# taz.de -- Istanbul-Biennale: Repression und Selbstbehauptung
       
       > Ist zeitgenössische Kunst in der Türkei noch oder wieder die Domäne der
       > kritischen Intelligenz? Die Frage stellt sich derzeit in Istanbul
       > mehrmals.
       
 (IMG) Bild: Flaggen mit Slogans der Gezi-Proteste bei einer Performance der indonesischen Künstlerin Arahmaiani
       
       „Wir werden ihre Zungen herausschneiden. Wir werden ihre Köpfe zermalmen.“
       Recep Tayyip Erdoğan war nicht zimperlich. Als sich die Pop-Sängerin Sezen
       Aksu im Sommer in einem Song über den Propheten Adam lustig machte, drohte
       der türkische Präsident mit körperlicher Vergeltung.
       
       Der Mob, der sich nach der Drohung vor dem Haus der Diva der türkischen
       Musik zusammenrottete, bekam Aksus Zunge nicht. Der Vorfall markierte aber
       die Spielräume der Kunst am Bosporus.
       
       Gemessen an der Drohkulisse, die Erdoğan ein Jahr vor den Parlaments- und
       Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 aufbaut, grenzte es an ein kleines
       Wunder, dass Mitte September die Istanbul-Biennale überhaupt eröffnete. Die
       1987 gegründete Kunstschau ist zwar kein Hort des politischen Widerstands.
       Schließlich verdankt sie ihre Existenz dem Mäzenatentum der
       Unternehmerfamilie Eczacıbaşı und deren Stiftung für Kunst und Kultur
       (IKSV).
       
       Sie setzt jedoch immer wieder kritische Akzente. 2013 öffnete die kürzlich
       verstorbene Kuratorin [1][Fulya Erdemci ihre Biennale den Gezi-Protesten].
       2017 hatte gar das offen schwule [2][Duo Elmgreen & Dragset die
       künstlerische Leitung inne]. Offene Kritik an den immer repressiveren
       Verhältnissen finden sich auf der im September eröffneten 17. Biennale
       nicht. Doch wer die Zeichen zu lesen versteht, kann Gesellschaftskritisches
       finden.
       
       ## Zunehmend unter Druck
       
       Ob es nun die Gezi-Slogans auf den Flaggen einer Performance der
       indonesischen Künstlerin Arahmaiani sind oder die Funde aus dem 1990
       gegründeten Frauenarchiv der Stadt Istanbul, die Künstlerinnen Merve
       Elveren und Çağla Özbek vielerorts ausgebreitet haben.
       
       Letztlich ist auch die Entscheidung der diesjährigen Kurator:innen Ute
       Meta Bauer und Amar Kanwar (beide saßen übrigens [3][in der
       Findungskommission der documenta fifteen], die das umstrittene
       Kuratorenkollektiv ruangrupa als künstlerische Leiter ernannte und fanden
       keine Zeit, sich in Kassel zu erklären, Anm. der Red.) sowie David Teh, die
       Biennale auf zwölf Artspaces zu verteilen, ein Versuch, die lokale und
       internationale Szene zu vernetzen.
       
       Obwohl zunehmend unter Druck, ist zeitgenössische Kunst in der Türkei noch
       die Domäne der kritischen Intelligenz, wie selbst Präsident Erdoğan vor ein
       paar Jahren zähneknirschend zugeben musste. Seine 2018 lancierte
       Gegenoffensive einer „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste fand
       wenig Anklang.
       
       Die unabhängige Kunstszene zeigt gerade in Istanbul eine unerklärte
       Demonstration der Stärke. Parallel zur Biennale laufen in der Stadt etwa
       eine Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt
       oder die feministische Schau „Mis(s)placed Woman?“ im – noch nicht
       geschlossenen – Artspace Depo des [4][zu lebenslanger Haft verurteilten
       Kulturmäzens Osman Kavala].
       
       ## Regenbogenfahne im Wind
       
       Für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln
       lässt, war es zudem ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse
       „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem
       Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes aufstellte, das eine
       Regenbogenfahne im Wind wehen lässt.
       
       Die türkische Kunstszene laviert derzeit in einem Patt zwischen Repression
       und Selbstbehauptung. Auf der einen Seite lauert Erdoğan, auf der anderen
       sichern die großen Industriellenfamilien wie Koç oder Sabancı mit ihren
       Privatmuseen der Kunst Räume.
       
       Denen folgt neuerdings die Stadt Istanbul. Das stillgelegte Gaswerk „Müze
       Gazhane“ im liberalen Stadtteil Kadiköy, einer der Standorte der Biennale,
       ist eines von sechs neuen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen
       Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei der Kunst
       neue Wirkräume sichern will.
       
       Mit Verwunderung und Entsetzen verfolgten Beobachter deshalb eine
       unerwartete Annäherung. Zum Eröffnungsempfang des türkischen Pavillons in
       Venedig durfte mit Mehmet Ersoy erstmals ein Kulturminister der
       AKP-Regierung eine Rede halten. Kurz darauf hängte IKSV-Chef Bülent
       Eczacıbaşı gar Ersoys Stellvertreterin Özgül Yavuz eine Verdienstmedaille
       um. Man fragt sich wofür.
       
       11 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] /Verurteilung-Osman-Kavalas-in-der-Tuerkei/!5851043
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arend
       
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