# taz.de -- 75 Jahre Wannsee-Konferenz: Die Organisation des Holocaust
       
       > 15 Nazis organisierten in einer Berliner Villa die Deportation und
       > Ermordung der Juden Europas. Eine entscheidende Etappe, aber nicht die
       > einzige.
       
 (IMG) Bild: Dort wurde die Vernichtung der Juden geplant. Heute ist es eine Gedenk- und Bildungsstätte
       
       An einem Dienstagvormittag trafen sich in einer herrschaftlichen Villa im
       mondänen Berliner Stadtteil Wannsee 15 Herren, meist in den besten Jahren,
       um die Ermordung und Deportation der europäischen Juden zu planen. Die
       Begegnung verlief einvernehmlich und dauerte nur rund eineinhalb Stunden.
       Die Atmosphäre war, glaubt man den Einlassungen Adolf Eichmanns bei seinem
       späteren Prozess in Jerusalem, gelöst. Anschließend wurde zu einem
       ausgiebigen Frühstück gebeten.
       
       Lange ist die Konferenz am Großen Wannsee 56–58 vom 20. Januar 1942 in
       Nachkriegsdeutschland als Entschluss der Nazis zum Holocaust missverstanden
       worden. Das konnte sie schon deshalb nicht sein, weil der Massenmord schon
       früher eingesetzt hatte – in der Sowjetunion kurz nach Beginn des deutschen
       Überfalls im Juni 1941, in Polen und Serbien, aber auch in
       „Großdeutschland“.
       
       Auch war der Teilnehmerkreis dieser Staatssekretärsbesprechung nicht so
       zusammengesetzt, dass dort die Spitzen des Staates – also Hitler, Himmler
       oder Göring – auftraten. Selbst der ranghöchste Vertreter Reinhard Heydrich
       bekleidete zwar als Chef der Sicherheitspolizei und des SD, also der
       Terrorzentrale Reichssicherheitshauptamt, und als stellvertretender
       Reichsprotektor von Böhmen und Mähren eine beeindruckende Zahl wichtiger
       Ämter, gleichwohl war seine Kompetenz dem Reichsführer SS Heinrich Himmler
       untergeordnet.
       
       Tatsächlich ging es am 20. Januar 1942 um die Organisation des Holocaust.
       Die wichtigsten „Zentralinstanzen“ des Staates, also die Spitzenvertreter
       mehrerer Ministerien, Behörden und SS-Dienststellen, sollten in den
       Mordprozess eingebunden werden. Ziel der Veranstaltung war, bürokratische
       Reibungsverluste bei der Durchführung des Massenmords zu minimieren und
       zugleich deutlich zu machen, dass allein Heydrich der direkte
       Verantwortliche und Ansprechpartner war.
       
       ## Ein zynischer Wettbewerb
       
       Dieser letzte Punkt, von Heydrich selbst wohl nicht zufällig gleich zu
       Beginn der Konferenz ausweislich des Protokolls angesprochen, verweist nach
       der jüngsten Studie des Londoner Historikers Peter Longerich auf ein
       Phänomen des NS-Staats und seiner Politik der Massenvernichtung, das häufig
       zu wenig Beachtung gefunden hat. Es geht dabei um die konkurrierenden
       Bürokratien und Befehlsstränge bis hinauf zur Staatsspitze, die danach
       trachteten, ihre jeweiligen Kompetenzen nach Möglichkeit immer weiter
       auszuweiten. So wurde der Massenmord zum zynischen Wettbewerb. Dahinter
       steckt die bis heute kontrovers diskutierte Frage, wann die Staatsspitze –
       also Hitler – den Entschluss zum Mord an den europäischen Juden noch
       während des Krieges getroffen hat.
       
       Longerichs Ausgangsthese lautet, dass der Holocaust „nicht aufgrund einer
       einzelnen zentralen Entscheidung in Gang gesetzt worden“ ist, sondern
       Ergebnis eines Entscheidungsprozesses von Hitler und dem NS-Machtapparat
       war. Er wendet sich damit gegen die „intentionalistische“ These von
       Historikern, Hitler habe im Sommer 1941 oder kurz darauf seine
       Grundsatzentscheidung zum Mord an den europäischen Juden getroffen, deren
       bloße praktische Umsetzung am Wannsee diskutiert wurde. Vielmehr vertritt
       Longerich – nicht neu, aber noch nie so prägnant – die Ansicht, dass
       „schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein
       konkretes Mordprogramm“ entstand.
       
       Tatsächlich entwickelte sich das antisemitische Programm der Nazis von
       einer Austreibung aller Juden aus dem deutschen Machtbereich angesichts der
       zunächst erfolgreichen Eroberungspolitik zu einem Dilemma. Die meisten
       deutschen Juden waren bis zum Kriegsbeginn zwangsweise ausgewandert – das
       vorgebliche „Problem“ schien damit limitiert. Bald nach Kriegsbeginn war
       der NS-Staat aber mit einer großen Zahl von Juden konfrontiert, die nun neu
       in ihrem Machtbereich lebten und die im antisemitischen Sinn als „Problem“
       betrachtet wurden, das es zu „lösen“ gelte. Anfängliche Versuche, diese
       Menschen in „Judenreservate“ in Polen oder auf die französische Insel
       Madagaskar zu deportieren, beinhalteten bereits sehr wohl deren
       Vernichtung durch völlig unzureichende Lebensumstände, stellten sich aber
       als undurchführbar heraus. Und auch die Vorstellung, die Menschen in später
       noch zu besetzende Teile der Sowjetunion zu vertreiben, ließ sich nicht
       umsetzen.
       
       Longerich negiert in seinem kompakten und nüchternen, ja geradezu trockenen
       Buch nicht, dass Hitler die entscheidende Instanz der Judenvernichtung war.
       Lange habe der „Führer“ die Deportationen der deutschen Juden auf einen
       Termin nach einem erfolgreich beendeten Krieg gegen die Sowjetunion
       vorgesehen. Erst im September 1941 änderte Hitler seine Meinung – einen
       Monat später begannen die Deportationen der Juden aus dem Deutschen Reich.
       
       ## Geplanter Tod durch Zwangsarbeit
       
       Aber: Zum Zeitpunkt der Wannseekonferenz war der Massenmord durch Giftgas
       in den Vernichtungslagern auf besetztem polnischen Territorium noch
       keineswegs beschlossen, folgt man dem Protokoll. Danach sollten die Juden
       „straßenbauend“ im Osten zum Zwangsarbeitseinsatz kommen, „wobei zweifellos
       ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird“. Gemeint war
       damit offenbar die sogenannte Durchgangsstraße IV, die von Lemberg nach
       Rostow am Don führen sollte. Gleichwohl wird der gefallene Entschluss zu
       einem Massenmord deutlich, wenn die zusammenfassende Niederschrift des
       Protokolls festhält: „Der allfällig verbleibende Restbestand wird, da es
       sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt,
       entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese
       darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues
       anzusprechen ist.“
       
       Doch schon ab Ende 1941 waren „Gaswagen“ für die Ermordung im Osten zum
       Einsatz gekommen und begannen Vorarbeiten zum Bau von Vernichtungslagern,
       etwa in der Nähe von Minsk. Longerich nennt diese Entwicklung „regionale
       ‚Endlösungen‘“. Er verweist darauf, dass Hitlers Entscheidung zur
       Deportation der zentraleuropäischen Juden nicht mit einem Befehl
       gleichzusetzen sei, alle europäischen Juden zu ermorden, wiewohl dieser zu
       einer weiteren Radikalisierung der Massenmorde geführt habe. Aufgabe der
       Wannseekonfrenz aber sei gewesen, die Entwicklungslinien in dieser
       „Judenpolitik“ zusammenzuführen.
       
       Die Konferenz vom 20. Januar 1942 war also mehr als nur ein
       Koordinierungstreffen zum Massenmord, sie diente nicht nur der Durchsetzung
       des Führungsanspruchs Heydrichs beim Holocaust, sie thematisierte auch
       nicht nur die planmäßige Ermordung aller europäischen Juden, zu deren Zweck
       „Europa von Westen nach Osten durchkämmt“ werden sollte: Die Konferenz
       dokumentiert auch die arbeitsteilige Kooperation der bürokratischen
       Instanzen von der SS bis zum Auswärtigen Amt. Dies geschah zu einem
       Zeitpunkt der radikalen Eskalation der NS-Vernichtungspolitik, ohne dass
       jedoch ein Beschluss zum Massenmord an allen europäischen Juden noch
       während des Krieges vorlag. Wannsee, das war eine wichtige Etappe auf dem
       Weg zur „Endlösung“ – aber nicht deren ultimativer Beginn.
       
       ## Eskalation des Tötens
       
       Darauf, so Longerich, verweist auch die im Wannsee-Protokoll aufgeführte
       Statistik aller europäischen Juden, die es zu vernichten gelte. Diese
       Aufführung von insgesamt elf Millionen Menschen enthält auch Juden aus
       Großbritannien, der Schweiz, Schweden, Spanien und weiterer Staaten,
       allesamt Länder, die nicht im Machtbereich von Nazi-Deutschland lagen.
       Dieser Massenmord mit seinen noch größeren Dimensionen war 1942 unmöglich,
       und dabei blieb es dank des weiteren Kriegsverlaufs auch.
       
       Doch die Eskalation des Tötens war mit dem Januar 1942 nicht beendet.
       Damals hatte Heydrich noch geplant, wesentliche Teile des Massenmords erst
       nach dem gewonnenen Krieg durchzuführen. Schon sechs Monate später, im
       Frühsommer 1942, war das überholt. Nun begann, benannt nach dem Anfang Juni
       1942 in Prag durch Partisanen getöteten Reinhard Heydrich, die „Aktion
       Reinhard“ und damit der Massenmord an mehr als zwei Millionen polnischen
       Juden in den Vernichtungslagern Sobibór, Belcez und Treblinka. Die
       westeuropäischen Juden wurden nach Osten verschleppt und planmäßig
       ermordet, die sowjetischen fielen den Einsatzgruppen zum Opfer. Bald darauf
       startete das Mordprogramm im größten aller Vernichtungslager: Auschwitz.
       
       Wann exakt Hitler diese Vernichtung in Gang gesetzt hat, wissen die
       Historiker nicht zu beantworten. Sollten jemals entsprechende Papiere
       existiert haben, so sind diese wohl bei Kriegsende verbrannt worden.
       
       19 Jan 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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