# taz.de -- Verbot der rechtsextremen Grauen Wölfe: Eine graue Zone
       
       > Der Bundestag diskutiert ein Verbot der Grauen Wölfe. Lassen sich
       > türkischer Mainstream und Konsequenzen deutscher Migrationsgeschichte
       > verbieten?
       
 (IMG) Bild: Solidarischer Wolfsgruß für Aserbaidschan: „Graue Wölfe“ bei einer Demonstraton in Berlin im Oktober
       
       Die Grauen Wölfe haben den Vater von Aylin Tekiner getötet, im Juni 1980,
       in einem Lebensmittelladen. Sie war damals zwei Jahre alt. Zeki Tekiner,
       ihr Vater, war Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei
       CHP in der zentralanatolischen Provinz Nevşehir. Am Tag darauf haben die
       „Idealisten“, die „ülkücü“, wie sich die Grauen Wölfe in der Türkei nennen,
       die Trauerfeier angegriffen. Der Sarg von Zeki Tekiner wurde von 13 Kugeln
       getroffen. Aylin Tekiner hat das alles erzählt bekommen. Die Künstlerin,
       die heute in New York lebt, erzählt es jetzt der taz bei einem
       Telefongespräch.
       
       Im Juli wurde Ömer Ay, der verurteilte Auftraggeber des Mordes an ihrem
       Vater, in Nevşehir zum Vorsitzenden der İyi Parti gewählt, einer türkischen
       Oppositionspartei, die sich von der ultranationalistischen MHP abgespalten
       hat. Die İyi Parti sieht sich selbst als wahre Vertreterin der
       „idealistischen“ Ideologie und führt gemeinsam mit der CHP die Opposition
       gegen die Erdoğan-Regierung an.
       
       Aylin Tekiner hat bei der CHP vergeblich dagegen protestiert. „Ein Fehler,
       der nicht zu entschuldigen ist, ein Verrat“, sagt sie. Nach dem Mord an
       ihrem Vater war Ömer Ay nach Deutschland geflüchtet. Bei einer
       Verkehrskontrolle wurde er festgenommen und 1982 an die Türkei
       ausgeliefert. Dort wurde er zwar zum Tode verurteilt, kam aber nach ein
       paar Jahren Haft wieder frei.
       
       Dass die CHP prinzipiell kein Problem mit den Ultranationalisten hat, sieht
       man auch daran, dass der CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, selbst
       als Anhänger der Grauen Wölfe gilt. Die Geschichte von Tekiner steht
       beispielhaft dafür, dass die Ideologie der [1][Grauen Wölfe in der Türkei
       heute kein Randphänomen, sondern Mainstream] ist; aber auch dafür, dass die
       Grauen Wölfe eine lange Geschichte mit der Bundesrepublik verbindet.
       
       ## „Die ganze Welt ist gegen uns“
       
       Der Weg so mancher „Idealisten“, die in der Türkei ab den 1970er Jahren
       politische Morde begingen, führte durch Deutschland. Aber auch die Morde
       selbst kamen nach Deutschland. Im Januar 1980 wurde [2][Celalettin Kesim],
       ein Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei, in Berlin-Kreuzberg von
       Grauen Wölfen getötet. [3][Seyfettin Kalan] wurde 1995 in Neumünster,
       [4][Ercan Alkaya] 1997 in Kiel und [5][Erol Ispir] 1999 in Köln von Grauen
       Wölfen getötet.
       
       Seit die MHP, als deren Anhänger die Grauen Wölfe gelten, und die AKP eine
       Regierungsallianz eingegangen sind, richtet sich die Gewalt der Grauen
       Wölfe in Deutschland nicht nur gegen Kurd:innen, Alevit:innen und
       Armenier:innen, sondern auch gegen Menschen, die sich gegen die
       Regierungspolitik unter Erdoğan positionieren.
       
       Nachdem Graue Wölfe Ende Oktober [6][in Lyon ein Mahnmal für die Opfer des
       Völkermords an den Armeniern geschändet] hatten, wurden sie in Frankreich
       verboten. Nun möchten deutsche Parteien nachziehen. Laut dem
       Verfassungsschutzbericht 2019 gibt es in Deutschland derzeit mindestens
       11.000 Mitglieder von Organisationen der Grauen Wölfe. Der größte dieser
       Vereine heißt Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in
       Deutschland (ADÜTDF), er wurde 1978 gegründet und gilt als verlängerter Arm
       der MHP. Außerdem sind die Organisationen Union der Türkisch-Islamischen
       Kulturvereine in Europa (ATİB) und die Föderation der Weltordnung in Europa
       (ANF) aktiv.
       
       Aber kann man eine Ideologie verbieten, die Opposition und Mainstream
       zugleich ist?
       
       Der Politikwissenschaftler Tanıl Bora schreibt, die Grauen Wölfe würden als
       lynchende Mobs vorgehen: „Es geht um machistische Solidarität, eine
       Erfahrung der Gemeinschaft, um Freude daran, sich zu versammeln und
       loszuziehen, um Menschen zu verprügeln.“ Zentral seien eine patriarchale
       Kultur des Heldentums, mit der sie versuchten, eine
       “traditonell-provinzielle Männlichkeitskultur zu restaurieren“. Die
       Psychologie dieser Ideologie ist geprägt von historischen Ereignissen wie
       den Balkankriegen vor über 100 Jahren, dem Ersten Weltkrieg, dem Krieg mit
       Griechenland 1919-1921 und einer zentralen Erzählung, die aus diesen
       Erfahrungen entstand: “Die ganze Welt ist gegen uns.“ Diese Ideologie kann
       bis heute nur existieren, wenn sie immer neue Feinde findet.
       
       ## Antiwestliche Paranoia und echte Feindseligkeit
       
       In der jüngeren türkischen Geschichte waren es vor allem die Kommunisten,
       gegen die Graue Wölfe kämpften. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele
       Mitglieder inhaftiert. Aber sie glaubten daran, dass ihre
       antikommunistischen Ideen es an die Staatsspitze geschafft hatten.
       
       Als der eiserne Vorhang gefallen war, die PKK in den 1990ern den
       bewaffneten Kampf aufnahm und in den 2000er Jahren Erdoğan Zuspruch vom
       Westen bekam, setzte sich bei kemalistischen Teilen der Bevölkerung ein
       antiwestliches Ressentiment durch, sie näherten sich den
       Ultranationalisten. Als der bewaffnete Kampf im Südosten der Türkei 2015
       neu eskalierte und Erdoğan eine harte Haltung in der Kurdenfrage einnahm,
       solidarisierten sich die Grauen Wölfe mit ihm.
       
       Weil ab den 1950ern Konservative aus der Provinz, wo die Vorgängerpartei
       der MHP besonders agitiert hatte, in die Metropolen des Landes migrierten,
       popularisierte sich die „idealistische“ Bewegung. Vieler jener, die zum
       Arbeiten nach Deutschland kamen, stammten auch aus ländlichen Regionen. Die
       sozioökonomischen Verwerfungen, die die Landbevölkerung bis dahin
       durchlebte, und die Erfahrungen der Entfremdung in türkischen oder
       deutschen Städten, die auf die Migration folgten, waren wichtige Faktoren
       für Ideologisierung und Radikalisierung.
       
       Zugleich gibt es einen Unterschied zwischen den Konstitutionsbedingungen
       der Bewegung in Deutschland und in der Türkei: Während sich die Ideologie
       in der Türkei aus einer antiwestlichen Paranoia speiste, wurde sie in
       Deutschland von tatsächlich erfahrener Feindseligkeit befeuert: [7][Mölln,
       Solingen und die NSU-Morde waren nur die Spitze der rassistischen Angriffe]
       auf türkeistämmige Migrant:innen in Deutschland.
       
       ## Graue Wölfe als Teil deutscher Migrationsgeschichte
       
       Sie politisierten diese Menschen, verstärkten türkisch-nationalistische
       Gefühle und die Erzählung des “alle gegen uns“. Hinzu kamen der alltägliche
       Rassismus und die ökonomische Ausbeutung. Nach dem Urteil im NSU-Prozess
       2018 sagte der ADÜTDF-Vorsitzende Şentürk Doğruyol: “Die Behörden sollten
       fähig sein, sich vor der türkischen Bevölkerung zu schämen.“
       
       Dieses Gefühl der Bedrohung scheint sich bei Teilen der türkeistämmigen
       Bevölkerung dann wiederum in ein Gefühl der Feindseligkeit gegenüber allen
       als anders wahrgenommenen Menschen verstetigt zu haben – was sich dann
       regelmäßig in Aggressionen gegen Kurdi:innen oder Alevit:innen entlädt. Es
       wurde auch als Doppelmoral wahrgenommen, dass die Nachkommen der Nazitäter
       türkeistämmige Menschen töten und das deutsche Parlament sich gleichzeitig
       mit dem Genozid an den Armenier:innen beschäftigt. Die Geschichte der
       Grauen Wölfe in Deutschland ist also [8][auch Teil der Migrationsgeschichte
       Deutschlands].
       
       Das ändert nichts daran, dass sich die Grauen Wölfe ideologisch kaum von
       Neonazis unterscheiden, die in den 1990ern Häuser türkischer Familien
       anzündeten. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus veröffentlichte im
       Jahr 2016 einen Bericht über die Grauen Wölfe, wonach Neonazis und Graue
       Wölfe sich insbesondere im Kampf gegen Kommunist:innen als Partner
       begriffen.
       
       Alparslan Türkeş, die historische Führungsfigur der MHP, schrieb 1977 in
       einem Brief an türkische Kameraden in Deutschland, dass man doch von den
       “Erfahrungen und Methoden“ der NPD “profitieren“ solle. Insofern ist die
       Geschichte der Grauen Wölfe in Deutschland eine Geschichte von Paradoxie:
       Als eine Form der Kompensation lieferten die Grauen Wölfe eine
       diskriminierende Ideologie für Menschen, die in Deutschland diskriminiert
       wurden, und sahen sich als Verbündete jener, die ihre Anhänger
       diskriminierten.
       
       ## Vereine kann man verbieten, Ideologien nicht
       
       “Sie bedrohen das Wohl der Bundesrepublik. Deutschland wird die Grundwerte
       der Verfassung verteidigen“, sagt der grüne [9][Bundestagsabgeordnete Cem
       Özdemir zum angestrebten Verbot] der Grauen Wölfe gegenüber der taz. Er
       gehört zu den wichtigsten Antreibern des Vorhabens. [10][Am Mittwoch wird
       im Bundestag ein interfraktioneller Antrag der Union, SPD, FDP und Grünen
       diskutiert], laut dem ein Verbot der Grauen Wölfe geprüft werden soll. Auch
       die Linke und die AfD stellen diesbezüglich jeweils eigene Anträge.
       
       Aylin Tekiner ist nicht davon überzeugt, dass ein Verbot das Problem lösen
       wird. Sie verweist auf Vereinsverbote in der Türkei, die wirkungslos
       geblieben sind. “Wenn die Vereine geschlossen werden, wird Erdoğan den Mob
       aufhetzen“, sagt sie.
       
       Vereine kann man verbieten. Um gegen Ideologien vorzugehen, braucht es
       mehr. Und die radikalste Form der nationalistischen Ideologie, die Ideolgie
       der Grauen Wölfe, war noch nie so einflussreich wie heute.
       
       Aus dem Türkischen von Volkan Ağar
       
       18 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://gazete.taz.de/article/?article=!5515598%2F
 (DIR) [2] /Kolumne-Besser/!5023258
 (DIR) [3] /!1493195/
 (DIR) [4] https://jungle.world/artikel/1997/43/viel-freund-viel-problem
 (DIR) [5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/782311.m-ein-toter-die-taeter-und-abwiegelnde-ermittler.html
 (DIR) [6] /Tuerkeistaemmige-Rechtsextreme/!5722522
 (DIR) [7] /Brandanschlag-in-Solingen/!5505947
 (DIR) [8] /Wahlverhalten-der-Deutschtuerken/!5449200
 (DIR) [9] /Cem-Oezdemir-ueber-Graue-Woelfe/!5729269
 (DIR) [10] https://www.bundestag.de/tagesordnung
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ali Çelikkan
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rechtsextremismus
 (DIR) Türkische Gemeinde
 (DIR) Graue Wölfe
 (DIR) Rechte Gewalt
 (DIR) Schwerpunkt Wie umgehen mit Rechten?
 (DIR) IG
 (DIR) Graue Wölfe
 (DIR) Graue Wölfe
 (DIR) Cem Özdemir
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Rechtsextreme Graue Wölfe: Morddrohungen ohne Konsequenzen
       
       Ein türkischer Nationalist bedroht Politiker:innen in Deutschland. Der
       Staat scheint machtlos zu sein, zeigen taz-Recherchen.
       
 (DIR) Tattoo von Mesut Özil: Botschafter von Rechtsextremen
       
       Ex-Fußballnationalspieler Mesut Özil erntet Kritik für ein Tattoo der
       rechtsextremen Bewegung Graue Wölfe. Linke und Grüne fordern mehr
       Gegenwehr.
       
 (DIR) Cem Özdemir über Graue Wölfe: „Dieses Verbot ist überfällig“
       
       Der Bundestag will, dass die türkischen Rechtsextremisten Graue Wölfe
       verboten werden. Cem Özdemir von den Grünen hätte den Antrag gern klarer
       formuliert.
       
 (DIR) Brandanschlag in Solingen: Die Erinnerung fällt schwer
       
       Der Anschlag von Solingen jährt sich zum 25. Mal. Die Stadt ringt um das
       Gedenken – nicht nur wegen des Besuchs des türkischen Außenministers.
       
 (DIR) Wahlverhalten der Deutschtürken: Geschichte einer Enttäuschung
       
       Traditionell wählen türkischstämmige Deutsche die SPD. Jetzt ruft Erdoğan
       zum Boykott auf. Und die CDU gewinnt die Sympathie der Migranten.