen aber bislang nicht.
       
       Die kommunistische Führung hatte die Great Firewall in erster Linie aus
       politischen Gründen errichtet. Daraus ergab sich jedoch ein ökonomischer
       Nebeneffekt: Die chinesischen Gegenstücke zu den US-Größen – bis dahin auch
       in China nur von wenigen genutzt – konnten sich im Land rasch ausbreiten.
       Sie heißen Baidu, Alibaba, Tencent – und sie gehören nach Facebook, Google
       und Amazon heute zu den mächtigsten IT-Playern der Welt.
       
       Doch die Zensur ist nicht der alleinige Grund für den Erfolg der
       chinesischen Pendants zu den international bekannten Diensten. Denn Tencent
       macht mit WeChat einiges anders als etwas Facebook mit WhatsApp.
       
       Er ist 50 Jahre alt, trägt gerne Jeans und Kapuzenpullis und ist Erfinder
       von WeChat. Zhang Xiaolong ist eine Legende: Zhang, der sich im
       internationalen Kontext mit Vornamen auch Allen nennt, macht sich in der
       Öffentlichkeit eher rar. Der gelernte Programmierer gilt als schüchtern,
       introvertiert, und meidet große Veranstaltungen, ähnlich wie sein Boss,
       Tencent-Chef Pony Ma. Wenn sich Zhang einmal blicken lässt, dann hat er
       meist Wegweisendes zu verkünden.
       
       ## Eine App als eigene Plattform
       
       So auch vor anderthalb Jahren in der Wirtschaftsmetropole Guangzhou, wo
       WeChat seine Zentrale hat. 4.000 Softwareentwickler aus dem ganzen Land
       hatte er zu einer Entwicklerkonferenz in ein Kongresszentrum geladen.
       
       Die Entwickler waren aber nicht gekommen, um an WeChat zu arbeiten. Es
       handelte sich um Mitarbeiter unabhängiger Firmen, die Mini-Programme
       machen, die innerhalb von WeChat laufen. Denn auch das ist eine Stärke von
       WeChat. Der Dienst ist nicht wie WhatsApp bloß ein Kurzmitteilungsdienst
       mit Telefonfunktion und ein paar weiteren Gadgets.
       
       Wie Apple beim iPhone externen Programmierern eine Plattform geboten hat,
       damit sie sich bei der Entwicklung neuer Apps austoben können, geht Tencent
       bei WeChat nun ähnlich vor. Im Unterschied zu anderen Apps müssen diese
       Mini-Programme allerdings nicht extra heruntergeladen und installiert
       werden – sie sind innerhalb von WeChat sofort einsatzbereit. Das Programm
       hat sich binnen weniger Jahre auf diese Weise zu einer eigenen Plattform
       entwickelt.
       
       Ohne kann man kaum mehr ein Taxi rufen in Peking. Vor einiger Zeit stehe
       ich an einer lauten Ausfallstraße irgendwo im Süden der Stadt und will weg.
       Noch vor kurzem wäre das kein Problem gewesen. Ich musste bloß meine Hand
       ausstrecken. Schon hätte ein Taxi gehalten. Doch das geht jetzt nicht mehr.
       Denn das funktioniert fast nur noch mit WeChat. Ein paar Mal tippen, dann
       über die Mikrofonfunktion sagen, wohin man möchte, schon gibt es eine
       Benachrichtigung, dass ein Taxifahrer mich gleich abholen wird.
       
       Der Vorteil für den Taxifahrer: Er muss nicht mehr durch die verstopften
       Straßen gurken, bis er einen Kunden am Straßenrand findet, sondern kann den
       Kunden direkt abholen. Der Nachteil für Touristen aus dem Ausland: Ohne
       WeChat findet er kein Taxi mehr. Mir blieb also gar nichts übrig, mich mit
       meinem Account ebenfalls für diese Funktion anzumelden.
       
       ## Über 600.000 Mini-Programme
       
       Eine Plattform – das wollen heute alle sein. Auf Branchentreffen wie dem
       Web Summit in Lissabon oder auf der republica in Berlin ist das derzeit ein
       Modewort. Auch Jack Ma, der Gründer des E-Commerce-Giganten Alibaba, eine
       Art chinesisches Amazon, bezeichnet seinen Dienst als Plattform. Ein
       Unternehmen bietet den Rahmen an, in dem andere Geschäfte machen. Die
       machen die eigentliche Arbeit und sind kreativ. Aber die Plattform verdient
       mit.
       
       Genau darin besteht die Leistung von WeChat: Eine App zur Verfügung zu
       stellen, die ohnehin jeder hat, und darauf Tausende weitere Anwendungen zu
       satteln, sodass sie zu einer Alles-App wird.
       
       Über 600.000 so genannte Mini-Programme lassen sich in das Ökosystem WeChat
       integrieren. Es ist nicht notwendig, immer wieder eine App herunterzuladen
       oder sich den Namen der Marke zu merken. Es reicht völlig aus, dem Barcode
       zu folgen, der auf Firmenwebsiten eingebaut, auf Broschüren, Visitenkarten
       und in Chat-Gruppen zu finden ist. Die meisten Mini-Programme kommen von
       Drittanbietern. Viele davon sind Spiele.
       
       Allen Zhang lädt inzwischen regelmäßig zur Entwicklerkonferenz nach
       Guangzhou ein – und tritt dann auch an die Öffentlichkeit. Er wolle nicht
       zuletzt auch selbst erfahren, „welche neuen Trends die Programmierer
       aufspüren.“ Doch Zhang will mehr. Geht es nach ihm soll WeChat so ziemlich
       alle Internetangebote ersetzen, die der chinesische Bürger im Alltag
       benötigt.
       
       In China finden das alle praktisch. Bei einer Recherche traf ich die
       fünfjährige Yu, die über ein Kuscheltier kommuniziert, in dem ein kleiner
       Computerchip eingebaut ist. So kann sie mit ihren Eltern sprechen.Von Yu
       bis zur Bettlerin – alle lieben WeChat.
       
       Ich gehöre eigentlich zu den Skeptikern neuer Technologien – vor allem in
       einem Land wie China, das seine Bewohner überwacht. Doch als ich an einem
       lauen Sommerabend in Peking mit Freunden gemütlich in einem Restaurant saß
       und bezahlen wollte, winkte meine Bekannte neben mir ab. Sie habe bereits
       mit WeChat bezahlt. Ich wollte ihr meinen Anteil geben. Sie zeigte bloß auf
       die App – überweise es doch. Da merkte ich: Ich muss diese Funktion auch
       dringend aktivieren.
       
       ## Daten sind der Rohstoff unserer Zeit
       
       Auf den Smartphones der westlichen Länder herrscht zumindest ein Minimum an
       Konkurrenz. Bezahlt werden soll mit Paypal – oder Sparkassen-App. Für
       Nachrichten ist WhatsApp zuständig. Das Taxi gibt es über MyTaxi. Fürs
       Videophon bevorzugen viele immer noch Skype. Urlaubserlebnisse teilen sie
       auf Facebook. News eher auf Twitter. In China übernimmt all das WeChat. Es
       hat alle Nischen des Ökosystems besetzt.
       
       Daten sind der Rohstoff unserer Zeit. Die Vernetzung von Daten potenziert
       ihre Macht. Und Tencent weiß mit WeChat alles über seine Nutzer. Was sie
       kaufen, welches Essen sie in Restaurants bevorzugen, wohin sie gehen,
       worüber sie sich unterhalten, wen sie lieben und wen sie hassen.
       
       Diese Konstellation ist nicht nur ein gewaltiger Pluspunkt für die
       Konsumindustrie, die einen hemmungslos mit Werbung für Dinge und
       Dienstleistungen bombardieren, die den jeweiligen Vorlieben entsprechen,
       sondern auch bei der Entwicklung von Anwendungen für künstliche
       Intelligenz. Die selbstlernenden Programme der Zukunft wie etwa beim
       autonomen Fahren, brauchen Anschauungsmaterial. Und niemand weiß so viel
       über die Menschen wie Tencent.
       
       Als Nächstes soll die Integration von WeChat ins Berufsleben folgen.
       Nachdem sich die Leute im Privaten daran gewöhnt haben, nutzen sie die App
       auch im Job eifrig. Sie teilen Vertragsentwürfe, machen Termine aus und
       schicken Fotos von Problemen am Fließband an die Ingenieure. Tencent geht
       darauf ein.
       
       Arbeitnehmer können bereits per WeChat Urlaubstage anmelden. Das Programm
       weiß auch, wer in welchem Stockwerk eines Bürogebäudes arbeitet – und das
       eröffnet den Zugang zu interessanten neuen Anwendungen.
       
       ## Das eigene Hauptquartier als Versuchslabor
       
       Huang Xiaoding ist der Herr über 82 Fahrstühle. Er hat mich eingeladen, das
       neue Tencent-Hauptquartier in der Zwölfmillionenmetropole Shenzhen zu
       besuchen. Stolz zeigt er mir die Dachkonstruktion aus Stahl und Glas, die
       sich über mir wie eine gigantische Kathedrale erhebt; rotes und blaues
       Licht von den Riesenbildschirmen darunter scheinen auf sein Gesicht. Huang
       hält seine Karte an das Lesegerät neben dem Aufzug – und der weiß daraufhin
       genau, in welches Stockwerk er fahren muss. „Das geht demnächst auch mit
       WeChat“, erklärt mir der Aufzug-Manager. „Dann wird die Karte überflüssig.“
       
       Es ist nur einer von vielen tausend Geschäftsbereichen, mit dem sich
       Tencent beschäftigt: Der Verzahnung der Aufzugstechnik mit WeChat. Und das
       neue Hauptquartier von Tencent ist selbst Versuchslabor für diese neue
       Technik.
       
       Vor knapp einem Jahr hat Tencent dieses Doppelhochhaus im Hightech-Viertel
       von Shenzhen bezogen. Tencent Seafront Towers heißen die zwei Türme, der
       eine hat 50 Stockwerke, der andere 39. Beide sind schräg einander zugeneigt
       – das soll die Windlast mindern. In der Region wüten in den Sommermonaten
       regelmäßig Taifune. Die beiden Türme sind mit drei gläsernen Brücken
       verbunden. Die Mitarbeiter sollen sich über den Weg laufen, vernetzen und
       Ideen austauschen können. Im Inneren des Gebäudes herrscht denn auch eher
       Campus- als Büro-Atmosphäre. „Ein architektonisches Meisterwerk“, sagt
       Huang. „Das ganze Land redet über das Gebäude.“
       
       Doch auch die Verzahnung von WeChat mit dem Arbeitsleben ist
       Chefprogrammierer und WeChat-Gründer Zhang nicht genug. Ebenfalls in
       Shenzhen, aber auch in einer Reihe anderer südchinesische Städte kooperiert
       Tencent mit den örtlichen Behörden. Sie probieren in mehreren
       Pilotprojekten eine völlig neue Form des E-Government aus.
       
       ## Auch Polizisten scannen den Barcode
       
       In der Shenzhen ist das bereits Realität. So sind Ausweis und
       Sozialversicherungskarte in dem personalisierten WeChat-Barcode
       gespeichert, ebenso Führer- und Fahrzeugschein. Bei einer Verkehrskontrolle
       reicht es nun, wenn der Polizist mit seinem Smartphone über den Code des
       Autofahrers scannt, schon hat er seine Daten beisammen. Auch das Bußgeld
       wird sofort vom Konto des Verkehrssünders abgebucht.
       
       Nicht mehr nur Bargeld soll obsolet werden, sondern alles, was derzeit bei
       den meisten noch im Portemonnaie oder in der Brieftasche steckt:
       Personalausweis, Führerschein, Fahrzeugpapiere? Das Smartphone in der
       Hosentasche reicht.
       
       Geht es nach Tencent, ist E-Government in China demnächst also sehr viel
       mehr, als sich bloß beim Einwohnermeldeamt online registrieren zu können,
       wie das derzeit in Deutschland angestrebt wird. Auch Ämter, in die der
       Bürger noch persönlich erscheinen muss, sollen überflüssig werden. Und
       Chinas Regierung hat Tencent den Zuschlag fürs E-Government gegeben.
       
       Dabei ist Tencent ein Privatunternehmen. Im staatskapitalistischen China
       mit seiner autoritären Führung ist es aber gar nicht möglich, mit der
       Regierung nicht zu kooperieren – schon gar nicht ein Unternehmen wie
       Tencent, das im Börsenwert zwischenzeitlich sogar Facebook überflügelt
       hatte. Wie alle IT-Konzerne, die in China tätig sind, gibt auch die
       Firmenleitung von Tencent unverhohlen zu: Die Sicherheitsbehörden haben
       jederzeit Zugriff auf die Daten. In China gilt: Wer eine Chat-Gruppe
       einrichtet, ist für deren Inhalt verantwortlich. Zahlreiche Nutzer sitzen
       in China in Haft, wegen – aus Sicht der kommunistischen Führung – politisch
       nicht korrekter Einträge, die der Nutzer selbst verfasste oder es zuließ,
       dass andere sie in der Gruppe posteten.
       
       ## Datenschutz? In China kein Thema
       
       Vor eineinhalb Jahren hatte mir jemand ein Bild auf WeChat geschickt.
       Darauf ein chinesischer Künstler, der ein T-Shirt mit einem gelben
       Regenschirm anhat. Dieser Regenschirm war das Symbol der
       Demokratie-Proteste 2014 in Hongkong. Hunderttausende gingen in der
       einstigen britischen Kronkolonie auf die Straße. In Hongkong ist das noch
       erlaubt. Denn anders als in der Volksrepublik gibt es in der heutigen
       chinesischen Sonderverwaltungszone noch so etwas wie Meinungsfreiheit. In
       China aber werden solche Proteste staatlich verfolgt.
       
       Bei dem Bild, das mir jemand auf den Gruppenchat zugeschickt hatte, hatte
       ich gar nicht so sehr Angst um mich selbst. Als ausländischer Journalist
       hatte ich schlimmstenfalls die Ausweisung zu befürchten. Doch die anderen
       Mitglieder kann ein solches Bild in Gefahr bringen. Kurze Zeit später war
       das Bild wieder gelöscht. Keine Ahnung, ob der Verfasser es gelöscht hatte
       oder die Zensur.
       
       Datenschutz? Das ist in China kein Thema, vielen nicht mal ein Begriff. Und
       einem Land, in dem die Regierung in den kommenden Jahren landesweit ein
       Social-Scoring-System einführen will, das das Verhalten jedes einzelnen
       Bürgers sowohl im Netz als auch im realen Leben genau unter Beobachtung
       stellen und entsprechend auswerten soll, kann von Datenschutzbewusstsein
       nicht die Rede sein – zumal die Abhängigkeit von diesen Diensten groß ist.
       
       Ob der Staat, die Konsumindustrie oder jeder erdenkliche Dienstleister –
       alle Spuren, jegliches Verhalten, sämtliche Daten werden gespeichert. Das
       ist sehr praktisch, wenn die entsprechenden Angebote auf dem Smartphone
       erscheinen, auch wenn der Nutzer sie gar nicht mal aktiv abgefragt hat. Wer
       am modernen Leben Chinas teilhaben will, kommt um WeChat gar nicht mehr
       herum.
       
       Mit der Einführung des Social-Scoring-Systems dürfte der Staat noch besser
       über seine Bürger Bescheid wissen. Für die Betreiber, im Falle Chinas auch
       der Staat, ist es ein Leichtes, herauszufinden, wer Initiator oder
       Meinungsführer bei den Einträgen ist. Das lässt sich auch entsprechend
       manipulieren.
       
       ## China setzt die Silicon-Valley-Giganten unter Druck
       
       Wie weit sind die Deutschen von „chinesischen Verhältnissen“ entfernt?
       Datenschutz hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Noch. Das
       WeChat-Symbol findet sich in Berlin zwar auch an Kassen des Kadewe oder bei
       dm oder Rossmann. In diesen Läden lässt sich also mit der App bezahlen.
       Doch diese Dienstleistung richtet sich ausschließlich an chinesische
       Touristen, die als spendierfreudig gelten. An einer weltweiten Expansion
       ist Tencent mit seiner App nicht interessiert. Die chinesische Kundschaft
       reicht dem Unternehmen aus.
       
       Und doch setzen die Verhältnisse in China auch die großen IT-Unternehmen im
       Silicon Valley unter Druck. Google, Amazon und Facebook beneiden die
       chinesische Konkurrenz um die Milliarden Daten, die Tencent und Alibaba von
       ihren Nutzern sammeln können. Auch Google und Facebook sammeln Daten – und
       nutzen sie zuweilen ungefragt. Doch dafür müssen sie sich rechtfertigen und
       Besserung geloben. Neue Datenschutzbestimmungen maßregeln sie. Tencent,
       Alibaba und die chinesischen Tech-Giganten hingegen machen keinen Hehl aus
       ihrer Sammelwut. Im Gegenteil: Sie werben damit und versprechen den Nutzern
       noch „passgenaueren Service“.
       
       In Europa macht sich die IT-Lobby angesichts der Möglichkeiten, die die
       Unternehmen in Fernost haben, stark für eine Lockerung der
       Datenschutzbestimmungen. Ob die Europäer künftig technisch überhaupt noch
       mit dem autoritären Staatskapitalismus mithalten können, ist unklar.
       
       Auch in Europa muss man in einigen Apps die Kreditkarte, den Führerschein
       und den Personalausweis hinterlegen. Der Unterschied zu China: Die Daten
       liegen bei unterschiedlichen Anbietern. Bei DriveNow, der Deutschen Bahn
       oder Emmy. Der Nutzer profitiert von der Konkurrenz zwischen
       unterschiedlichen Anbietern und dem Datenschutz der Demokratien.
       
       ## Kurzlebige IT-Trends
       
       Schon heute können einzelne Marktführer wie Google auf ungeheure Daten
       zugreifen: wohin wir gehen, was wir suchen, was wir uns anschauen, wann wir
       aufstehen. Sollte sich googlepay im Westen durchsetzen, könnte auch Google
       potentiell viele der Möglichkeiten haben, die WeChat heute hat.
       
       Doch längst ist auch die Dominanz von WeChat in China schon wieder bedroht.
       Denn auch das ist das Wesen von IT-Trends: Sie sind kurzlebig. Im Westen
       wird Facebook unter Teenagern schon als Medium der Eltern verschmäht.
       
       Und auch die junge Generation in China hat neue Favoriten. Eine davon ist
       die Kurzvideo-App „Douyin“, im Ausland auch als TikTok bekannt. In jeder
       U-Bahn in Peking trifft man auf Schülerinnen und Schülern, die auf ihr
       Smartphone starren und Faxen vor der Kamera machen.
       
       Auch beliebt unter jungen Chinesen: Toutiao, ein Newsfeed mit Inhalten
       speziell für junge Leute. Beides sind Angebote der chinesischen Firma
       Bytedance, der innerhalb kurzer Zeit zum größten Konkurrenten von Tencent
       aufgestiegen ist. Bis August hatte Douyin bereits 225 Millionen aktive
       Nutzer, Toutiao sogar über 250 Millionen, nach Angaben der
       Forschungsgesellschaft QuestMobile ein Anstieg um mehr als das Vierfache
       innerhalb eines Jahres. Tencent hat zwar mit der eigenen Kurzvideo-App
       Weishi reagiert. Der zählte jedoch lediglich rund 50 Millionen aktive
       Nutzer, also weniger als ein Viertel von Douyin.
       
       Bislang war es so, dass jedes soziales Netzwerk einen Lebenszyklus hat. Das
       scheint im Reich der Mitte nicht anders zu sein. Aus Sicht eines
       chinesischen Teenagers ist WeChat steinalt. Und was ist mit dem Angebot der
       unabhängigen Entwickler, die bei WeChat integriert sind? Und der Staat, der
       mit E-Government ebenfalls dabei ist? Die würden wohl rasch auf die neuen
       Angebote aufspringen. Chinesen sind flexibel.
       
       12 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Lee
       
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 (DIR) WDR-Doku über Digitalisierung: Wenn Kollegen Kollegen bewerten
       
       Die Dokumentation „Neuland“ widmet sich den Folgen der Digitalisierung in
       China und Deutschland. Ab Donnerstag ist sie in der ARD-Mediathek zu sehen.
       
 (DIR) Datenhandel mit Dating-Apps: Wir Konsumroboter
       
       Eine norwegische Studie zu Dating-Apps zeigt: Um detaillierte
       Nutzer*innen-Profile zu bekommen, werden Datenschutzgesetze dreist
       ignoriert.
       
 (DIR) Trans Ministerin über Taiwan: „Ich erteile keine Befehle“
       
       Als erste trans Ministerin weltweit: Audrey Tang war Programmiererin, bevor
       sie sich überreden ließ, in Taiwan Digital-Ministerin zu werden.
       
 (DIR) Machtkampf zwischen USA und China: Silicon Valley unter Druck
       
       Längst blicken die großen US-Tech-Unternehmen neidisch auf die
       Datensammelwut der Chinesen. Denn Daten sind der zentrale Rohstoff für KI.
       
 (DIR) Chinesische Video-App: USA prüfen Schritte gegen TikTok
       
       Datenschützer befürchten, dass die bei Teenagern beliebte App TikTok
       chinesischen Behörden zuarbeitet. Es geht dabei auch um die Dominanz im
       Netz.
       
 (DIR) Spekulationsblase in China: Schuhe kaufen statt Gold horten
       
       In China wächst eine neue Spekulationsblase: Luxus-Sneaker. Die
       Finanzbranche nimmt das ernst. Es wäre nicht die erste ungewöhnliche Blase.
       
 (DIR) Schweden ohne Münzen und Scheine: Bares wird Rares
       
       Bargeldlos bezahlen? Was in vielen Ländern diskutiert wird, ist in Schweden
       schon kaum anders möglich. Die Regierung zieht nun die Notbremse.
       
 (DIR) Kassenbons per App: Zettelwirtschaft digital
       
       Ein neues Gesetz sorgt ab 2020 für noch mehr Kassenzettel. Fünf Start-ups
       wollen das verhindern und digitale Bons entwickeln.
       
 (DIR) Zensur in China: Kein Zugriff auf deutsche Medien
       
       Unter anderem „tagesschau.de“ und „Süddeutsche.de“ können in China nicht
       mehr gelesen werden. Reporter ohne Grenzen kritisiert den Verlust.
       
 (DIR) Kolumne Nullen und Einsen: Im Osten viel Neues
       
       Mobiles Zahlen, Shared Mobility, Videochats beim Dinner und Roboterkellner:
       In Peking kann man jetzt schon die Zukunft sehen.
       
 (DIR) #WeTheNipple gegen Zensur im Netz: Nippelprotest in New York
       
       Über 100 Menschen protestierten nackt gegen die Zensur von weiblichen
       Nippeln auf Facebook und Instagram. Sie fordern Gleichberechtigung.
       
 (DIR) Apple beerdigt iTunes: Ein i, sie zu knechten
       
       Nach 18 Jahren beendet der Konzern den Usability-Alptraum iTunes. Um
       Nutzer*innen geht es dabei aber nur am Rande.
       
 (DIR) Diskussion zu Chinas Zivilgesellschaft: Atomisierte Einzelinteressen
       
       30 Jahre nach dem Tiananmen-Massaker funktioniert das Wohlstandsversprechen
       der KP noch. Doch taz-Autoren sehen ein wachsendes Protestpotenzial.
       
 (DIR) Chinesischer Konzern reagiert: Huawei pfeift auf Trump
       
       Das US-amerikanische Huawei-Verbot könnte zum Eigentor werden. Es fördert
       die Entwicklung eines eigenen chinesischen Betriebssystems.
       
 (DIR) Digitalkonferenz Republica in Berlin: Zehn Dinge, die wir gelernt haben
       
       Die Republica ist das europaweit größte Treffen in Sachen Digitales. Wir
       waren dabei und haben unsere Erkenntnisse aufgelistet.
       
 (DIR) Datenschutz bei Facebook: Zuckerberg macht auf Privatsphäre
       
       Facebook will seinen schlechten Ruf beim Datenschutz aufpäppeln und
       Nachrichten zukünftig verschlüsseln. An der Datensammelei ändert das
       nichts.
       
 (DIR) Überwachung in China: Der digitale Diktator
       
       China überwacht seine Bürger jetzt auch mit einer „Lern-App“. Genossen der
       Kommunistischen Partei müssen sie nutzen, sonst gibt es Strafpunkte.