# taz.de -- Resümee Filmfestspiele von Cannes: Die Realität soll es richten
       
       > Die Cannes-Jury hat mit Ken Loach einen alten Mann geehrt – trotz vieler
       > jüngerer KollegInnen. Die blieben immerhin nicht ganz unberücksichtigt.
       
 (IMG) Bild: Die Philippinerin Jaclyn Jose wurde für ihre Rolle in „Ma' Rosa“ als beste Schauspielerin ausgezeichnet
       
       CANNES taz | Maren Ade kann sich freuen. Die deutsche Regisseurin wurde in
       Cannes mit dem internationalen Kritikerpreis für ihren Wettbewerbsbeitrag
       bedacht. Damit bestätigte sich, was die Journalisten in ihren Reaktionen
       unmittelbar nach dem Film praktisch einhellig verkündet hatten: Ades
       Komödie „Toni Erdmann“ über einen Vater-Tochter-Konflikt, der mit
       unkonventionellen Mitteln gelöst wird, war der stärkste Film im Rennen.
       
       Die Begeisterung, die er an der Croisette ausgelöst hat, dürfte ihm auch
       Mitte Juli sicher sein, wenn der Film in Deutschland in die Kinos kommt.
       Seine zwei Stunden und vierzig Minuten Dauer bedeuten für die Zuschauer
       kein Opfer, das man bringen muss. Vielmehr sind seine intelligente Komik
       und sein genauer Blick auf die Gegenwart ein Geschenk, wie man es in
       deutschen Filmen sonst selten gemacht bekommt. Wenn man hinterher erschöpft
       sein sollte, dann allenfalls vor Lachen.
       
       Maren Ade muss zugleich enttäuscht sein. Denn der Kritikerpreis hat nichts
       mit der Jury in Cannes zu tun, die über die Vergabe der verschiedenen
       Auszeichnungen entscheidet. Die „richtige“ Jury bedachte sie tatsächlich,
       trotz anders lautender Erwartungen, mit überhaupt keinem Preis im
       Wettbewerb der Filmfestspiele. Und das, obwohl neben dem Film „Toni
       Erdmann“ auch Darstellerin Sandra Hüller als herrlich verbiesterte
       Unternehmensberaterin ernsthafte Chancen auf den Preis als beste
       Schauspielerin gehabt hätte. Nichts dergleichen. Das ist hart.
       
       Stattdessen vergab die Jury um „Mad Max“-Regisseur George Miller die
       Goldene Palme an einen der zahlreichen Altmeister, die in Cannes angetreten
       waren. [1][Der 79-jährige Brite Ken Loach gewann die Auszeichnung für
       seinen Film „I, Daniel Blake“.]
       
       ## Preise für Alte und Junge
       
       Die Geschichte über den nach einem Herzinfarkt arbeitslos gewordenen
       Tischler, der am Effizienzregime der Jobcenter zerbricht, bietet große
       schauspielerische Leistungen. Besonders Hauptdarsteller Dave Johns gibt dem
       Film eine Lebendigkeit, die streckenweise von seiner unbeirrten
       Thesenhaftigkeit ablenkt.
       
       Das allein macht ihn noch lange nicht zum besten Film dieses Jahrgangs und
       wirft die Frage auf, ob die lauthals verkündete engagierte Botschaft von
       „I, Daniel Blake“ das eigentlich Ausschlaggebende für die Entscheidung
       gewesen sein könnte. Überhaupt schien die Jury harten Realismus und klare
       soziale Stellungnahmen gegenüber freilaufender Fantasie zu präferieren. Ken
       Loach zumindest mag zufrieden sein. Nach „The Wind that Shakes the Barley“
       von 2006 hat er zum zweiten Mal die Goldene Palme gewonnen.
       
       Daraus zu schließen, dass alte Männer in Cannes gegenüber jüngeren Kollegen
       ausnahmslos bevorzugt behandelt werden, trifft allerdings nicht völlig zu.
       Die zweite wichtige Auszeichnung, der Große Preis der Jury, ging denn auch
       an den jüngsten Regisseur im Wettbewerb – selbst wenn dieser inzwischen ein
       Stammgast in Cannes ist und schon zum zweiten Mal ebendiesen Großen Preis
       erhalten hat: Der 1989 geborene Kanadier Xavier Dolan wurde dieses Jahr für
       „Juste la fin du monde“ (Einfach das Ende der Welt) geehrt, seine erste
       Zusammenarbeit mit Schauspielstars wie Léa Seydoux, Marion Cotillard und
       Vincent Cassel.
       
       ## Umstrittener Sieger
       
       Dolans Kammerspiel um einen jungen Schriftsteller, der nach langer
       Abwesenheit zu seiner Familie zurückkehrt, um ihr seinen Tod anzukündigen,
       entzweite einerseits die Kritik wegen seiner kräftig ästhetisierten
       obsessiven Enge. Andererseits lagen seine Stärken gerade in dieser
       bedrückenden Nähe, in der die Kamera kaum von den Gesichtern der Darsteller
       lassen konnte. Diese führten das schmerzvolle Scheitern von Kommunikation
       in der Familie vor, wenn man sich voneinander entfernt hat, weil man sich
       mit dem Bild, das man vom anderen hat, alleingelassen fühlt.
       
       Auch von den drei angetretenen Regisseurinnen gingen nicht alle leer aus.
       Die Britin Andrea Arnold bekam für ihr vor Lebensenergie berstendes
       Roadmovie „American Honey“ den Preis der Jury. Den erhielt sie damit jedoch
       – nach 2006 und 2009 – schon zum dritten Mal. Eine mutige Wahl sieht anders
       aus.
       
       Interessanter ist da der Regiepreis für den Franzosen Olivier Assayas, der
       sich diese Ehrung mit dem Rumänen Cristian Mungiu und dessen
       Vater-Tochter-Drama „Bacalaureat“ (Graduation) teilt. Die Entscheidung für
       Assayas’ „Personal Shopper“ ist bemerkenswert, weil hier einer der Filme
       bei der Jury Gnade fand, die sich von sozialkritischem Realismus entfernten
       und einen spielerischen Umgang mit entlegeneren Genres wagten – in diesem
       Fall Geistergeschichten. Assayas’ kontrovers aufgenommener Film mit
       Hauptdarstellerin Kristen Stewart als Gespenster sehende Kaufberaterin
       zählte zu den risikofreudigeren Arbeiten.
       
       Die beiden expliziten Kannibalismus-Mitbewerber hingegen blieben
       unbeachtet: Bruno Dumont mit seiner schwarzen Komödie „Ma Loute“ und
       Nicolas Winding Refn, der mit der perfekt gestylten Model-Groteske „The
       Neon Demon“ angetreten war.
       
       ## Jarmuschs Hund gewinnt
       
       Dass drastische Gewaltdarstellungen, wie ironisch auch immer, der Jury
       nicht preiswürdig erschienen, mag man als wenig ausschlaggebend betrachten
       – der beste Beitrag zum Thema Kannibalismus, Julia Ducournaus ungestüme
       Coming-of-Age-Geschichte „Grave“ (Raw), lief ohnehin fernab des Wettbewerbs
       in der Reihe „Semaine de la critique“.
       
       Umgekehrt war sogar der freundlichste, harmonischste und, ja, schönste
       Film, Jim Jarmuschs Poeten-Fantasie „Paterson“ über einen dichtenden
       Busfahrer – vorübergehend ebenfalls als Favorit gehandelt –, anscheinend
       nicht das Richtige für die Jury: Am Ende blieb ihm lediglich der Palm Dog.
       Die von Filmkritikern vergebene Auszeichnung für den besten Hundedarsteller
       ging an die Bulldogge Nellie, posthum: Der Hund verstarb wenige Monate nach
       den Dreharbeiten.
       
       Abgesehen davon, dass diese Ergebnisse, allen voran die Entscheidung gegen
       eine preiswürdige junge Frau – Maren Ade –, ein seltsames Licht auf die
       Jury-Kriterien werfen, gibt es noch weitere Anzeichen für
       Routine-Mattigkeit bei den 69. Filmfestspielen von Cannes.
       
       ## Ratlosigkeit herrscht vor
       
       Der Rumäne Cristi Puiu etwa, der den Wettbewerbsreigen eröffnete, bot mit
       „Sieranevada“ einen formal strengen, geschickt zwischen absurder Komik und
       nervenzerrender Dramatik operierenden Film über ein Familientreffen, das
       aus dem Ruder läuft.
       
       Die Kamera verlässt dabei fast nie die Wohnung, schwenkt – von wenigen
       Schnitten unterbrochen – insistierend von einem Familienmitglied zum
       nächsten, während nach und nach interne Konflikte aufbrechen. Sozialer
       Kommentar und Realismus gehen bei Puiu eine Symbiose mit einer radikalen
       Wahl der Mittel ein, deren Resultat weit frischer ausgefallen ist als
       manche eingereichte Stilprobe von einem der älteren Kollegen.
       
       So bleibt vor allem Ratlosigkeit angesichts dieser nur bedingt
       nachvollziehbaren Jury-Entscheidungen mit ihren letztlich konservativen
       Voten in einem leicht durchwachsenen, insgesamt aber zufrieden stellenden
       Wettbewerb. Derart altbacken, wie das Autorenkino jetzt in Cannes nach
       außen hin präsentiert wurde, ist es in Wirklichkeit nicht. Und ob ein Film
       sich auf Dauer durchsetzt, hängt zum Glück nicht zwangsläufig von
       Festivalpreisen ab. Für alle Übergangenen ist das gleichwohl ein schwacher
       Trost.
       
       23 May 2016
       
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