# taz.de -- Ehrung von Nazi-Jurist in Osnabrück: „Held“ auf dem Rückzug
       
       > In Osnabrück entsteht ein „Friedenslabor“ als Lernort. Benennt die Stadt
       > es nach dem NS-Juristen Hans-Georg Calmeyer?
       
 (IMG) Bild: Hier droht ein „internationaler Skandal“: Welchen Namen trägt die Villa Schlikker in Zukunft?
       
       OSNABRÜCK taz | Es gibt Leute, die ziehen die Legende der Wirklichkeit vor:
       Normalmenschen werden so zu Helden, obwohl sie keine sind. Auch um den
       Osnabrücker Juristen Hans-Georg Calmeyer rankt sich eine Legende. Seit
       Jahrzehnten am Leben erhalten, erzählt sie eine Geschichte von Mut und
       Menschenliebe, von Selbstlosigkeit und Gerechtigkeitssinn, erhebt Calmeyer
       zur heldenhaften Lichtgestalt.
       
       Aber der Mann, zu dem es weit mehr Fragen gibt als Antworten, war alles
       andere als das. Von 1941 bis 1944 hochrangiger NS-Verwaltungsbeamter in Den
       Haag, wirkt er zwar daran mit, dass viele Juden der Ermordung entgehen,
       rund 2.500. Zugleich jedoch ist er ein Täter des [1][Holocaust], denn viele
       lässt er ins KZ deportieren. Seine Arbeit in Den Haag sei „ergötzlich“,
       schreibt er seiner Frau. Zudem versorgt Calmeyer das Deutsche Reich mit
       niederländischen Zwangsarbeitern.
       
       Calmeyer, erst Soldat der Wehrmacht, wird auf eigenen Antrag zum
       Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete abgeordnet,
       in die Besatzungsverwaltung nach Den Haag. Dort leitet er die
       „Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus Verordnung 6/41“, zuständig
       für „rassische Zweifelsfälle“ bei der Gesamterfassung der jüdischen
       Bevölkerung des Landes.
       
       Ergaben sich Zweifel, ob jemand als „ganz oder teilweise jüdischen Blutes
       anzusehen ist“, konnte das die Rettung bedeuten, und in Calmeyers Abteilung
       ergaben sie sich oft – wissentlich akzeptierte sie gefälschte
       Taufbescheinigungen und Verlustanzeigen für Personalausweise. Andererseits:
       Hunderte Ungefährdeter erklärt Calmeyer aktiv zu „bei den
       Abstammungserklärungen neu entdeckten Juden“. Zudem lehnt er kategorisch
       die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden ab.
       
       ## NS-Verbrecher plötzlich ein Menschenretter?
       
       Macht nichts, sagt die Osnabrücker Hans Calmeyer-Initiative (HCI). Sie
       verdrängt Calmeyers Ambivalenz und Ambiguität, heroisiert ihn als
       „vorbildhaft“, als „beispielgebend“, inszeniert den NS-Juristen als einen
       Widerständler tiefer Tragik, als Menschenretter. Und sie propagiert einen
       Erinnerungsort für ihn, als Teil des städtischen Museumsquartiers Osnabrück
       (MQ4): [2][ein „Calmeyer-Haus“].
       
       Die HCI hat Verbündete. Allen voran: Fritz Brickwedde, Fraktionschef der
       Osnabrücker CDU. Ende 2017 drückt er im Stadtrat einen Beschluss durch, der
       bis heute Bestand hat: Die Villa Schlikker des MQ4, bis 1945 Hauptquartier
       der örtlichen NSDAP, sei im Sinne eines „Hans-Calmeyer-Hauses“ zu
       entwickeln. Dass sich das MQ4 auch dem Gedenken an den 1944 in Auschwitz
       gestorbenen jüdischen Maler Felix Nussbaum widmet, im Nussbaum-Haus, einem
       eigens dafür errichteten Skulpturalbau von Daniel Libeskind, fällt dabei
       nicht ins Gewicht. Ein Haus, benannt nach einem NS-Täter, direkt neben
       einem Haus, benannt nach einem NS-Opfer? Käme es so, es wäre kaum zu
       fassen.
       
       Eine Debatte, in der die Calmeyer-Glorifizierer seit jeher stark auf
       Emotionen und Gegnerbashing setzen statt auf geschichtswissenschaftliche
       Neutralität und erinnerungskulturelle Expertise. Osnabrück, glauben sie,
       bekommt durch sie einen neuen großen Sohn, besser noch als Oskar Schindler.
       Man muss ihn nur ein bisschen weißwaschen.
       
       Lange schien es, als hätten die Calmeyer-Glorifizierer damit gute Chancen.
       Seit ein paar Wochen allerdings ist es still geworden um die HCI. Zu
       erdrückend sind die Fakten, die seit Jüngstem auf dem Tisch liegen.
       
       ## Protest und Entrüstung unter Forschenden
       
       Wolfgang Beckermann, Kulturvorstand der Stadt Osnabrück, darf also
       aufatmen. Stets hat er auf Versachlichung gedrungen: Es gelte, ein
       „Friedenslabor“ zu entwickeln, einen Begegnungs- und
       zivilgesellschaftlichen Lernort, keine Calmeyer-Devotionalie. Man brauche
       keinen „Glaubenskrieg“. Auch MQ4-Direktor Nils-Arne Kässens darf sich
       entspannen. Er hat nie Zweifel daran gelassen, wie falsch es wäre, „einen
       lokalen Helden aufzubauen“.
       
       Es gelte, Calmeyer „zu problematisieren“, ihn nicht „solitär zu stellen“,
       sondern als Katalysator einer Grundsatzfrage zu nutzen, perspektiviert bis
       in die Gegenwart: Wie handelt der Mensch in totalitären Systemen? Der
       Labor-Besucher sei nicht nur Konsument: „Er wird selbst aktiv.“ Mehr Fragen
       als Antworten? Das kann auch produktiv sein.
       
       Dass die Hans Calmeyer-Initiative auf dem Rückzug ist, hat viele Gründe.
       Einer davon ist der Mut von Alfons Kenkmann, Professor für
       Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig und Leiter des
       wissenschaftlichen Beirats zur Neugestaltung der Villa Schlikker. Mitte
       Juli, bei der Vorstellung der ersten Konzeptideen, prangert er die
       „Diffamierung“ und „Stigmatisierung“ an, die dem Beirat in Osnabrück
       entgegenschlägt. Kollektive Inkompetenz hatte Joachim Castan, einer der
       Köpfe der HCI, dem Beirat vorgeworfen – in dem er selbst sitzt, um
       Profilierung bemüht.
       
       Namhafte Wissenschaftler haben den Beirat wegen Castan verlassen, unter
       Protest, auch eine Expertin vom Amsterdamer NIOD Instituut für Krieg-,
       Holocaust- und Genozidstudien. Kenkmann, mehrfach kurz davor, dasselbe zu
       tun, hat jüngst für Neuzugänge gesorgt, unter ihnen ein Experte des Fritz
       Bauer Instituts in Frankfurt am Main.
       
       ## „Ein internationaler Skandal“
       
       Kenkmann ist es auch, der Mitte Juli den Sprengsatz der Namensfrage erst
       mal entschärft. Der Beirat werde „am Ende eine Empfehlung aussprechen“. Bis
       dahin gelte: Villa Schlikker. „Schließlich heißt ja auch der Beirat so!“
       Die Calmeyer-Variante, bedeutet das, hat bei ihm keine Chance.
       
       Auch das weltweite Medienecho auf eine Petition an Kanzlerin Angela Merkel
       drängt die HCI in die Defensive. Initiiert wurde sie in den Niederlanden
       von dem Philosophieprofessor Johannes Max van Ophuijsen und den
       Journalisten Hans Knoop. Die Forderung: Sollte das Labor Calmeyers Namen
       tragen, möge die Bundesregierung die 1,7 Millionen Euro Fördermittel
       zurückziehen, die sie Osnabrück für die Sanierung der maroden Villa
       bewilligt hat. Unterschrieben haben 265 Menschen von Gewicht, vom
       Historiker bis zum Holocaust-Überlebenden.
       
       „Sollte das Calmeyer-Whitewashing wirklich stattfinden, wäre das ein
       internationaler Skandal“, sagt Initiator Knoop. Zusätzliches Warnsignal an
       die HCI: Die Initiatoren der Petition waren Mitte Juli auf Einladung von
       Kulturvorstand Beckermann in Osnabrück – der Beginn einer Zusammenarbeit,
       nicht zuletzt für ein Symposion im Jahr 2021, auf dem dann auch der Name
       diskutiert werden soll, für einen Vorschlag an den Beirat – in dem es für
       eine Calmeyer-Benennung wohl ohnehin keine Mehrheit mehr gibt.
       
       Und dann ist da noch die Auschwitz-Überlebende Femma Fleijsman-Swaalep, die
       Calmeyer nicht vor der Deportation gerettet hat, obwohl er die Macht dazu
       besaß. MQ4-Direktor Kässens hat sie nach Osnabrück eingeladen, als „große
       Chance für uns, die Ambivalenz Calmeyers darzustellen“. Ihre Biografin Els
       van Diggele, Historikerin aus den Niederlanden, ist erleichtert: „Für mich
       ist nur gute historische Forschung wichtig. Dass Herr Castan (vom HCI; d.
       Red.) glaubt, wir seien hinter einem Skandal her, macht ihn unglaubwürdig.“
       
       ## Den Nebel lichten
       
       Auch, dass Jad Vaschem, die Jerusalemer „Gedenkstätte der Märtyrer und
       Helden des Staates Israel im Holocaust“ Calmeyer einst den Ehrentitel
       „Gerechter unter den Völkern“ verlieh, bröckelt der HCI als Argument weg:
       Yad Vashem prüft derzeit die Causa erneut. Selbst die eigenen Reihen der
       HCI lichten sich mittlerweile: Eine Historikerin und Juristin aus den
       Niederlanden hat den Ehrenvorsitz der HCI niedergelegt.
       
       „Das Projekt war gefährdet“, resümiert Kulturvorstand Beckermann. „Aber
       jetzt sind wir auf einem guten Weg.“ Der ist zwar durch Corona stark
       verzögert, aber 2023 soll das neue Labor eröffnen. 655.000 Euro zahlt
       Osnabrück für dessen inhaltliche Ausgestaltung. Damit beauftragt ist
       derzeit die Agentur Schwerdtfeger & Vogt, Münster und Berlin. Sie hat den
       Wettbewerb zur Machbarkeitsstudie gewonnen und „schärft jetzt das Konzept“,
       sagt MQ4-Direktor Kässens. „Bisher liegen ja nur erste Visionen vor“.
       
       Viel ist im Moment wirklich nicht zu sehen. Ein paar Grafiken, das war’s.
       „Menschen Haltungen Möglichkeiten“ steht auf einer davon, „Werte Courage
       Engagement“ auf einer anderen. Das eigentliche Labor soll später ganz oben
       rein, in den zweiten Stock, „interaktiver Erfahrungs- und
       Informations-Raum“ inklusive. Für ganz unten ist ein Café geplant.
       Dazwischen, auf halber Höhe – fast schon ein Sinnbild – wird Calmeyer
       verhandelt, kontrovers. „Das ist noch ein langer Weg“, sagt Philipp
       Schwerdtfeger von der Agentur, die die Ausstellung konzipiert.
       
       Das gilt auch für die Recherche. Sicher, Bücher über Calmeyer gibt es
       viele. Aber auserforscht ist der NS-Jurist noch lange nicht. Vieles an ihm
       gleicht einem Nebelmeer.
       
       Für Anfang November ist die nächste Beiratssitzung geplant. Auch sie wird
       den Nebel wieder ein wenig lichten: Fakten statt Fakes.
       
       13 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Holocaust-Gedenken/!5660585
 (DIR) [2] /Umgang-mit-der-Shoa/!5686135
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) NS-Verbrechen
 (DIR) Holocaust
 (DIR) Erinnerungspolitik
 (DIR) Shoa
 (DIR) Osnabrück
 (DIR) Osnabrück
 (DIR) NS-Straftäter
 (DIR) Wehrmacht
 (DIR) Israel
 (DIR) Kolumne Die Mendel'schen Regeln
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Holocaust
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Lernort zur NS-Geschichte in Osnabrück: Streit um Nazi-Beamten geht weiter
       
       Am Dienstag sollte der Streit um die Umbennung der Villa Schlikker in
       Osnabrück beseitigt werden. Doch dann schossen Teile der örtlichen CDU
       quer.
       
 (DIR) Diskussion um NS-Jurist als Namensgeber: Ein Held und Schreibtischtäter
       
       Die CDU in Osnabrück will das „Friedenslabor“ des Museumsquartiers nach
       Hans Georg Calmeyer benennen. Nun wurde eine Chance vertan, das zu
       verhindern.
       
 (DIR) Denkmal für die Wehrmacht in Lüneburg: Verbrechen konkret benannt
       
       Das umstrittene Lüneburger Wehrmachtsdenkmal bleibt, bekommt aber mehr
       Erklärungstext. Die geehrten Soldaten waren am Holocaust beteiligt.
       
 (DIR) Historische Verantwortung: Museum in Not
       
       Das Museum der deutschsprachigen Juden in Israel steht vor dem Aus. Jetzt
       sucht der Trägerverein Hilfe in Deutschland.
       
 (DIR) Gedenken und Luftwaffe: Stolz auf militärische Stärke
       
       Israelische und deutsche Düsenjäger flogen gemeinsam über die
       KZ-Gedenkstätte Dachau. Doch das ist eine eher peinliche Geste.
       
 (DIR) Reifenfirma Continental in der NS-Zeit: Schuhsohlen für die Wehrmacht
       
       Später als andere hat der Gummikonzern Continental seine NS-Vergangenheit
       untersuchen lassen. Das Ergebnis: Zwangsarbeit war dort allgegenwärtig.
       
 (DIR) Historikerin über Zeitzeugen-Interviews: „Wertvolle historische Quellen“
       
       Die „Werkstatt der Erinnerung“ wurde gegründet, um die Stimmen von
       NS-Verfolgten zu sammeln. Längst erforscht sie auch jüngere
       Migrationsbewegungen.