# taz.de -- Gekentertes Fischerboot bei Tunesien: Das Grab vor der Küste
       
       > Vor den Kerkenna-Inseln starben zahlreiche Menschen bei einem
       > Bootsunglück. Das Archipel wird zunehmend zum Startpunkt für die Flucht
       > nach Europa.
       
 (IMG) Bild: Immer wieder gibt es Probleme mit Booten bei der Überfahrt von Tunesien nach Europa (Symbolbild)
       
       TUNIS taz | Mindestens 48 Migranten sind am vergangenen Samstag gestorben,
       nachdem ein Fischerboot vor den tunesischen Kerkenna-Inseln gekentert ist.
       Ein Aufklärungsflugzeug und ein Patrouillenboot der tunesischen Armee
       retteten Dutzende Überlebende, die im Wasser trieben. Nach Angaben der
       Internationalen Organisation für Migration (IOM) überlebten 70 Migranten.
       
       IOM-Sprecher Flavio di Giacomo glaubt, dass die Opferzahlen wie bei vielen
       anderen Unglücken nur grobe Schätzungen sind. Auf dem Kurznachrichtendienst
       Twitter vermutete di Giacomo am Montag es seien [1][„vielleicht mehr als 64
       Vermisste“]. Es ist das seit einem Jahr schwerste Unglück im südlichen
       Mittelmeerraum, seit im Februar vor der libyschen Küste mindestens 90
       Menschen ertranken.
       
       Ein Überlebender sagte dem Radiosender Mosaique FM aus Tunis, dass die mehr
       als 180 Insassen innerhalb weniger Minuten über Bord gingen, nachdem das 9
       Meter lange, überladene Holzboot voll Wasser lief. Der angeblich von den
       Kerkenna-Inseln stammende Kapitän flüchtete, ohne ein Notsignal abgegeben
       oder andere Schiffe zu Hilfe geholt zu haben.
       
       Zur Herkunft der Passagiere gibt es unterschiedliche Angaben: Zeugen sagten
       der taz, die Opfer kämen mehrheitlich aus Westafrika. Das tunesische
       Verteidigungsministerium gab allerdings an, dass es sich hauptsächlich um
       Tunesier handele. Im vergangenen Jahr haben nach Angaben der tunesischen
       Regierung 5.700 Tunesier versucht, über den Seeweg nach Italien zu gelangen
       – auch wenn sie in der EU so gut wie keine Chance auf eine offizielle
       Aufenthaltsberechtigung haben.
       
       Jonathan Akufo aus Ghana ist einer von denen, die das Unglück überlebt
       haben. Er wird im Krankenhaus der Hafenstadt Sfax behandelt. „Wir hielten
       uns 9 Stunden an Holzplanken über Wasser fest, aber nicht alle haben so
       lange durch gehalten“, sagte er der taz.
       
       ## Schmuggler weichen auf Tunesien aus
       
       Eigentlich starten wesentlich weniger Migranten auf Booten Richtung Italien
       als vom chaotischen Nachbarland Libyen. Während die tunesische Marine seit
       Jahren regelmäßig Fischerboote kontrolliert, kreuzen libysche Patrouillen
       erst seit diesem Jahr verstärkt vor Sabratha, Zuwara oder Khoms.
       
       Doch seit die Häfen und Strände im benachbarten Libyen von Milizen und der
       neu aufgebauten Marine schärfer kontrolliert werden, starten von den
       Kerkenna-Inseln wöchentlich Fischerboote mit Migranten in Richtung
       Sizilien. Vor allem die katastrophalen Zustände in den Lagern für
       aufgegriffene Migranten an der libyschen Küste und Entführungen veranlassen
       viele Schmuggler dazu, wieder nach Tunesien auszuweichen.
       
       Auch das harte Durchgreifen der algerischen Sicherheitskräfte gegen
       Migranten hat dazu geführt, dass wie 2011 Hunderte Migranten im
       Niemandsland zwischen Tunesien und Libyen südlich des Grenzübergangs Ras
       Jadir auf einen Platz in einem tunesischen Fischerboot warten. Die
       informelle Ökonomie, der Schmuggel über die Grenzen zu Algerien und Libyen,
       hat nach Meinung von Experten längst den Tourismus als wichtigste
       Devisenquelle abgelöst. Tunesien leidet unter einer schweren
       Wirtschaftskrise, [2][die gerade den Süden besonders trifft].
       
       Die EU-Länder sorgen für 70 bis 80 Prozent des tunesischen Außenhandels.
       Geht es nach Brüssel, werden die Grenzen nach Europa zwar für in Tunesien
       produzierte Oliven und Textilien durchlässiger, nicht aber für
       Arbeitsmigranten und Flüchtlinge. Italien trainiert und finanziert
       [3][tunesische Polizeipatrouillen]. Dafür nimmt Tunesien wiederum
       Staatsbürger zurück, nicht aber Migranten aus Drittstaaten. Pläne für
       [4][Aufnahmelager von Migranten] bei Ras Jadir sind jedenfalls wieder vom
       Tisch, die Behörden fürchten, diese könnten zu Brutstätten für
       Radikalisierung werden und Touristen fernhalten.
       
       Auf den Kerkenna-Inseln gab es im vergangenen Jahr soziale Unruhen, viele
       Fischer auf dem rund 40 Kilometer langen Archipel können von ihrem Beruf
       nicht mehr leben. Die steigenden Wassertemperaturen sorgen dafür, dass sie
       immer weiter aufs Meer hinausfahren müssten.
       
       „Bereits 30 Kilometer vor der Insel nehmen uns die italienischen
       Industrieschiffe den Fang vor der Nase weg, ich habe rund 60 Prozent
       weniger Einkommen als vor 10 Jahren“, klagt ein Fischer, der anonym bleiben
       will. In seinem Beruf ist meist kaum mehr als 400 Euro im Monat zu
       verdienen. „Zwei Fahrten pro Jahr mit Migranten nach Italien bringen mir
       mehr Einkommen als der Fischfang in den restlichen Monaten.“
       
       5 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/fladig/status/1003579158151221248
 (DIR) [2] /Kommunalwahl-in-Tunesien/!5503208
 (DIR) [3] /Deutschland-ruestet-Sicherheitssektor-aus/!5485746
 (DIR) [4] /Einwanderung-von-Afrika-nach-Europa/!5492943
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Tunesien
 (DIR) Migration
 (DIR) EU
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Refugees
 (DIR) Tunis
 (DIR) Italien
 (DIR) Tunesien
 (DIR) Schwerpunkt Überwachung
 (DIR) Milizen in Libyen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bürgermeister*inwahl in Tunis: Feministische Islamistin kandidiert
       
       Souad Abderrahim sieht sich als Feministin und Islamistin – und sie will
       Bürgermeisterin von Tunis werden. Ihre Chancen stehen gut.
       
 (DIR) Nach Seenotrettung im Mittelmeer: Italien weist 629 Geflüchtete ab
       
       Die neue Regierung in Rom will ein Rettungsschiff nicht an Land lassen. Sie
       fordert Malta auf, die Menschen aufzunehmen. Aber auch Malta weigert sich.
       
 (DIR) Einwanderung von Afrika nach Europa: „Bleibt mal lieber zu Hause“
       
       Das deutsche „Auslandsarbeitsamt“ in Tunesien soll die Auswanderung nach
       Europa reduzieren. Dabei ist die Migration von dort eher gering.
       
 (DIR) Deutschland rüstet Sicherheitssektor aus: Überwachungs-Hightech für Tunesien
       
       Tunesien soll gegen islamistische Gruppen in der Sahara ausgerüstet werden.
       Doch es geht Europa auch um den Schutz vor Migranten.
       
 (DIR) EU-Afrika-Gipfel: Ziemlich schlechte Freunde
       
       Beim EU-Afrika-Gipfel ist Migration mal wieder Schlüsselthema. Die EU steht
       wegen ihres Vorgehens in Libyen in der Kritik.