# taz.de -- Gedenken an NS-Besatzung: Späte Einsicht, großes Projekt
       
       > Der Bundestag will ein Dokumentationszentrum über den Terror deutscher
       > Besatzung bis 1945 einrichten. Das ist lange überfällig.
       
 (IMG) Bild: Ein deutscher Wehrmachtssoldat bei der Invasion der Insel Kreta 1941
       
       BERLIN taz | In Berlin soll ein Dokumentationszentrum entstehen, das die
       Gewaltgeschichte der NS-Besatzung in Europa bis 1945 zeigt. Das hat der
       Bundestag am Freitag beschlossen. Damit sollen laut Antrag von Union und
       SPD „die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs und bisher weniger
       beachtete Opfergruppen“ mehr in die öffentliche Wahrnehmung gerückt werden.
       
       [1][Das geplante Dokumentationszentrum] wird das größte
       erinnerungspolitische Projekt in Sachen nationalsozialistischer
       Vergangenheit seit dem Holocaust-Mahnmal nahe dem Brandenburger Tor. Für
       den Antrag stimmten SPD, Union, Linkspartei, Grüne und FDP.
       
       Das sei ein Meilenstein, sagte Marianne Schieder (SPD) in der einstündigen
       Bundestagsdebatte. Nun würde ein Ort entstehen, der an jene erinnert, die
       von Griechenland bis zum Baltikum von Deutschen „systematisch gequält,
       vertrieben und ermordet“ wurden. Schieder sitzt für ihre Fraktion im
       Kulturausschuss und hat das Projekt wesentlich vorangetrieben.
       
       Gitta Connemann, Vizechefin der CDU-Fraktion, betonte, dass Aufklärung über
       das Ausmaß der Verbrechen deutscher Besetzungsregime nötig sei. In der
       Ukraine sei ein Viertel der Bevölkerung getötet worden. In Griechenland
       habe die Hungerstrategie der deutschen Besatzung bis zu 360.000 Menschen
       das Leben gekostet. „Wissen wir das heute noch?“, fragt Connemann
       rhetorisch.
       
       ## „Wissen wir das heute noch?“
       
       Das Noch in der dieser Frage ist die kühne Suggestion, dass kollektives
       Wissen vom Verschwinden bedroht ist. Das Wissen über den Vernichtungskrieg
       im Osten und Südeuropa und den Terror gegen die Zivilbevölkerung ist indes
       gering. Wir kennen, so Martin Rabanus (SPD), „die Namen der Orte der
       deutschen Verbrechen auch 81 Jahre später“ nicht.
       
       Die Debatte verlief ohne viel Streit, ohne Polemik oder rhetorische
       Glanzlichter. Nur die AfD sorgte erwartungsgemäß für einen diskursiven
       Tiefpunkt. Marc Jongen geißelte „Erinnerungswahn und hypermoralisches
       Büßertum“ und forderte ein Denkmal für deutsche Opfer. Grüne, FDP,
       Linkspartei, Union und SPD sind sich hingegen im Kern einig: Dieses Zentrum
       ist nötig ist, um die Lücke in der Erinnerungskultur zu schließen.
       
       Also alles selbstverständlich? Nicht ganz. Jan Korte, parlamentarischer
       Geschäftsführer der Linksfraktion, fragte in einer schwungvollen Rede:
       „Warum erst jetzt?“. Es sei eine „Lebenslüge, dass die Aufarbeitung der
       NS-Vergangenheit eine Erfolgsgeschichte“ war. Vielmehr sei alles, was heute
       im Bundestag jenseits der AfD Konsens sei, gegen den hartnäckigen
       Widerstand der Konservativen durchgesetzt worden.
       
       Korte dankte Peter Jahn, Ex-Direktor des deutsch-russischen Museums in
       Karlshorst. Der habe sich jahrzehntelang, unermüdlich wie ergebnislos, für
       vergessene Opfergruppen wie die sowjetischen Kriegsgefangenen eingesetzt.
       
       ## Aufarbeitung des Nationalsozialismus keine Erfolgsgeschichte
       
       Das fast einmütige Ja des Parlaments zu dem Dokumentationszentrum, das
       Jahns Ideen in veränderter Form aufnimmt, ist insofern [2][mehr als
       überraschend]. Denn gerade wer sich für die Opfergruppen des rassistischen
       Vernichtungskrieges im Osten – von den drei Millionen RotarmistInnen, die
       die Wehrmacht verhungern und erfrieren ließ, bis zu den weißrussischen
       ZivilistInnen – einsetzte, stieß meist auf taube Ohren.
       
       Noch im Januar 2019 hatten vor allem Grüne und Union bei einer
       Bundestagsdebatte [3][jede Menge Vorbehalte und Bedenken gegen ein
       Dokumentationszentrum] – nur die Linksfraktion war dafür. Diese
       Konstellation – nur die Linksfraktion dafür – bedeutet so gut wie immer das
       parlamentarische Aus für jede Initiative. In diesem Fall waren vor allem
       die KulturpolitikerInnen der Unionsfraktionen, Elisabeth Motschmann und
       Gitta Connemann, klug genug zu erkennen, was nötig ist.
       
       Der Ball liegt nun bei der Bundesregierung. Kulturstaatsministerin Monika
       Grütters soll bis Ende des Jahres einen Zeitplan vorlegen. Die Konzepte
       soll eine Arbeitsgruppe von HistorikerInnen unter Beteiligung der Stiftung
       Denkmal für die ermordeten Juden Europas erarbeiten.
       
       Die Realisierung wird, wie immer bei so großformatigen Projekten, Jahre
       dauern. Benötigt wird eine Ausstellung, die die komplexe Geschichte der
       NS-Besatzung in mehr als 20 Staaten darstellt. Die Zusammenarbeit mit
       Regierungen der betroffenen Staaten, in denen es mitunter
       [4][nationalistisch verengte Narrative] gibt, wird eine Herausforderung.
       Und man braucht einen angemessenen, großen Ort für einen Neubau im Zentrum
       Berlins.
       
       ## Konkurrierende, nationale Geschichtsbilder
       
       Ende Oktober steht schon die nächste geschichtspolitische Debatte im
       Bundestag an. Dann sollen Union und SPD einen Antrag für die Errichtung
       eines Polen-Denkmals einbringen. Grüne und Union sind entschieden dafür.
       
       Teile der SPD und der Linksfraktion sehen die Gefahr eines
       Konkurrenzprojektes zu dem gerade beschlossenen Dokumentationszentrum. Und
       zudem das Risiko mit einem Polendenkmal, das zum Ort rituellen Gedenkens an
       den Beginn des Zweiten Weltkriegs werden kann, andere Staaten, die unter
       dem NS-Terror litten, zu Opfern zweiter Klasse zu machen. Der
       geschichtspolitische Konsens im Bundestag wird bald wieder enden.
       
       9 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Doku-Center-oder-Polen-Denkmal/!5716127/
 (DIR) [2] /Anerkennung-fuer-NS-Opfergruppen/!5659844/
 (DIR) [3] /Kompromissvorschlag-im-Denkmalstreit/!5688283/
 (DIR) [4] /Kriegsende-vor-75-Jahren/!5680456/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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