# taz.de -- Theaterstück-Stream in München: Im Schatten der Männer
       
       > Das Kollektiv Raum + Zeit hat im Auftrag der Münchner Kammerspiele für
       > den Bildschirm inszeniert: „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“.
       
 (IMG) Bild: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten: Svetlana Belesova als Erika Mann
       
       Der Subtext ist eine tragische Geschichte. Er erzählt von einer Frau, die
       einst als Stil-Ikone der Moderne und des Androgynen verehrt wurde und
       geschätzt als spitzzüngige Kabarettistin gegen Nazideutschland: Erika Mann.
       Im Alter aber wird sie zur eifersüchtigen Hüterin des Familienruhms,
       verteidigt eine Villa voller Bücher gegen Eindringlinge der Gegenwart,
       wühlt sich in die Briefe des Vaters [1][Thomas Mann] und des Bruders
       [2][Klaus Mann] und kommt aus beider Schatten nicht mehr heraus. So erzählt
       es zumindest das Stück „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“, das am
       Mittwochabend im Stream Premiere hatte. Entwickelt wurde es vom
       Theaterkollektiv Raum + Zeit für die Kammerspiele München.
       
       Bevor es losgeht, macht die neue Intendantin Barbara Mundel eine Ansage:
       Wie aufgeregt man sei, Premieren für den Stream zu entwickeln, das sei eine
       neue Herausforderung. Zuvor hatten die Kammerspiele Theater in
       Schaufenstern angeboten, aber weil zu viele Leute gucken kamen, wurde das
       verboten. Das hat man noch im Ohr, wenn es losgeht und vier Schauspieler in
       gläsernen Vitrinen zu sehen sind.
       
       Aus ihrem Schaufensterpuppenleben treten sie aber schnell heraus. Ab und zu
       huschen die schwarz gekleideten Kameraleute durch das Bild, die das
       Livespiel für den Stream einfangen. Das stört nicht sehr, eher schon, dass
       ein paar Mal die Verbindung abbricht und Silben geschluckt werden.
       
       ## Eine symmetrische Konstruktion
       
       Gut folgen kann man trotzdem dem Text, den Lothar Kittstein vom Kollektiv
       Raum + Zeit geschrieben hat und Bernhard Mikeska inszeniert. Es ist
       spannend und emotionsgeladen, weil man erstens gute Schauspieler vor sich
       hat und zweitens der Soundtrack von Knut Jensen das Ganze mit Nervosität
       auflädt. Ein junges Geschwisterpaar (Katharina Bach, Bernardo Arias Porras)
       besucht die alternde [3][Erika Mann] (Svetlana Belesova) 1969 in der Villa
       über dem Zürichsee und will die Rechte, um „Die Geschwister“ von Klaus Mann
       zu verfilmen. Eine symmetrischen Konstruktion, geschaffen, um die Zeiten
       ineinander zu spiegeln. Erika Mann ist abweisend und will sich nicht
       einlassen auf die Verführungskünste der jungen Leute.
       
       Die vierte Figur ist ein älterer Herr im grauen Anzug (Jochen Noch), in dem
       man wahlweise Thomas Mann, Luchino Visconti, der Manns Novelle „Tod in
       Venedig“ verfilmte, und deren Protagonisten Gustav von Aschenbach sehen
       kann. So oder so bewegt den Mann im Anzug ein homosexuelles Begehren, das
       sich nicht ohne Scham und Erniedrigung zeigen kann.
       
       Hmm. Ganz schön viele Referenzen. Ganz schön viel Kulturhuberei. Viel wurde
       über die Familie Mann, ihre vielen Künstler:innen und die Verhältnisse
       der Familie schon geschrieben und in Szene gesetzt. Oft war dabei das
       Interesse der Gegenwart klarer an den Figuren. Zum Beispiel, als die
       französische Regisseurin Ariane Mnouchkine 1979 für ihr Théâtre du Soleil
       den „Mephisto“ von Klaus Mann bearbeitete, löste die Mitläuferrolle von
       Gustav Gründgens noch historische Diskussionen aus und die Androgynität der
       Geschwister Klaus und Erika war noch mehr ein Zeichen der Ermutigung, das
       die Gegenwart in der Vergangenheit suchte.
       
       ## Aufgeheizte Gefühlskammern
       
       Jetzt hingegen weiß man nicht so genau, warum man wieder in diese von
       inzestuöser Hitze aufgeheizten Kammern der Gefühle hineingezogen wird. Für
       die Kammerspiele, die sich in der Intendanz von Barbara Mundel auch mit
       ihrer eigenen Geschichte beschäftigen wollen, gibt es freilich ein Motiv:
       Hier wurden 1930 „Die Geschwister“ von Klaus Mann uraufgeführt und, wie man
       im Stück erfährt, ob der empörten Reaktionen von Männern in Lodenmänteln in
       einer von [4][Nationalsozialisten wimmelnden Stadt] wieder abgesetzt. Die
       Aufführung findet zudem im neu nach [5][Therese Giehse] benannten Saal
       statt; die berühmte Schauspielerin hatte 1933 mit Erika und Klaus Mann das
       antifaschistische Kabarett „Die Pfeffermühle“ gegründet. Doch diese Ebene
       wird in der Inszenierung nur gestreift.
       
       Theater im Stream ist besser als gar kein Theater, auch damit die
       Künstler:innen weiterarbeiten können. Ich öffne vorher das Fenster und
       mache Kniebeugen, um Sauerstoff ins Hirn zu kriegen, und stelle ein Bier
       kalt. Am Ende ist der Weg zur Fernsehcouch doch zu nah, es fehlt die
       Durchquerung von Raum und Zeit auf dem Rückweg, die dem Nachklang eine
       Chance gibt.
       
       22 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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