# taz.de -- Neuer Roman von Daniel Kehlmann: Mensch ohne Moral
       
       > Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ porträtiert den Regisseur Georg Wilhelm
       > Pabst. Der Roman will eine Parabel über das Künstlertum in der Nazizeit
       > sein.
       
 (IMG) Bild: Schauspielerin Brigitte Helm und Regisseur Pabst im Jahr 1932
       
       Der Roman beginnt mit der Geschichte eines Niedergangs. Der 1895 im
       damaligen Böhmen geborene Georg Wilhelm Pabst, Regisseur legendärer
       Stummfilme wie „Die freudlose Gasse“ oder „Die Büchse der Pandora“, jener
       Schöpfer sozialkritischer Tonfilme, der auch Bertolt Brechts
       „Dreigroschenoper“ fürs Kino eingerichtet hat, befindet sich seit Mitte der
       1930er Jahre in einer künstlerischen und persönlichen Krise. Er hatte
       gehofft, in Hollywood zu reüssieren, doch dann drehte er mit „A Modern
       Hero“ einen Film, der sowohl beim Publikum als auch in der Kritik
       durchfiel.
       
       [1][Daniel Kehlmann] beschreibt in seinem literarischen Biopic „Lichtspiel“
       ausführlich, wie Papst nach dem Flop versuchte, renommierte
       Schauspielerinnen fürs nächste Projekt zu gewinnen: Er quält sich auf der
       Partybühne, leidet am Smalltalk unter Palmen. Ihm, dem Meister der
       schwarz-weißen Leinwandkunst, kommt es vor, „als wäre er in ein koloriertes
       Foto geraten“. Ständig nennt ihn jemand den „größten Regisseur Europas“, um
       dann von seinen Meisterwerken wie „Metropolis“ zu sprechen, die er aber
       alle nicht gedreht hat.
       
       Ein Running Gag in Kehlmanns Roman, der wohl zeigen soll, dass es mit Fritz
       Lang, [2][Friedrich Murnau] und Ernst Lubitsch weitaus einflussreichere
       Regisseure dieser Generation gab, dass Pabst nach den Erfolgen in der
       Stummfilmzeit mit der Dialogregie eher Schwierigkeiten hatte und kaum noch
       Werke von Weltrang schuf. Tatsächlich schlägt er sich in Hollywood mit
       schlechten Drehbüchern, mittelmäßigen Mitarbeitern und übergriffigen
       Produzenten herum.
       
       Auch das Propagandaministerium in Berlin weiß von der misslichen Lage des
       Regisseurs und schickt einen Vertreter nach Übersee, um Pabst zur Rückkehr
       zu bewegen: „Deutschland braucht Sie. Unsere Regierung ist pragmatischer,
       als man oft vermutet. Sie sind ein großer Künstler. Und Sie sind kein Jude.
       Und Sie haben sich schon zuvor … Verzeihen Sie, Maestro, aber ich spreche
       es jetzt einfach aus. Sie haben sich auch in Ihrer bisherigen Arbeit nicht
       als völlig kompromisslos gezeigt.“
       
       Pabst wäre wohl trotz seiner Abneigung gegenüber Hollywood in den
       Vereinigten Staaten geblieben, wenn seine schwerkranke Mutter in der Heimat
       nicht um Hilfe gebeten hätte. Also reist der Filmemacher mit seiner Familie
       zurück nach Österreich, bekommt es dort mit einem dienstbeflissenen
       Ortsgruppenführer und mit dem nun nicht mehr ganz so devoten
       Goebbels-Abgesandten zu tun.
       
       Krise als Grundmodus 
       
       Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Nazis überfallen ein Land nach dem
       anderen und eine Rückkehr ins amerikanische Exil scheint nicht mehr
       möglich. Was tun? Der Mann, der einst der „rote Pabst“ genannt wurde,
       möchte seine künstlerische Mission, „Magie aufs Zelluloid zu bannen“, auch
       unter widrigsten Bedingungen nicht aufgeben. Also wird er sich mit Goebbels
       arrangieren. Die Krise sei ohnehin der Grundmodus seiner Profession: „Wenn
       man einen Film macht, ist man immer in einer Notlage. Das ist der
       Normalzustand.“
       
       Wirklich überraschend sind diese Wendepunkte nicht. Die Biografie des
       strauchelnden Helden ist weitgehend bekannt. Pabst wird im NS-Reich zwar
       teure, aber angesichts seiner Fähigkeiten eher mediokre Werke abliefern.
       „Komödiantinnen“ und „Paracelsus“ sind Filme mit verklärten Hauptfiguren
       aus der deutschen Geschichte, die sich in den Propagandazusammenhang
       einfügen. Pabst blendet die politischen Verhältnisse zunehmend aus und
       genießt den zweifelhaften Ruhm im Deutschen Reich.
       
       Seine Expertise wird selbst für andere Prestigeprojekte angefragt: Er soll
       [3][Leni Riefenstahls] Spielfilm „Tiefland“ retten, aber die ist weder als
       Hauptdarstellerin noch als Regisseurin bereit, einen Rat anzunehmen. Zigmal
       werden dieselben Szenen gedreht, doch Riefenstahl erweist sich nicht nur
       als arrogant, sondern auch als unfähig, ihr Spiel vor der Kamera zu
       variieren. Pabst mag – jedenfalls in Kehlmanns biografischer Fiktion – kaum
       glauben, was er mit ihr erlebt: „Und sie sprach alles exakt wie zuvor,
       keine Silbe war anders, kein Atemzug, keine Bewegung, vom Anfang der Szene
       bis zum Ende.“
       
       Leni Riefenstahl wurde von ihren zahlreichen Verehrern in der
       Nachkriegszeit oft als „künstlerisches Genie“ und „politischer Trottel“
       beschrieben. In „Lichtspiel“ entwirft Kehlmann ein anderes Bild, indem er
       nicht nur Riefenstahls mangelnde Fähigkeiten am Set schildert, sondern auch
       das Leiden ihrer Komparsen aus Konzentrationslagern erwähnt.
       
       Riefenstahl hat eine wissentliche Zwangsrekrutierung der todgeweihten Roma
       und Sinti für „Tiefland“ nach dem Krieg zwar stets abgestritten, aber in
       Kehlmanns Roman sind die Verstrickungen der Hitler-Freundin ziemlich
       offensichtlich. Hier ist Riefenstahl eine bösartige Witzfigur, und diese
       ziemlich eindeutige Charakterisierung verleiht dem ansonsten doch sehr
       glatten Text eine wohltuend widerborstige Haltung. Zumal Kehlmann andeutet,
       dass wohl auch Pabst bereit war, über Leichen zu gehen. Jedenfalls kümmert
       er sich nicht um das Schicksal seiner eigenen Statisten.
       
       Namenlose vor der Kamera 
       
       Mit „Der Fall Molander“ verfilmt der Regisseur die Geschichte eines
       Nachwuchsgeigers, der aus Geldnot seine Stradivari veräußert. Pabst beginnt
       im August 1944 in Prag zu drehen. Für die Szenen im Konzertsaal braucht er
       viele Statisten. Ein junger Mitarbeiter meint, seinen ehemaligen,
       mittlerweile ausgemergelten Kinderarzt in den anonymen Reihen zu erkennen.
       Ob die Namenlosen vor der Kamera aus Lagern herbeigeschafft worden sind,
       wird nicht geklärt. Fest steht: Auch Pabst ist längst ein Mensch ohne
       Moral. Weder das Schicksal seines inzwischen zum Hitlerjungen mutierten
       Sohnes noch die Ehe mit Gertrude liegen ihm am Herzen: „Trude stand auf.
       Sie küssten einander. Wie gut, dachte er, dass auch der nächste Mensch
       nicht sehen konnte, was in einem vorging.“
       
       Natürlich ahnt Trude etwas. Sie bleibt bei dem Gatten, weil sie keine
       andere Wahl hat. Nach 1945 wird sie sich aber am ignoranten Gemahl rächen
       und ihn mit selbstbewusster Gefühllosigkeit herumkommandieren. Doch während
       der NS-Zeit verleugnet sie nicht nur eigene Ambitionen, sondern vor allem
       ihre politische Haltung. In einem irren Lesekreis gelangweilter Damen aus
       höchsten NS-Kreisen soll sie über faschistische Kitschliteratur sprechen.
       Am liebsten würde sie die Bücher von Alfred Karrasch in die Tonne treten,
       aber das wäre lebensgefährlich, nicht zuletzt auch für ihren Mann: „Trude
       räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Ja, was sollte man sagen? Das Buch war
       so uninteressant, dass es nicht einmal schlecht war. […] die Sprache hatte
       keine Kraft, die Figuren hatten kein Leben, niemand sagte je etwas
       Interessantes.“
       
       Die Beschreibung der bedrückenden Leserunde, die sich an abstoßender Prosa
       euphorisiert, gehört gewiss zu den Höhepunkten des Romans, der sich
       allerdings zu einer Nummernrevue entwickelt. Es fehlt sowohl eine
       inhaltliche als auch eine ästhetische Idee, die die Einzelszenen verbinden
       und zu einer Erkenntnis jenseits von Plattitüden führen könnte.
       
       In dem Roman steckt viel Recherche, und leider merkt man das an nicht
       wenigen Stellen. Manche Zitate, die Pabst zugeschrieben werden, lassen sich
       wortwörtlich im Online-Lexikon nachlesen. Auch der Versuch, sich in der
       Prosa cineastischer Schnitttechniken zu bedienen, ist im Porträt eines
       Filmregisseurs nicht gerade originell. Die abrupten Achsensprünge, von
       denen Pabst schwärmt, wirken im Roman allerdings unproduktiv. Kehlmann
       wechselt ständig die Perspektive, doch es vermag partout keine Komplexität
       entstehen. Mal ist die Erzählstimme ganz bei Pabst, dann wieder bei einer
       vermeintlichen Nebenfigur, meistens wird personal erzählt, zwischendrin
       auch auktorial.
       
       Redundante Szenen 
       
       Die Charaktere erhalten keine psychologische Tiefe; die Prosa in den
       Einzelszenen bleibt oft behäbig und redundant. Immer wieder darf Pabst sein
       Sprüchlein von der Notlage als Normalzustand aufsagen, das zur
       Rechtfertigung für alles und nichts wird. Doch in der Wiederholung entsteht
       kein zwingendes Leitmotiv.
       
       Der Roman möchte viel zu viel sein: nicht nur ein Lehrstück über die
       Unfreiheit der Kunst in einer Diktatur, sondern auch ein
       historisch-kritischer Essay über die Ästhetik und Ökonomie der frühen
       Kinojahre. „Lichtspiel“ ist in manchen Passagen ein Familienroman, dann
       wieder Gesellschaftsparodie. Die Rekonstruktion der Filmstoffe, die gewiss
       redliche Würdigung der vielen Stars der damaligen Zeit, von Greta Garbo bis
       Louise Brooks, die Ausführungen zur Drehtechnik und Schauspielführung sind
       eher als Archivarbeit und weniger als literarische Kunst einzuordnen. Aus
       der Detailfülle entsteht noch keine gelungene Dramaturgie. Aus gelungenen
       Einzelszenen noch kein überzeugender Roman.
       
       10 Oct 2023
       
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