# taz.de -- Autorin Claudia Durastanti: Weglaufen, um sich frei zu fühlen
       
       > In ihrem Roman „Die Fremde“ erzählt Claudia Durastanti von ihrer
       > gehörlosen Mutter – und einer „Dickens-Kindheit“ in Armut in den USA.
       
 (IMG) Bild: Verhandelt in ihrem Buch die Themen Migration, Armut, Behinderung und Sprache: Claudia Durastanti
       
       Wie viele Arten des Fremdseins, sich Fremdfühlens gibt es? Das könnte eine
       Frage sein, die durch das neue Buch der 1984 geborenen Autorin Claudia
       Durastanti leitet. Eine Art roter Faden angesichts ihrer großen Themen:
       Migration, Armut, Behinderung, Sprache. Von all dem erzählt Durastanti aus
       eigener Erfahrung, sie ist die titelgebende Fremde.
       
       Ihr Verlag nennt das Buch, das es auf die Shortlist des Premio Strega
       schaffte, einen Roman und wirbt zugleich damit, dass es sich um die eigene
       Familiengeschichte handle. Nennen wir es Autofiktion. Entscheidend ist,
       dass es Durastanti eindrücklich gelingt, authentisch – und das ist hier
       positiv gemeint – und literarisch zu erzählen.
       
       Durastanti ist die Tochter italienischer Eltern, die in die USA, nach New
       York emigrierten. Bei ihrer Geburt leben sie bereits getrennt. Mutter und
       Vater sind gehörlos. Vordringlich von ihrer Mutter erzählt die Autorin, sie
       ist die zweite Fremde in diesem Buch, schon vor der Tochter. Durastanti
       versucht, die sich aus der Taubheit ergebende Wahrnehmung der Welt zu
       begreifen und auch den Leser*innen zu vermitteln. Sie erzählt von den
       damit einhergehenden Ängsten der Mutter, aber auch von ihrem unbändigen
       Willen zur Unabhängigkeit.
       
       Schon als junges Mädchen „lernte sie das Weglaufen“. Auf die Fragen der
       Tochter erwidert sie: „,Ich wollte mich nur frei fühlen.' Die einzigen
       Orte, an denen meine Mutter sich vor den unsichtbaren Angreifern hinter
       ihrem Rücken geschützt fühlte, waren Wälder und Straßen.“
       
       ## Die Autorin wird zur Figur in der Erzählung
       
       1990 zieht die Mutter mit ihrer Tochter und dem sechs Jahre älteren Sohn in
       eine ländliche Region Süditaliens. Unter den strengen Augen der
       Dorfgemeinschaft greifen die Hebel des Ausschlusses mehrfach: Sie ist die
       Tochter einer alleinerziehenden, behinderten, armen Mutter, die kein Geld
       verdient und sich als Künstlerin versteht. Und die weiterhin die Freiheit
       in den Wäldern sucht, die Tochter nimmt sie mit oder überlässt die Kinder
       auch mal mehrere Tage lang sich selbst.
       
       Wenn die Autorin in ihre Kindheit und Jugend zurückgeht, verdichtet sich
       ihr Text, wird sie selbst zu einer Figur ihrer Erzählung – was überzeugend
       mit der erfahrenen Intensität der Gefühle korrespondiert, wie ihrer Wut
       oder Scham.
       
       Überschriften wie „Reisen“ oder „Arbeit & Geld“, unter denen sich dann
       Unterkapitel finden, gliedern den Text. Das erlaubt Durastanti, aus dem
       Korsett der Chronologie auszubrechen, sich in einer kaleidoskopartigen
       Auffächerung ihren Themen aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern, den
       sich einer Erinnerung anschließenden Assoziationen zu folgen und doch
       Schwerpunkte zu setzen.
       
       So geht es im Kapitel „Reisen“ um ihre wechselnden Lebensorte: die USA,
       Italien und schließlich London. Hier fokussiert sie sich auf jene
       Fremdheit, die sie mit ihrer Art von Migration verbindet. In „Arbeit &
       Geld“ geht es um soziale Herkunft, ihre Furcht an der Uni, dass ihre
       „Dickens-Kindheit“ auffliegen könnte. Immer wieder reflektiert Durastanti
       den Umgang mit und das Verständnis von Behinderung kritisch. Auch die
       Bedeutung von Sprache und wie sie sich diese in einer
       kommunikationsgestörten Familie aneignet, beschäftigt sie wiederkehrend.
       
       Stil und Form sind fließend: mal sehr dicht, erzählerisch, nah am
       Geschehen; dann wechselt die Autorin in eine distanziertere Erzählposition,
       wird zur Beobachterin gesellschaftlicher Phänomene, die Form wandelt sich
       zum Essayistischen. Darin ähnelt sie Autorinnen wie [1][Maggie Nelson] oder
       [2][Rachel Cusk], die ebenfalls vom Persönlichen ausgehend Gesellschaft
       erkunden, in einer ständigen Pendelbewegung beide Bereiche einander
       erhellend verbinden.
       
       So ist „Die Fremde“ eine intensive, intime Selbsterkundung: Wie kommt es zu
       dem grundlegenden Gefühl Durastantis, sich in so vielerlei Weise als eine
       Fremde zu fühlen – nirgends zugehörig? Und weist doch weit darüber hinaus.
       
       ## Harmonisches Beben
       
       Nicht zuletzt erzählt das Buch eine berührende Mutter-Tochter-Geschichte,
       in der die Tochter sich emanzipiert – und so zu einer neuen Empathie für
       die Mutter fähig wird, die sie einmal als ein „harmonisches Beben“
       beschreibt, das „alles zerstört“. Und die sie als eine zugleich (ihrer
       Behinderung, den gesellschaftlichen Zuschreibungen) ausgesetzte und
       selbstbestimmte Persönlichkeit zeichnet.
       
       So zieht sie es vor, für eine Ausländerin mit Sprachfehler gehalten zu
       werden statt für eine Frau mit Behinderung: „Wenn sie in den Bus stieg, und
       die Fahrer sie manchmal fragten, ob sie Peruanerin oder Rumänin sei, nickte
       sie nur, ohne weitere Erklärungen abzugeben, der Irrtum schmeichelte ihr
       fast.“ Erst spät bringt Durastanti für derlei „Lügen“ Verständnis auf,
       erkennt darin die Freiheit, die eigene Persönlichkeit zu behaupten. Der
       ausschließenden Definition als Fremde von außen setzt die Mutter die von
       ihr bevorzugte Art der Fremdheit entgegen.
       
       Es macht, so legt die Autorin nahe, einen entscheidenden Unterschied, ob
       man von außen als Fremde gekennzeichnet und somit ausgeschlossen wird oder
       ob man sich selbst in bestimmten Kontexten so definiert beziehungsweise
       diese Position einnimmt. Dann kann darin auch ein befreiendes Moment
       liegen, das der leidvollen Erfahrung entgegenzusetzen ist.
       
       1 May 2021
       
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