# taz.de -- Flucht übers Mittelmeer: Seenotrettung kein „Pull-Faktor“
       
       > Eine Studie zeigt, dass Gewalt und Krisen, nicht Rettungsmissionen, zu
       > mehr Bootsgeflüchteten führen. Sea-Eye fordert ein Ende der Abschottung.
       
 (IMG) Bild: Mitglieder von SOS Mediterranee nähern sich im Juli 2021 einem Boot auf dem Mittelmeer
       
       BERLIN taz | Seenotrettung auf dem Mittelmeer führt nicht dazu, dass sich
       mehr [1][Geflüchtete] auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. Wie
       eine neue [2][Studie] zeigt, existiert kein sogenannter Pull-Effekt, weder
       durch private Seenotrettung noch durch staatliche Einsätze. Sehr wohl
       beeinflusst wird die Zahl der Bootsgeflüchteten aber durch militärische
       Konflikte, wirtschaftliche Krisen und durch Extremwetterereignisse infolge
       des Klimawandels.
       
       Für die Studie untersuchten die Soziologin Alejandra Rodríguez Sánchez von
       der Universität Potsdam und ihre Kolleg*innen Ramona Rischke vom
       DeZIM-Institut, Julian Wucherpfennig von der Hertie School und Stefano
       Iacus von der Harvard University die Überfahrten von Nordafrika nach
       Italien zwischen 2011 und 2021. Ausgewertet wurden mögliche Zusammenhänge
       zwischen der Zahl der Flüchtenden, die sich auf die Seereise begaben, und
       zahlreichen anderen Faktoren, darunter etwa Wechselkurse,
       Preisentwicklungen, Arbeitslosenzahlen, militärische Konflikte, Gewalt,
       Luftverkehr, Wetter und die Intensität staatlicher und nichtstaatlicher
       Rettungsaktionen.
       
       Ein Großteil dieser Faktoren spielte demnach tatsächlich eine Rolle dafür,
       wie viele Personen sich auf den Weg nach Italien machten. So gibt es etwa
       einen klaren Zusammenhang zwischen mehr Gewalt in Herkunftsländern und
       steigenden Zahlen von Personen, die die Überfahrt nach Italien wagen.
       
       [3][Seenotrettung] hatte laut den Berechnungen der Forscher*innen
       dagegen keinen Einfluss darauf, wie viele Menschen sich auf den Weg
       machten. „Die Migrationszahlen wären ohne die Rettungsmissionen genauso
       hoch gewesen“, fasst Rodríguez Sánchez die Ergebnisse zusammen. Von einem
       „Pull-Faktor“, der mehr Menschen zur Überfahrt verleitet habe, könne keine
       Rede sein. Der Zusammenhang sei, wenn überhaupt, gegenteiliger Art: „Die
       Einsätze waren eine Reaktion auf die hohen Zahlen von Überfahrten.“
       
       ## Menschenrechtsverletzungen in Libyen
       
       Gorden Isler, der Vorsitzende der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, sagte
       der taz, die Ergebnisse der Studie zeigten erneut, dass die Erzählung vom
       Pull-Faktor nur dazu diene, Menschen zu desorientieren und zu
       desinformieren: „Es ist wichtig, dass diese Erkenntnisse zu den politischen
       Verantwortlichen durchdringen, so dass die Politik der Abschreckung und der
       Abschottung endlich ein Ende findet.“
       
       Mit Verweis auf einen behaupteten Pull-Effekt wurde etwa 2014 die
       italienische Rettungsmission Mare Nostrum im Mittelmeer beendet. Seitdem
       gibt es mit der Frontex-geführten Mission Triton von staatlicher Seite nur
       noch Grenzschutzbemühungen. Private Seenotretter*innen werden von den
       EU-Staaten [4][systematisch behindert und kriminalisiert].
       
       Einer anderen Strategie der EU gibt die Studie indes indirekt recht – auf
       makabere Weise. Die Forscher*innen wiesen nach, dass EU-Unterstützung
       für die sogenannte libysche Küstenwache seit 2017 viele Migrant*innen
       davon abhielt, die Überfahrt nach Europa zu wagen. In der Praxis bedeutet
       das, dass libysche Milizen dafür bezahlt und ausgerüstet werden, die
       Flüchtlingsboote abzufangen und zurückzuschleppen. Dabei wenden die
       Milizionäre oft Gewalt an, den Geflüchteten droht Misshandlung, Folter und
       Mord.
       
       Isler von Sea-Eye sagte der taz dazu: „Es ist ein Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit, dass staatliche Akteure zivile Rettungsschiffe seit Jahren
       systematisch behindern und mit bewaffneten, libyschen Milizen
       zusammenarbeiten, um Menschen daran zu hindern Libyen zu verlassen.“ Es
       brauche stattdessen, „die Einrichtung von sicheren Fluchtwege für alle
       schutzsuchenden Menschen und ein Ende der Zusammenarbeit zwischen den
       EU-Mitgliedsstaaten und der sogenannten Libyschen Küstenwache.“
       
       Aktualisiert am 07.08.2023 um 12:10. d.R.
       
       3 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Flucht/!t5201005
 (DIR) [2] https://www.nature.com/articles/s41598-023-38119-4
 (DIR) [3] /Seenotrettung/!t5010374
 (DIR) [4] /Vorwuerfe-gegen-Italien-bei-EU-Kommission/!5944839
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frederik Eikmanns
       
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