# taz.de -- Geschichte des Antisemitismus: 2000 Jahre Judenhass
       
       > Antisemitismus hat seine Wurzeln im Christentum. Mit der
       > Judenemanzipation und der Staatsgründung Israels wurde auch der
       > islamische Judenhass mörderisch.
       
 (IMG) Bild: Julius Streicher (in weiss) und andere Nationalsozialisten während einer Kundgebung im Sportpalast Berlin, 1935
       
       Die christlichen Wurzeln des Antisemitismus werden bis heute zu wenig zur
       Kenntnis genommen. Die Shoah war nur möglich, weil christlich geprägte
       judenfeindliche Vorstellungen im Denken und Fühlen der Täter und Mitläufer
       tief verwurzelt waren. Auch der verbreitete Hass auf Israel hat eine
       religiöse Grundlage.
       
       „Wir feiern heute ein Fest, das die ganze Welt einig feiert“, hallte es vor
       gut hundert Jahren durch den Festsaal des Münchner Hofbräuhauses. 4.000
       Menschen waren zur Weihnachtsfeier der NSDAP gekommen. „Die Juden“, fuhr
       der Redner Adolf Hitler fort, „haben den Weltbefreier feige ans Kreuz
       geschlagen.“
       
       Ein Jahr später, zu Weihnachten 1922, mahnte er, man solle sich „ein
       Beispiel an diesem Manne nehmen, der arm in einer Hütte geboren wurde, der
       große Ideale verfolgt hat und den die Juden aus diesem Grunde später an das
       Kreuz geschlagen haben“. Immer wieder griff Hitler auf die
       Leidensgeschichte des „Geistesriesen“ Jesus zurück. Er sei der erste große
       Antisemit gewesen, schrieb er in „Mein Kampf“, schließlich habe er gegen
       die Juden zur Peitsche gegriffen, und weiter: „Dafür wurde dann Christus
       freilich an das Kreuz geschlagen.“
       
       ## Echos der Gottesmordlegende
       
       Die Legende einer kollektiven jüdischen Schuld am Märtyrertod Jesu ist aus
       christlicher Sicht das jüdische Urverbrechen schlechthin. Zentrale
       antijüdische Verleumdungen erweisen sich als Echo dieser Erzählung.
       
       Die den Juden angedichteten Ritualmorde und Hostienfrevel, die
       Hunderttausende das Leben kosteten, seien eine Reinszenierung ihres
       Gottesmordes, hieß es etwa. Die Jesuiten verbreiteten die
       Ritualmordlegenden noch Ende des 19. Jahrhunderts.
       
       Dreißig Jahre später betrieb dann vor allem das nationalsozialistische
       Kampforgan Der Stürmer eine zügellose Ritualmord-Propaganda. Das Blatt
       thematisierte auch regelmäßig die jüdische Schuld am Tod Jesu und verwies
       zwischen 1923 und 1944 173 Mal auf den „Verräter“ Judas oder den
       „Judaslohn“ von 30 Silberlingen.
       
       [1][Der Herausgeber Julius Streicher], der im Urteil der Nürnberger
       Prozesse als „Judenhetzer Nummer eins“ bezeichnet wurde, bekundete 1945,
       die Leidensgeschichte Jesu habe ihn zum Antisemiten gemacht. Schon 1924
       hatte er im Jargon eines besorgten Bürgers gefragt: „Wer weiß, ob nicht
       noch einmal die Zeit kommt, da man überhaupt nicht mehr sagen darf, dass
       Christus von den Juden gekreuzigt worden ist?“
       
       Die historisch unhaltbare Erzählung des Neuen Testaments, wonach der
       unschuldige römische Statthalter auf Druck der Juden Jesus hinrichten ließ,
       nachdem ihn der vom jüdischen Hohepriester bestochene Judas verraten hatte,
       imaginiert die Juden als die Strippenzieher hinter den Entscheidungen der
       römischen Obrigkeit: Den Nazarener, so heißt es in der Apostelgeschichte,
       hätten die Juden „durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen“. Die
       „Gesetzlosen“, also die ohne das mosaische Gesetz lebenden Römer,
       erscheinen mithin nur als Marionetten der hinterlistigen Juden.
       
       ## Antijüdische Verschwörungslegende
       
       Die Autoren des Neuen Testaments schufen damit die erste große antijüdische
       Verschwörungslegende. Sie ist zu einem festen Bestandteil der europäischen
       Kultur geworden und bildet die Urform des für den Antisemitismus so
       essenziellen Bildes von der Übermacht der „schachernden“ Juden und ihrem
       unheilvollen Einfluss auf – vor allem politische – Entscheidungsträger.
       
       Als auf dem ersten Konzil zu Nicäa im Jahr 325 beschlossen wurde, Jesus sei
       göttlicher Natur, avancierten die Juden von Christus-Mördern gar zu
       Gottesmördern. Und nur im Bunde mit dem Teufel, so folgerten die Christen,
       konnten die Juden es bewerkstelligen, einen veritablen Gottesmord zu
       begehen. Spätestens damit war das Bild von der teuflischen Allmacht der
       Juden geboren.
       
       Seit den Brunnenvergiftungslegenden waren die Christen davon überzeugt,
       dass die Juden nicht nur Christus ans Kreuz schlugen, sondern [2][die ganze
       Christenheit im Visier] hatten. Die modernen deutschen Antisemiten
       halluzinierten dann gar von einer jüdischen Bedrohung für Deutschland als
       Nation.
       
       Das ist nicht verwunderlich, denn die Deutschen identifizierten sich als
       rein christlich. Es gab, wie Daniel Goldhagen einmal bemerkte, seit dem 19.
       Jahrhundert eine „gedankliche Verschmelzung von Deutschtum und Christentum,
       wobei allein schon der Begriff ‚deutsch‘ ein christliches Element
       beinhaltete“. Die NSDAP wolle „vermeiden, dass auch unser Deutschland den
       Kreuzestod erleidet“, meinte Hitler schon 1923. In derselben Bildsprache,
       die als Nachhall der Vorstellung von den kreuzigenden Juden verstanden
       werden kann, fabulierte der Stürmer 1933, die Juden hätten „Deutschland ans
       Kreuz geschlagen“.
       
       ## Die Shoah als Vollstreckung des Blutfluchs
       
       Der Wahn vom Gottesmord begleitete selbst noch den
       NS-Vernichtungsantisemitismus. 1946 berichtete Hans Frank, Hitlers
       Generalgouverneur in Polen, wie der „Führer“ 1938 Ausrottungsfantasien
       gegen die Juden entwickelte und davon sprach, er müsse womöglich den
       „Blutfluch“ vollstrecken, jene Selbstverfluchung, die den Juden aufgrund
       ihres „Gottesmordes“ im Matthäusevangelium zugeschrieben wird: „In den
       Evangelien riefen die Juden dem Pilatus zu, als dieser sich weigerte, Jesus
       zu kreuzigen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder‘“, habe Hitler
       erklärt, um fortzufahren: „Ich muss vielleicht diese Verfluchung
       vollstrecken.“
       
       Die Shoah als Vollstreckung des „Blutfluchs“, als Vergeltung also für die
       Kreuzigung Jesu? Mit dieser Sicht war Hitler nicht allein, ähnlich äußerte
       sich etwa der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Und im Ulmer
       Einsatzkommando-Prozess von 1958 antwortete ein Pfarrer auf die Frage,
       warum er nichts gegen die Massenerschießungen unternommen habe, er
       habe gedacht, den Juden geschehe dies recht, denn an ihnen erfülle sich nun
       das Wort „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“. Die Shoah war
       nur möglich, weil die christliche Vorstellung von der Ur-Schuld der Juden
       im Denken und Fühlen der Täter und Mitläufer tief verwurzelt war.
       
       ## Kreuzigung Palästinas
       
       Heute ist die Gottesmordlegende fester Bestandteil israelfeindlicher
       Ressentiments. Palästinensische Medien beschuldigen die Juden regelmäßig,
       Jesus ans Kreuz geschlagen zu haben. So wie Jesus vor 2.000 Jahren das
       angebliche Opfer der Juden war, so erscheinen heute die Palästinenser als
       ewige Opfer der Israelis. Und so wie einst die deutsche Nation, so wollten
       die Juden heute ganz Palästina ans Kreuz schlagen.
       
       Ein berühmtes Plakat der Fatah aus den 1970er Jahren zeigt Palästina
       gekreuzigt an einem Davidstern – also von den Juden. „Das Kreuzigungssystem
       der israelischen Regierung ist täglich in Betrieb“, gab der anglikanische
       palästinensische Priester Naim Ateek zum Besten. Auch der lutherische
       Pastor Mitri Raheb aus Bethlehem bringt die Situation der Palästinenser
       immer wieder mit der Kreuzigung Jesu in Verbindung. Zum antisemitischen
       Blutbad vom 7. Oktober schrieb der mit dem Aachener Friedenspreis und dem
       Deutschen Medienpreis ausgezeichnete Gottesmann unumwunden, die
       Palästinenser zeigten „neue Formen des kreativen Widerstands“.
       
       ## Die schlimmste Strafe
       
       „Jesus, unser Herr, ist Palästinenser, die Juden kreuzigten ihn an der Via
       Dolorosa“, erklärte Abbas Zaki, Mitglied des ZK der Fatah und sunnitischer
       Muslim. Als den ersten „palästinensischen Guerillakämpfer“ würdigte ihn der
       palästinensische Premier Mohammad Schtajjeh bei einer Weihnachtsfeier im
       Jahr 2019.
       
       Tatsächlich teilen nicht nur christlich geprägte Gruppen wie [3][die
       Terrororganisation PFLP], sondern auch viele Muslime diese Sicht.
       Schließlich thematisiert der stark von den Evangelien geprägte Koran
       explizit die Kreuzigung Jesu, der im Koran über hundertmal erwähnt wird und
       als bedeutender Prophet gilt.
       
       Indessen weicht die koranische Interpretation des Geschehens von der
       christlichen an einem Punkt ab: Zwar sollen die Juden versucht haben, Jesus
       – und auch den Propheten Mohammed – zu töten, doch sie scheiterten jedes
       Mal. Über die Jahrhunderte hinweg galten die Juden im Islam daher zwar als
       böse, aber zugleich als schwach, eher als Versager denn als Verbrecher.
       
       Doch mit der Judenemanzipation im Allgemeinen und der Staatsgründung
       Israels im Besonderen [4][näherte sich der islamische Judenhass] dem
       eliminatorischen Antisemitismus in Wort und Tat an. [5][Sayyid Qutb, der
       wichtigste Vordenker] der Muslimbruderschaft und ihres palästinensischen
       Zweigs Hamas, erläuterte 1950, was Juden erwarte, die dem alten Bild des
       Verlierers nicht entsprechen: „Dann schickte Allah Adolf Hitler, um über
       sie zu herrschen. Und nun sind die Juden wieder zum Bösen zurückgekehrt, in
       Gestalt von ‚Israel‘, das den Arabern Kummer und Leid bereitet. So möge
       Allah Menschen auf die Juden herabsenden, die die schlimmste Art von Strafe
       verhängen.“
       
       „Die schlimmste Art von Strafe“: [6][Das Massaker vom 7. Oktober] gab eine
       Ahnung davon, wie diese Strafe aussehen soll.
       
       23 Dec 2023
       
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