# taz.de -- US-Postpunk-Legende Steve Albini ist tot: Direkt in den Auspuff schauen
       
       > Schneidender Postpunkgitarrist, genialer Produzent. US-Künstler Steve
       > Albini ist tot. Nachruf auf einen kritischen Geist.
       
 (IMG) Bild: „Set me on Fire/Kerosene“: Steve Albini (1962 bis 2024)
       
       Der erste Mensch war ein Künstler, hat Barnett Newman einmal gesagt, der
       zweite sei ein Ökonom gewesen, schickte Heiner Müller hinterher. Irgendwo
       dazwischen liegt US-Gitarrist und Produzent Steve Albini. Chicago, „Hog
       Butcher of the World“, Stadt der Schlachthöfe, da beginnt Albinis kreative
       Laufbahn in den frühen 1980ern.
       
       Chicago war zeitlich später dran als die US-Küstenregionen, was Punk
       anbelangt. Hinter den glitzernden Fassaden der Wolkenkratzer von Downtown
       stehen riesige Industriekomplexe, reihen sich endlose, nur von Highways
       durchschnittene Wohnviertel mit Mietskasernen aneinander. In einer jener
       Suburbs hat Albinis erste Band Big Black begonnen. Schwärzer als Schwarz.
       
       Um Mensch zu werden, braucht der Mensch einen Traum, vorher kann er nicht
       leben: In Albinis Fall, [1][schneidende, metallisch messerscharfe
       Gitarren], ein spartanisch zuckender und stotternder Drumcomputer, dazu
       seine absichtsvoll lethargische, gefühllose Gesangsstimme. Er singt, als
       würde er direkt in einen Auspuff schauen. Entfernt verwandt mit Cabaret
       Voltaire in England, und doch klang Albini bedeutend genervter und dabei
       superkonsequent. Schon im College gründete er das Indielabel Ruthless.
       
       ## Quickie und Brandstiftung
       
       „Sit around at Home / Stare at the Walls / Stare at each other / And wait
       til we die“. [2][„Kerosene“] heißt der Song. In den Linernotes des
       dazugehörigen Albums „Atomizer“ schreibt Albini: „In Kleinstädten gibt es
       kaum Vergnügen, am beliebtesten sind schneller Sex und Brandstiftung. Wenn
       die naheliegenden Angebote ihren Reiz verlieren, wird kombiniert.“
       
       Big Back haben eine Form von Postpunk mit Industrial-Noise kombiniert, die
       direkt Bezug genommen hat auf die industriell geprägte Umgebung und die
       konfektionierte Konsumwelt. Nur so konnte ein Sound entstehen, der damit
       spielt, dass demnächst die Löcher aus dem Käse fliegen. „Set me on Fire /
       Kerosene“. Klar, ging’s ums Zündeln, um die Gier und um die schwelende
       Leidenschaft sowieso.
       
       Sprödheit war Zündfunke von allem, was Steve Albini gemacht hat. Reduktion
       in der Wahl der musikalischen Mittel, Drastik beim Aussprechen von Tabus in
       den Songtexten. „Tief drinnen sind sie sensibel, aber Inspiration für die
       Songtexte beziehen Big Black aus Bondage-Magazinen“, behauptete der New
       Yorker Kritiker Robert Christgau.
       
       ## Schutzschild gegen Mainstream-Abgründe
       
       Wobei Albinis Drastik immer auch Schutzschild gegen den kaputt
       kommerzialisierten Abgrund von Mainstream-Amerika und seiner korporativen
       Majorlabel war. Heute, wo allwöchentlich [3][ein neues Taylor-Swift-Album]
       auf den Markt geschmissen wird, sind die Menschen von der Dauerberieselung
       schon zu abgestumpft.
       
       Albini hat bereits in den 1980ern gesagt, [4][Majorlabel behandeln Musik
       ähnlich lieblos wie Kaufhäuser, die Socken auf den Wühltisch schmeißen].
       Später schrieb er auch Essays darüber. Von Beginn an managte sich Albini
       selbst: Aufnehmen im Studio, Platten veröffentlichen, damit auf Tournee
       gehen.
       
       Im Zuge dessen entwickelt er sich auch zu einem gewieften Produzenten, der
       Reduktion zum Stilmittel erhebt: „Surfer Rosa“ von den Pixies, „Goat“ von
       Jesus Lizard, am bekanntesten „[5][In Utero“ von Nirvana]. Viele weitere
       Meilensteine hat Albini produziert, aber auch Musik von Unbekannten. Man
       hört an der von ihm produzierten Musik immer auch das Neinsagen.
       
       ## Herzkammer des Postrock
       
       Jedes Übersteuern hallt in seiner Verweigerungshaltung nach.
       Mainstreamkohle steckt er in die Indieszene. Albini hilft maßgeblich
       dabei, Chicago in den 1990ern [6][zur Herzkammer des Postrock] zu
       gestalten. Auch die Tätigkeit als Produzent wird damals intensiver. Nach
       eigener Schätzung hat Albini rund 1.500 Aufnahmesessions als Toningenieur
       geleitet.
       
       Eigene Ambitionen als Musiker blieben dagegen rar. Das schon im Bandnamen
       kontroverse Projekt Rapeman, dessen Namen er als „schlechte Tätowierung“
       bezeichnete, löste sich nach nur einem Album auf. Später hat er diese
       frauenfeindliche Haltung bedauert.
       
       Mehr Glück hat er mit dem Trio Shellac, das 1994 zur Noiserock-Supergroup
       wurde, zusammen mit dem Bostoner Bassisten Bob Weston und dem Drummer Todd
       Trainer aus Minneapolis, so wie Albini Fahrensleute der US-Postpunkszene.
       
       ## Humpelnd, schleifend, immer vertrackt
       
       Ihr Debütalbum „At Action Park“ wird zum Klassiker, seine waidwunde Form
       von Noiserock ist gut gealtert, humpelnd, schleifend und immer vertrackt.
       Vielleicht auch, weil Steve Albini Musik zu wichtig ist, bleibt er
       zwischendurch stumm, zwischen neuen Shellac-Alben liegen lange Pausen.
       
       Öfter trat er in den letzten Jahren als Pokerspieler in Erscheinung und
       gewinnt [7][mehrere hochdotierte Pokerturniere mit stattlichen
       Gewinnsummen]. „Poker ist Teil meines Lebens, ich spiele leidenschaftlich
       gern, aber es ist nicht mein Beruf.“ Nächste Woche erscheint das neue Album
       von Shellac, „To All Trains“.
       
       Die Veröffentlichung wird Steve Albini nicht mehr erleben, er ist am
       Mittwoch 61-jährig an einem Herzinfarkt gestorben. In den Skystudios gibt
       es ab jetzt viel mehr Feedback.
       
       9 May 2024
       
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 (DIR) [4] https://thebaffler.com/salvos/the-problem-with-music
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 (DIR) [7] https://www.rollingstone.com/music/music-news/steve-albini-second-world-series-of-poker-bracelet-1370517/
       
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