# taz.de -- Migration nach Lampedusa: Transit vor Europa
       
       > In Tunesien sammeln sich tausende Geflüchtete. Sie wollen weiter nach
       > Lampedusa. Der Staat hat die Situation alles andere als unter Kontrolle.
       
 (IMG) Bild: Ein Boot der italienischen Küstenwache im Hafen von Lampedusa am 18. September 2023
       
       SFAX UND EL AMRA taz | Sabr Hamedi steht in den verwaisten Gassen von
       Afara, einem Stadtteil der tunesischen Hafenstadt Sfax, und wirkt
       zufrieden. „Gut dass sie weg sind“, sagt er. Vor zwei Wochen hatten
       Migrant:innen den weitläufigen Stadtteil noch in einen quirligen Markt
       verwandelt. Nun erinnern nur noch einige am Boden liegende bunte Stoffe an
       das Getümmel. Polizeieinheiten der Sondereinheit „BIS“ hatten in der
       vergangenen Woche die letzten hier noch lebenden Migrant:innen nachts
       aus ihren Häusern geholt und außerhalb der Stadt ausgesetzt.
       
       Angesichts der wachsenden Wirtschaftskrise und einem Vorfall im Februar
       kippte die Stimmung gegen Migrant:innen in den vergangenen Monaten.
       Seither werden sie [1][systematisch aus der Stadt vertrieben] und sammeln
       sich in kleineren Küstenorten außerhalb der Stadt. Für die Migrant:innen
       ist Tunesien nur ein Zwischenstopp, sie wollen weiter nach Lampedusa.
       
       Die Mehrheit der dort ankommenden Boote legen von den Küsten nördlich von
       Sfax ab. Am Sonntag vor einer Woche kamen an einem einzigen Tag 5.000
       Migrant:innen [2][in Italien] an. In Brüssel und Rom führen diese stark
       steigenden Zahlen zu Unmut. Mit dem im Juli unterzeichnetem Abkommen mit
       Tunesiens Präsident Kais Saied hatte man Finanzhilfen von über einer
       Milliarde Euro im Gegenzug zu einem verstärkten Vorgehen der tunesischen
       Sicherheitskräfte gegen die Schmuggler in Aussicht gestellt.
       
       [3][Ursula von der Leyen], die Präsidentin der Europäischen Kommission,
       reiste am vergangenen Sonntag mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia
       Meloni nach Lampedusa, um sich ein Bild von der Lage auf der Insel zu
       machen. Die beiden kündigten einen 10-Punkte-Plan an, mit dem der zunehmend
       umstrittene „Migrationspakt“, der im Juli mit Tunesien unterzeichnet wurde,
       gerettet werden soll. Zu den neuen Maßnahmen gehört die Aufstockung der
       Gelder an die Behörden, die „an der Bekämpfung der irregulären Migration
       nach Europa“ beteiligt sind. In Sfax ist von einer Verbesserung der Lage
       noch nichts zu spüren.
       
       Afara wurde in den letzten zwei Jahren zum Ziel der nach Europa reisenden
       Migrant:innen aus West- und Zentralafrika. Sabr Hamedi und seine Freunde
       sind froh, dass die Geflüchteten jetzt weg sind. Gleichzeitig sind sie auch
       ein wenig wehmütig. Denn mit ihrer Abreise ist auch eine Geldquelle
       verloren gegangen. 20.000 Menschen kamen über Algerien oder Libyen hierhin,
       schätzt Hamedi, der an der Universität von Sfax als Ingenieur lehrt. Als
       Tagelöhner auf Olivenhainen und kleineren Betrieben außerhalb von Sfax
       verdienen sie das nötige Geld, um die Überfahrt von einem der nahegelegenen
       Fischerdörfer nach Lampedusa zu finanzieren. Zudem profitierten die
       Einheimischen mit dem Vermieten von Wohnungen und Läden. Es war eine
       Win-Win-Situation, doch im Februar eskalierte die Lage mit einem
       vermeintlichen Mord.
       
       Ein paar Straßen weiter war damals ein aus Afara stammender Vermieter unter
       bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. „Es gab angeblich
       Streit mit Migrant:innen aus der Elfenbeinküste, die nicht wie
       abgesprochen zu viert, sondern mit doppelt so vielen Menschen eingezogen
       waren“, erinnert sich Hamedi. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die
       Wut über die seit Beginn des Ukraine-Krieges rasant gestiegenen Preise, die
       wachsende Zahl neu eintreffender „Afrikaner“ und der Mord hätten zu ersten
       Straßenprotesten der Anwohner geführt, sagen die Nachbarn von Sabr Hamedi.
       
       Ihren Höhepunkt erreichte die Hetze mit einer Rede des [4][tunesischen
       Präsidenten Kais Saied] eine Woche nach dem Mord. Dieser hatte angesichts
       der Wirtschaftskrise an Popularität verloren und nutzte den Moment, um sein
       Image zu polieren. Öffentlich bezeichnete er die meist ohne gültige
       Aufenthaltsgenehmigung in Tunesien lebenden Migrant:innen als
       „Verschwörung gegen die arabische und islamische Identität“ Tunesiens.
       Stunden später rollte eine Welle der Gewalt durch Tunis und die 280
       Kilometer südlich gelegene Industrie-und Handelsstadt Sfax. „Wir Anwohner
       beschlossen spontan, sie gemeinsam auf den Beb Jebli-Platz im Stadtzentrum
       zu treiben“, sagt ein Bewohner aus Afara.
       
       Mitte September ist die riesige Rasenfläche des Beb Jebli-Platzes
       menschenleer. Vergangene Woche schliefen auf dem Kreisel jede Nacht noch
       hunderte Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Jetzt
       stehen hier nur Polizisten im Schatten der Straßenbäume und beobachten
       stumm des Geschehen. Das Geschäft mit den aus Algerien und aus Libyen
       eintreffenden Migranten wird wieder heimlich betrieben.
       
       Fast stündlich kommen Flüchtlinge aus dem [5][Sudan] und [6][Äthiopien] in
       Sammeltaxis am Beb Jebli an. Bis vor Kurzem vernetzten Mittelsmänner die
       Ankommenden nach wenigen Minuten mit Schmugglern und anderen Migrant:innen,
       die entlang der 50 Kilometer langen Küste nach Lampedusa fahren wollten.
       „Nun verlassen sie umgehend die Stadt oder verstecken sich“, sagt der
       Taxifahrer Osama. Seitdem die schwarz gekleideten Polizeieinheiten im
       Einsatz sind, muss auch er vorsichtig sein. Taxifahrern ist das Mitnehmen
       von Migrant:innen verboten.
       
       „Aber ich kenne die Schleichwege und drücke einigen Leuten ein wenig Geld
       in die Hand“, lacht er. Die umgerechnet 30 Euro, die ihm Migrant:innen
       für die 30 Kilometer von Ben Jebli nach El Amra zahlen, verdient der
       35-Jährige sonst in zwei Tagen. Dass Sfax nun migrantenfrei ist, haben ein
       paar Nationalisten am Wochenende mit einer kleinen Demonstration gefeiert.
       „Aber für viele von uns war Migration die einzige wirklich lukrative
       Einnahmequelle, wir sehen mit Sorgen in die Zukunft.“, sagt ein anderer
       Taxifahrer.
       
       Um die ehemals in Sfax lebenden Menschen zu treffen, folgt man einfach den
       vielen Menschen, die am Straßenrand mit Rucksäcken und Wasserflaschen
       bepackt gen Norden gehen. Weil die Einsatzkommandos der Polizei nach
       Sonnenuntergang alle nicht Einheimischen einsammeln und am Stadtrand
       aussetzen, machen sich seit letztem Montag auch diejenigen auf den Weg, die
       bisher noch in Sfax ausgeharrt hatten. Ihr Ziel ist das Fischerdorf El
       Amra.
       
       Die Landstraße dorthin führt an Olivenfeldern und Fabriken vorbei. Hunderte
       Migrant:innen sind heute unterwegs. Am Straßenrand stehen vereinzelt
       junge Männer aus Westafrika, die sich dort das Geld für die Überfahrt nach
       Lampedusa verdienen. „Die 1.000 Dinar (umgerechnet 320 Euro), habe ich in
       zwei Wochen zusammen“, sagt der Nigerianer Jonathan und geht zurück in den
       Schatten eines Olivenbaumes. Zwei Männer aus der Elfenbeinküste gehen trotz
       der stechenden Sonne weiter, sie zeigen Vorbeifahrenden, dass ihre
       Plastikflaschen mit Wasser leer sind.
       
       „Ich habe kein Geld in der Tasche,“ sagt Issouf, seinen echten Nachnamen
       will er nicht nennen. Am Vortag hatte eine tunesische Marine-Patrouille ihr
       Boot mit 30 anderen Migranten vor Sfax aufgebracht. „Sie brachten uns in
       den Hafen von Sfax und sagten, wir sollen wegen des auffrischenden Windes
       ein paar Tage warten, bis wir es wieder probieren.“ Nun schlagen sich die
       beiden bis nach El Amra durch und arbeiten tageweise bei Bauern.
       „Spätestens in zwei Wochen probieren wir wieder, mit dem Boot nach
       Lampedusa zu gelangen“, sagt Issouf.
       
       Wenige Minuten in einem Café der kleinen Gemeinde El Ghroub, direkt am
       Stadtrand von Sfax, reichen, um zu verstehen, wie sich alle Akteure an die
       neue Lage anpassen. Statt in Sfax tümmeln sich die Migrant:innen jetzt
       hier. „Vor Kurzem hatte ich ein paar schlecht gelaunte Kunden am Tag und
       wollte dicht machen“, lacht der Besitzer Yassin. Auch er bittet, seinen
       Nachnamen und den Namen des Cafés nicht zu veröffentlichen. Ansonsten
       spricht er inmitten von mindestens 80 Gästen ganz offen über die
       Geschehnisse der letzten Tage.
       
       Ein sudanesischer Mittelsmann wäre zusammen mit einem Fischer aus dem Dorf
       aufgetaucht und habe nach Häusern gesucht. Wegen der günstigen Mieten und
       der Nähe zu dem Fischerhafen Sidi Mansour hatten sie den Ort als neuen
       Logistik-Hub für die sudanesischen Flüchtlinge ausgewählt. Die jungen
       Sudanesen sitzen in Yassins Cafe und spielen Karten. Als wir mit einigen
       ins Gespräch kommen wollen, legt ein in der Ecke sitzender Mann den
       Zeigefinger auf seine Lippen. Niemand traut sich, mit einem Journalisten zu
       sprechen.
       
       Im Minutentakt fahren junge Tunesier vor und handeln mit kleinen Gruppen
       von Gästen die Preise für die Überfahrt nach Lampedusa aus. Ein Lieferwagen
       aus Sfax bringt Matratzen und neue Ware für den Supermarkt. „Zuerst waren
       einige meiner Nachbarn sauer, dass hier plötzliche mehrere Hundert
       Sudanesen leben“, berichtet Yassin und zuckt mit den Schultern. „Ich habe
       sie daran erinnert, dass wir alle noch vor einem Jahr kaum Geld zum Essen
       hatten und es nun allen im Dorf wirtschaftlich gut geht.“ Ein Polizeijeep
       mit Beamten in Zivil fährt im Schritttempo vorbei. „Sie wissen Bescheid,
       was hier vor sich geht, aber sorgen nur dafür, dass alles friedlich
       bleibt“, sagt Yassin.
       
       Auch das selbst in Sfax bisher kaum bekannte Dorf El Amra erlebt durch die
       wachsende Zahl an Migrant:innen einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom.
       In den Cafés sitzen die Migranten neben furchteinflößend dreinschauenden
       Fischern. „Ist doch klar, warum die Behörden jetzt alle hier zu uns
       bringen“, sagt Mohamad, der „Frikasse“- Brötchen in eine Fritteuse wirft.
       „Der Staat ist doch in Wirklichkeit gar nicht in der Lage das Phänomen der
       Migration zu begrenzen, so wie man es den Europäern versprochen hat. Daher
       hat man das Geschehen einfach in die entlegenen Dörfer verlagert. Aber
       glauben Sie mir, alle, die Sie hier sehen, sind spätestens im Oktober auf
       Lampedusa.“
       
       In Sfax feiern die Medien derweil den Erfolg der Intervention aus Tunis.
       „Sfax ist wieder sauber“, sagt ein Moderator des Radiosenders [7][Diwan
       FM.] In der nächsten Woche will die Stadtverwaltung von Sfax damit
       beginnen, die Bürgersteige und Straßen zu renovieren und für die Ankunft
       der Touristen vorzubereiten. Viele Einheimische glauben, dass
       Migrant:innen wieder in die Stadt kommen, sobald die Sondereinheiten der
       Polizei weg sind. Und die Migration nach Lampedusa geht weiter.
       
       21 Sep 2023
       
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