# taz.de -- Politologe über EU und Balkanstaaten: „Skeptisch, ob es Fortschritt gibt“
       
       > Vor dem EU-Gipfel fordert der nordmazedonische Politologe Zoran Nechev
       > von der EU Glaubwürdigkeit gegenüber dem Balkan – auch um der Ukraine
       > willen.
       
 (IMG) Bild: Protest von Anhängern der Opposition gegen die Regierung in Nordmazedonien am 18.06.2022
       
       taz: Herr Nechev, beim EU-Gipfel diese Woche schaut die Welt nicht nur auf
       die Ukraine, sondern endlich auch auf Nordmazedonien und Albanien. Seit 17
       Jahren hängt Nordmazedonien im EU-Beitrittskandidatenstatus fest, zuletzt
       durch das Veto Bulgariens. Was erwarten Sie vom Gipfel? 
       
       Zoran Nechev: Ich bin sehr skeptisch, ob es am Donnerstag einen Fortschritt
       gibt. Frankreich hat einen Vorschlag für den Verhandlungsrahmen mit der EU
       auf den Tisch gelegt. Für uns stellt sich die Frage, ob wir den
       Beitrittsprozess unter diesen Bedingungen wollen.
       
       Was ist an dem Vorschlag problematisch? 
       
       So ziemlich alle [1][Forderungen Sofias] sind Teil davon: So will
       Bulgarien, dass Skopje anerkennt, dass die mazedonische Sprache ihren
       Ursprung im Bulgarischen hat, sowie die Anerkennung der bulgarischen
       Minderheit in der Verfassung. Die Beilegung dieser eigentlich bilateralen
       Konflikte wurde nun in das Hauptkapitel der EU-Integration verlegt – der
       gesamte Beitrittsprozess fußt darauf. Ist also Sofia nicht zufrieden mit
       unseren Maßnahmen, wird es weiterhin blockieren.
       
       Dabei hat Nordmazedonien längst alle geforderten Reformen durchgeführt, bis
       hin zur Änderung des eigenen Namens von „Mazedonien“ zu „Nordmazedonien“.
       Griechenland hatte das Land deshalb jahrelang blockiert. Was denken die
       Nordmazedonier*innen heute über den Beitritt? 
       
       Die Menschen haben die Nase voll – und auch wir, die schon so lange an
       diesem Prozess mit der EU beteiligt sind. Wir haben so viel gegeben, nur um
       die Verhandlungen überhaupt erst zu starten, geschweige denn sie zu
       beenden. Die Menschen fragen sich: Welche Forderung kommt als nächstes? In
       dieser Atmosphäre ist es schwierig, in Skopje zu einer Lösung zu kommen.
       
       Auch die rechte Opposition ist nicht zu weiteren Zugeständnissen an die EU
       und Sofia bereit. Vergangene Woche forderten Anhänger*innen der größten
       Oppositionspartei VMRO-DPMNE in Skopje Neuwahlen. 
       
       Dass VMRO-DPMNE jede Art von Verfassungsänderung, um die bulgarischen
       Forderungen umzusetzen, nicht unterstützen würden, ist lange klar. Die
       Regierung hat nur eine dünne Mehrheit im Parlament. Um die Verfassung zu
       ändern, braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Es fehlt auch an Transparenz,
       die Details des Verhandlungsrahmens werden nicht wirklich im Parlament
       diskutiert, auch nicht in der Öffentlichkeit. Kaum jemand weiß, was Skopje
       da am Ende akzeptiert oder nicht.
       
       Zudem verheißt die aktuelle [2][Regierungskrise in Bulgarien] nichts Gutes
       für den Dialog mit Skopje. Ein Koalitionspartner verließ im Streit um
       Nordmazedonien die Regierung. Wie blickt man von Nordmazedonien aus auf
       diesen Konflikt?
       
       Sämtliche Medien berichten drüber. Denn offensichtlich wird unser Schicksal
       ja in Sofia bestimmt, nicht in Skopje. Und immer wenn in Sofia eine
       Entscheidung in der Causa Nordmazedonien ansteht, gibt es dort eine
       Regierungskrise. Auch deswegen droht dort in kürzester Zeit die vierte
       Wahl.
       
       Petkov, der erst seit einem halben Jahr Regierungschef ist, wollte den
       Dialog mit Skopje vorantreiben. Gab es tatsächlich Fortschritte? 
       
       Es gab Versuche. Allerdings kam Petkov an die Macht, als es das Veto der
       Vorgängerregierung bereits gab. Er musste irgendwie damit umgehen. So
       wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, die über Transport- oder
       Wirtschaftsfragen verhandelt haben, um Vertrauen herzustellen. Die
       eigentlichen Probleme (Fragen der Kultur, Sprache und Identität, Anm. d.
       Red.) wurden nicht angesprochen. Deshalb stehen wir jetzt vor denselben
       Problemen wie zuvor.
       
       Wie wird Skopje reagieren, sollte die Ukraine beim EU-Gipfel den Status als
       Beitrittskandidat erhalten? 
       
       Offiziell unterstützen die Regierungen von Albanien, Nordmazedonien und
       Montenegro die EU-Bewerbung der Ukraine – genauso wie die Öffentlichkeit.
       Heimlich denken sich aber viele auf dem Westbalkan: Okay, ihr könnt den
       Status als Beitrittskandidat haben, aber schaut euch die Sackgasse an, in
       der wir uns seit Jahren befinden. Euch wird es nicht anders ergehen.
       Montenegro verhandelt schon seit zehn Jahren und hat noch nicht einmal die
       Hälfte geschafft. Wenn die EU glaubwürdig sein will, muss sie zuerst
       glaubwürdig gegenüber dem Balkan sein.
       
       Was muss sich [3][am Erweiterungsprozess ändern], damit er glaubwürdiger
       wird? 
       
       Das [4][Prinzip der Einstimmigkeit] muss weg. Denn aktuell kann ein Land
       den Beitrittsprozess missbrauchen, um eigene Interessen durchzudrücken –
       wie im Fall Bulgariens. Wir brauchen daher das Prinzip der qualifizierten
       Mehrheit. Denn eigentlich sollte es um demokratische Standards gehen, um
       wirtschaftliche Annäherung und darum, diese Länder „europäischer“ zu
       machen. Aber am Ende geht es jetzt darum: Ist dein Nachbar damit
       einverstanden, wie du deine Geschichtsschreibung geändert hast? So ein
       [5][Prozess ist nicht glaubwürdig] und so kann man von den
       Kandidatenstaaten auch keine Ergebnisse erwarten.
       
       Und der Anreiz für echte Reformen scheint gering. 
       
       Nun ja, die Reformen bringen ja in erster Linie unser Land weiter. Aber sie
       verlangen viel Mühe, Energie und politischen Willen. Gerade wenn sich
       Politiker auf dem Balkan an Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Korruption
       rantrauen, kann es zu ihrem Nachteil werden. Wenn sie sich nicht sicher
       sein können, dass sie die EU dafür belohnt, wird es schwieriger, sie zu
       solch heiklen Reformen zu bewegen.
       
       Was kann die Ukraine von den Erfahrungen Nordmazedoniens mit der EU lernen? 
       
       Wie komplex der Prozess ist, und dass es wirklich schwierig ist, mit den
       Befindlichkeiten aller Mitgliedsstaaten umzugehen. Andererseits kann sich
       die Ukraine, sollte sie den Kandidatenstatus erhalten, auf EU-Gelder
       freuen, auf Unterstützung bei Reformen. All diese Dinge werden nach dem
       Krieg für das Land sehr wichtig sein. Aber das Wichtigste ist wohl: Habt
       keine falschen Erwartungen. Ich kann absolut nachvollziehen, dass man den
       Kandidatenstatus haben möchte. Aber letztlich hat sich gezeigt, dass der
       nicht viel aussagt. Er ist vor allem eine politische Botschaft. Daher würde
       ich den Ukrainern eine praktische Herangehensweise raten: Konzentriert euch
       auf die Aspekte und Reformen, die der eigenen Bevölkerung nutzen.
       
       Auch Albanien hat alle Anforderungen der EU erfüllt, kann aber mit den
       Beitrittsgesprächen nicht starten, weil diese nur zusammen mit
       Nordmazedonien beginnen können. Gibt es Austausch zwischen den Ländern?
       
       Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es unzählige Netzwerke,
       Organisationen und Think Tanks, über deren Austausch ich sehr glücklich
       bin. Dasselbe geschieht auf politischer Ebene: Minister und Regierungschefs
       der Westbalkan-Länder treffen sich regelmäßig.
       
       Gibt es von albanischer Seite Druck auf Skopje, bei den bulgarischen
       Forderungen nachzugeben, damit auch Tirana endlich mit den
       Beitrittsgesprächen beginnen kann? 
       
       Nein, es herrscht Verständnis für diese komplexe Situation vor. Letztlich
       muss sich die EU überlegen, ob sie an der Variante festhalten will, nur mit
       beiden Ländern zusammen Gespräche führen zu wollen, oder ob man Albanien
       und Nordmazedonien entkoppelt. Ähnliche Überlegungen gab es schon nach der
       Namensänderung, als Nordmazedonien wegen der stockenden albanischen
       Reformen festhing. Jetzt ist es anders herum.
       
       23 Jun 2022
       
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 (DIR) [1] https://www.sueddeutsche.de/politik/bulgarien-nordmazedonien-eu-1.5602882
 (DIR) [2] /Gescheiterte-Koalition-in-Bulgarien/!5856969
 (DIR) [3] https://europesfutures.eu/static/uploads/what-is-to-be-done.pdf
 (DIR) [4] https://www.consilium.europa.eu/de/council-eu/voting-system/unanimity/
 (DIR) [5] /Nordmazedonien-und-Bulgarien/!5826037
       
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