# taz.de -- Türkische Diplomatie im Ukrainekrieg: Vom Paria zum Staatsvermittler
       
       > Bis vor Kurzem war der türkische Präsident Erdoğan noch international
       > isoliert. Nun könnte er eine Schlüsselrolle bei einem Friedensschluss
       > spielen.
       
 (IMG) Bild: Er ist wieder da: Recep Tayyip Erdoğan, diesmal als Diplomat der Herzen
       
       Wenn man die Bilder des Nato-Sondergipfels vor einer Woche in Brüssel und
       die Bilder vom den russisch-ukrainischen Friedenverhandlungen in Istanbul
       betrachtet, muss man den Eindruck bekommen, Recep Tayyip Erdoğan, noch vor
       kurzer Zeit ein Paria auf dem internationalen Parkett, feiere ein
       glorreiches Comeback. Jeder will mit ihm reden, viele klopfen ihm auf die
       Schulter und hoffen, er könnte der entscheidende Vermittler bei einem
       Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine werden. Das zeichnete
       sich schon vor dem Nato-Gipfel ab, als sich innerhalb weniger Tage
       Bundeskanzler Scholz, der israelische Präsident Herzog und der griechische
       Ministerpräsident Mitsotakis [1][in Ankara sich die Klinke in die Hand
       gaben].
       
       Außenpolitisch, so viel scheint sicher, ist der türkische Autokrat wieder
       zurück. Kein anderer Nato-Politiker hat vom russischen Überfall auf die
       Ukraine so profitiert wie Erdoğan, weil er es geschafft hat, sich beiden
       Seiten als glaubwürdiger Vermittler darzustellen.
       
       Von Beginn des Krieges an hat Erdoğan betont, ein gutes Verhältnis zu
       beiden Seiten aufrechterhalten zu wollen. Folglich verurteilte er zwar den
       Angriff auf die Ukraine gemeinsam mit den anderen Nato-Staaten, schloss
       eine Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland aber aus. Die türkische
       Regierung setzt alle anderen Kooperationen mit Russland fort: angefangen
       mit dem Weiterbau eines AKW durch einen russischen Staatskonzern bis zu den
       Flügen von Turkish Airlines in russische Städte und dem Handel mit Russland
       in der Landwirtschaft.
       
       Dennoch kritisiert die ukrainische Regierung Erdoğan nicht – was damit
       zusammenhängt, dass die Türkei schon seit Jahren Waffen an die Ukraine
       verkauft. Die türkischen Kampfdrohnen Bayraktar T-B2 besitzen in den
       sozialen Medien der Ukraine mittlerweile Kultstatus. Die Türkei ist wie
       Russland und die Ukraine ein Anrainerstaat des Schwarzen Meeres, weshalb
       Erdoğans Vermittlungsbemühungen schon aus ureigenem Interesse sowohl für
       Russland wie für die Ukraine glaubwürdig sind.
       
       ## Nach Jahren der Repression und Aggression
       
       Dennoch ist die Vorstellung von Erdoğan als Friedenvermittler
       atemberaubend, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Abgründen der
       türkische Präsident auftaucht. Seit dem niedergeschlagenen Putschversuch im
       Sommer 2016 war Erdoğans Politik gekennzeichnet durch Repression nach innen
       und Aggression nach außen.
       
       Den Putschversuch nutzte er, um Abertausende Kritiker ins Gefängnis zu
       bringen oder außer Landes zu treiben – und um anschließend sein
       autokratisches Präsidialsystem zu implementieren. Nach außen setzte er
       militärische Gewalt in einem in der jüngeren türkischen Geschichte nie
       gekannten Ausmaß ein.
       
       Der Putschversuch, von dem Erdoğan angeblich völlig überrascht wurde, war
       noch nicht ganz vorbei, da ließ er die türkische Armee bereits das erste
       Mal nach Nordsyrien einmarschieren. Dem folgten zwei weitere
       Gebietseroberungen vom Nordwesten bis ganz nach Nordosten und eine
       Teilbesetzung der letzten Rebellenprovinz Idlib. Er nutzte syrische
       Söldner, um sich im Bürgerkrieg in Libyen einzumischen, und verhalf den
       Truppen Aserbaidschans zu ihrem Sieg gegen Armenien im Kampf um Karabach.
       Selbst gegenüber dem EU-Mitglied und Nato-Partner Griechenland scheute er
       nicht davor, Ansprüche auf Schürfrechte für Öl und Gas im östlichen
       Mittelmeer mit militärischen Drohungen zu unterstreichen. Dennoch gilt er
       jetzt als großer Friedensvermittler. Das muss ihm erst einmal ein anderer
       Politiker nachmachen.
       
       ## Der Krieg relativiert die Lage im eigenen Land
       
       Sein außenpolitisches Comeback bleibt innenpolitisch nicht ohne Wirkung.
       Nach jüngsten Umfragen finden rund 70 Prozent der türkischen Bevölkerung
       Erdoğans Kurs gegenüber dem russischen Angriff auf die Ukraine richtig. Das
       heißt, den Angriff verurteilen ja, der Ukraine Waffen liefern auch, aber
       keine Sanktionen gegen Russland verhängen, um sich alle Optionen
       offenzuhalten. Schon aus historischer Erfahrung will die ganz überwiegende
       Mehrheit der TürkInnen nicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen
       werden, und schon deshalb unterstützen sie jetzt den Kurs des Präsidenten.
       
       Das ist bitter für die Opposition, die sich noch vor wenigen Wochen auf der
       Siegerstraße gesehen hatte. Erdoğans desaströse Wirtschaftspolitik, die
       Korruption und Vetternwirtschaft der regierenden AKP, hatte seine
       Umfragewerte mehr und mehr in den Keller geschickt. Seit den verlorenen
       [2][Wahlen in der Metropole Istanbul im Sommer 2019] war Erdoğan
       offensichtlich angeschlagen.
       
       Doch angesichts der Schockwellen, die der Krieg in Europa wirtschaftlich
       weltweit auslöst, relativieren sich die hohe Inflation und die
       galoppierenden Preise in der Türkei wieder, weil auch woanders die Preise
       drastisch steigen und die Inflation in europäischen Ländern neue
       Höchststände erklimmt. Geschickt lässt er die Mehrwertsteuer für diverse
       Lebensmittel senken, sodass in den kommenden Wochen in der Türkei im
       Vergleich zu anderen Ländern die Preise sogar etwas sinken sollen. Da
       bleibt der Opposition nicht mehr viel Angriffsfläche. Ihr Treffen von sechs
       Oppositionsparteien in dieser Woche, bei dem sie eine gemeinsame
       Plattform für die Präsidenten- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr
       ankündigten, wäre in normalen Zeiten das Topthema im Land gewesen – jetzt
       blieb es eine Randnotiz.
       
       ## Der Eindruck: Der Präsident hat's im Griff
       
       Schon einmal hat ein außerordentliches Ereignis Erdoğan vor dem völligen
       Absturz gerettet: die Pandemie. Nach dem Sieg der Opposition bei den
       Kommunalwahlen 2019 und einer damit einhergehenden sich dramatisch
       verschlechternden wirtschaftlichen Situation im Land kam Anfang 2020 die
       Pandemie und stellte die politischen Verhältnisse völlig auf den Kopf.
       Statt dass die Opposition den Schwung aus den Kommunalwahlen für weitere
       Attacken auf Erdoğan nutzen konnte, [3][kam mit der Pandemie die Stunde der
       Exekutive].
       
       In dem sowieso sehr zentralistisch aufgestellten Land Türkei noch stärker
       als in Deutschland, wo die Bundesländer mitmischen konnten. Die
       Impfkampagne in der Türkei funktionierte außerdem hervorragend. Statt ewig
       langer Warteschlagen funktionierte die Vergabe der Impftermine übers
       Internet.
       
       Bei aller massiver Kritik an Erdoğan, seinem repressiven Regime und der
       weitgehenden Ermüdung über seine One-Man- Show in großen Teilen der
       Bevölkerung schafft er es dennoch, den Eindruck zu vermitteln: Wenn es
       drauf ankommt, hat der Präsident die Sache im Griff. Noch bleibt für die
       Opposition ein Jahr Zeit, um sich für die Präsidentschaftswahl im Juni
       kommenden Jahres wieder in eine bessere Position zu bringen. Wenn sie jetzt
       keine großen Fehler machen und sich vor allem geräuschlos auf einen
       gemeinsamen, populären und aussichtsreichen Kandidaten für die
       Präsidentenwahl einigen, haben sie nach wie vor gute Chancen, Erdoğan aus
       dem Amt zu kippen.
       
       Doch wer weiß, was bis zur Wahl noch alles passiert. Erdoğan wird
       jedenfalls keine Gelegenheit auslassen, um auch weiterhin seine Macht zu
       sichern.
       
       2 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Erdoans-Vermittlerrolle-im-Ukrainekrieg/!5841736
 (DIR) [2] https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/ekrem-imamoglu-tuerkei-demokratie-recep-tayyip-erdogan
 (DIR) [3] /Coronavirus-in-der-Tuerkei/!5676070
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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