# taz.de -- Jovana Reisingers Debütroman: Schnell, grell und fatal
       
       > Frau gegen Natur: „Still halten“ von Jovana Reisinger liest sich wie das
       > Remake eines Horrorfilms im Gewand avantgardistischer Literatur.
       
 (IMG) Bild: Jovana Reisinger an einem grauen Novembertag in Berlin-Neukölln
       
       Jovana Reisinger trägt ein langes Kleid mit floralen Mustern. Ihre Haare
       sind kurz, sind noch viel kürzer gewesen, wie man auf Fotos sehen kann. Das
       Kleid geht bis fast zu den Knöcheln, hat lange Ärmel und ist bis oben
       zugeknöpft. Wenn es nicht so bunt wäre, könnte es den Körper einer
       besonders sittsamen Person verhüllen. Das trägt frau jetzt so, heißt es.
       
       Der Blick aufs Äußere von Künstlerinnen und Politikerinnen sei
       problematisch, heißt es aber auch. Bei Männern beschreibe niemand Farbe und
       Muster von Hemd und Krawatte. Eben hier liegt der Fehler dieser Denkfigur,
       lässt sich aus dem Muster einer Krawatte im Zweifel doch das ästhetische
       und politische Programm ihres Trägers herauslesen. Jovana Reisingers
       Habitus korrespondiert mit der Liebe zu Mode und Pop, der Hingabe an die
       Gegenwart und dem Willen zum Avantgardismus, die aus ihrem Werk sprechen.
       
       Die Filmemacherin wird noch an der Hochschule für Fernsehen und Film in
       München ausgebildet. Sie hat Videos für die Modemacherin Jessica Dettinger
       gedreht, und Musikclips für „Das Weiße Pferd“, „Pollyester“ und „Nalan381“.
       In allen diesen Arbeiten, die mal mit ruhigen Tableaus, mal mit schnellen
       Schnitten und Bild in Bild arbeiten, sind es Körper und Gesten, Handlungen
       und Symbole, mittels derer erzählt wird. Ihr Kurzfilm „Pretty boyz don’t
       die“ begeisterte die Festspielleitung der Oberhausener Kurzfilmtage, die
       ihr den Zonta-Preis verlieh. Er wird Filmen zugesprochen, die „neue
       erzählerische Wege gehen“ und „serielle Formen erproben“.
       
       Wenn es nicht so bürokratisch klingen würde, könnte man das auch über ihren
       ersten Roman „Still halten“ sagen, der im September beim Berliner
       Verbrecher Verlag erschienen ist. Der Text oszilliert zwischen erster und
       dritter Person, zwischen „ich“ und „der Frau“. Er erzählt eine Geschichte
       mit krisenhaftem Anfang und bösem Ende (das Jovana Reisinger selbst so böse
       gar nicht findet), verweigert sich aber jeder Psychologie. Dabei handelt er
       von einer depressiven Frau, der vom Arzt ein „Heilungsversprechen“ gegeben
       wurde, was sie wie ein Mantra wiederholt: „Vor dem Tod kommt die Heilung.
       Die wurde mir versprochen.“
       
       ## Subjekt, Prädikat, Objekt
       
       Ihr Mann ist ständig unterwegs, er bleibt bis zuletzt ein Phantom. Der
       Vater hat sich vor langer Zeit in einer Hütte im Wald erhängt. Dann stirbt
       die Mutter. Die Frau zieht ins elterliche Haus am Waldrand. „Im Juni wüten
       in Oberösterreich um 4.45 Uhr die Vögel bereits so laut, dass Sie nicht
       mehr schlafen müssen.“ Die Frau beginnt einen Feldzug gegen die Natur. Erst
       mit dem Luft-, dann mit dem Jagdgewehr.
       
       Reisinger arbeitet meist mit kurzen Aussagesätzen, Subjekt, Prädikat,
       Objekt. Erst in der Reihung erzeugt sich der Effekt eines mutwillig
       gebrochenen Stream of Consciousness, weil quasi gleichzeitig von drinnen
       und draußen erzählt wird. Der Text trägt zugleich Züge einer Litanei, weil
       bestimmte Sätze und Motive wiederholt und seriellen Verschiebungen
       unterzogen werden.
       
       Beim Lesen stellt sich das Gefühl ein, hier habe sich jemand den Thomas
       Bernhard’schen Rhythmus, aber auch dessen schonungslosen Blick auf den
       Menschen als soziales Wesen als Vorbild genommen: „Die Mutter hat sich zum
       Sterben hingelegt und ist gestorben. Dabei dachte ich, dass ich irgendwann
       meine Mutter töten müsste, weil ich die Kindheit nicht ertragen kann.“
       
       ## Zufriedenheitsvolk Österreich
       
       Jovana Reisinger bringt an dieser Stelle den Namen der großen Gisela Elsner
       ins Spiel. Wer solche Vorbilder hat, hat schon fast alles richtig gemacht.
       
       Trotz seiner formalen Strenge, trotz seines ausgestellten
       Antiauthentizismus legt „Still halten“ die Vermutung nahe, dass reale
       Erfahrungen mit der österreichischen Provinz in ihn eingeflossen sind:
       „Willkommen in Österreich! Hier wird es Ihnen guttun, hier ist es friedlich
       und still, und die Speisen sind deftig und hausgemacht! Das ist ein
       Versprechen. Zufriedenheitsvolk Österreich!“ Schon das Idiom von Jovana
       Reisinger kann einen auf die Idee bringen, dass es da womöglich eine
       Verbindung gibt.
       
       ## Die Wirtstochter
       
       Gleich nach dieser Verbindung zum Österreichischen zu fragen, kaum, dass
       man ihr gegenüber in einer italienischen Bar in der Sonnenallee,
       Berlin-Neukölln, sitzt, ist aber vielleicht doch etwas unsensibel.
       
       Jedenfalls verbittet sich Reisinger, die in München geboren wurde,
       Kurzschlüsse von der Biografie auf die Kunst. Erzählt aber später doch
       dies: Als sie klein war, zog die Familie in ein oberösterreichisches Dorf,
       um das väterliche Erbe, ein Wirtshaus, zu übernehmen, das sich schon seit
       Generationen in der Hand der Familie befand.
       
       Der Vater, der zuvor die Küchen einer großen Fluglinie in München geleitet
       hatte, wollte gutes Essen in die Provinz bringen. Das Projekt scheiterte,
       weil den Einheimischen das Essen zu wenig bodenständig war. Aber auch, weil
       Jovana Reisingers Mutter von den Dörflern als Deutsche angefeindet wurde.
       
       ## Bis zur Selbstzerstörung konform
       
       „Die Heimat vergisst euch nicht!“, ist ein wiederkehrendes Motiv in
       Reisingers Roman. Dass man bis zuletzt nicht so recht weiß, wovon er denn
       nun vor allem handelt, spricht nicht gegen ihn. Offenkundig ist, dass es
       dem Text um gesellschaftlich forcierte Bilder und Behauptungen geht, mit
       denen Frauen bis zur Selbstzerstörung konform gehen sollen, und um das
       daraus folgende, prekäre Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit. (Es gibt
       eine Serie von Sätzen, die immer mit den Worten beginnen: „Als Frau möchte
       man manchmal …“)
       
       Es geht diesem Text aber auch um den Tourismus und das romantische Ideal
       der Natur. Und vielleicht auch um ein spezifisch österreichisches
       Kleinbürgertum.
       
       ## Mein Body ist dein Kapital
       
       „Still halten“ begreift Sprache als Wirklichkeit. Dieser Roman ist schnell,
       grell und brutal wie das Leben. Man kann ihn als Übersetzung eines
       Achtzigerjahre-Horrorfilms in die Literatur lesen, in dem geisterhafte
       Mächte an Körper und Geist einer Frau zerren und ihr Ich deformieren.
       
       Selten wird der Text didaktisch, es sind vielleicht Atavismen: „Sport ist
       Mord. Das ist keine billige Falle. Das ist super Selbstoptimierung. Mein
       Body ist dein Kapital.“ Reisinger hat ihren Text über mehrere Jahre hinweg
       radikalen Revisionen unterzogen, und im Grunde dabei jedes Mal neu
       geschrieben, erzählt sie. Das erklärt seine Kraft und Eindringlichkeit.
       
       ## Die Mutter und die Welt
       
       Nur Sätze, die den Gesamttext idealtypisch in nuce verkörperten, wurden
       beim Überarbeiten übernommen. Manche dieser Sätze enthalten ganze
       Geschichten: „Die Mutter hat mich auf eine Welt vorbereitet, die es so
       nicht mehr gibt, das kann ich ihr nicht verzeihen.“ Das ist ein starker und
       wahrer Satz. Die Wahrheit halten die Menschen nicht immer aus. Für diesen
       Satz wurde Reisinger schon einmal hart angegangen, erzählt sie, von einer
       Frau, die vom Alter her ihre Mutter hätte sein können.
       
       Nach dem Gespräch werden vor der Tür Fotos gemacht. Die Passanten kommen
       ampelphasenbedingt in Schüben, halten aber an, um nicht durchs Bild zu
       laufen. Wie gut trainiert die sind! Wenn der Fotograf das Signal gibt,
       gehen sie weiter. Im Vorübergehen sagt eine Frau, die ihre Einkäufe nach
       Hause zieht: „Schönes Kleid.“ Das klingt ausgedacht? So war es, fragen Sie
       den Fotografen Wolfgang Borrs.
       
       29 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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