# taz.de -- Naziverstrickungen der frühen documenta: Der Neuanfang, der keiner war
       
       > Eine Ausstellung in Berlin beleuchtet die Geschichte der documenta. Vom
       > Mythos der kulturellen Neugründung der Bundesrepublik bleibt wenig übrig.
       
 (IMG) Bild: Werner Haftmann (l.) und Arnold Bode bei der documenta 3, 1964
       
       Ein holzgetäfelter Raum im Stil der 70er Jahre. Im Vordergrund ein
       Schreibtisch mit Telefonen, Bildschirm und Bogenlampe, im Hintergrund eine
       Besprechungstafel, alles in Ockertönen. An der Wand sieht man das Bild
       einer Meereslandschaft in Braun und Blau. Man übersieht die kleine
       Fotografie leicht in der jüngsten Ausstellung des Deutschen Historischen
       Museums (DHM) in Berlin. Doch wer über die ideologische Wirkungsgeschichte
       der documenta nachdenkt, dem liefert das Dokument einen erhellenden Moment.
       
       Als Bundeskanzler Helmut Schmidt 1976 sein Amtszimmer im neu gebauten
       Bundeskanzleramt in Bonn bezog, hängte er ein Schild vor die Tür, auf dem
       „Nolde-Zimmer“ stand. Drinnen hängte er das Werk „Meer 3“ des 1956
       gestorbenen norddeutschen Malers auf. Einundzwanzig Jahre nach der Gründung
       der documenta im Jahr 1955 ratifizierte der mächtigste Politiker des Landes
       noch einmal die gezielte Geschichtsklitterung von deren Gründervätern, der
       expressionistische Maler sei ein Held des inneren Widerstands gewesen.
       
       In Wahrheit war Nolde [1][ein glühender Antisemit]. Doch der
       Kunsthistoriker Werner Haftmann, wichtigster Mitarbeiter von
       documenta-Gründer Arnold Bode, sorgte dafür, dass Nolde auf der ersten
       Schau einen prominenten Auftritt und den unverdienten Ritterschlag des
       „existenziellen Antifaschisten“ erhielt.
       
       Ganz neue Erkenntnisse über die in den vergangenen drei Jahren
       scheibchenweise zutage geförderten NS-Hintergründe der documenta liefert
       die Ausstellung nicht. Sieht man von dem Brief ab, mit dem Werner Haftmann
       zugab, von Noldes Gesinnung gewusst zu haben.
       
       „Zu tun ist da nichts weiter, als den Mund zu halten“, schrieb er 1963 an
       den Schokoladefabrikanten und Kunstmäzen Bernhard Sprengel, als in den USA
       ein Streit über den „wüsten Nazi Nolde“ anhub. Wenn das Helmut Schmidt
       gewusst hätte …
       
       ## Doppelte Frontstellung
       
       Der Schau gebührt aber das Verdienst, die bislang meist unter Experten
       diskutierten Forschungen nun einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
       Kein leichtes Unterfangen. Die Schwierigkeit, die spannende Großthese der
       Kurator:innen von der „Neuerfindung der Bundesrepublik“ unter der
       doppelten Frontstellung von Westbindung und Antikommunismus bei
       gleichzeitiger Abwehr der braunen Vergangenheit sinnlich nachvollziehbar zu
       machen, zeigt sich gleich zu Beginn.
       
       Für die Kunstwissenschaftlerin Julia Friedrich vom Kölner Museum Ludwig ist
       beispielsweise Wilhelm Lehmbrucks Statue „Die große Knieende“ aus dem Jahr
       1911 ein zentraler Beleg für Haftmanns documenta-1-Strategie.
       
       Von den Nazis als „entartet“ geschmäht, signalisierte das Werk zwar – wie
       gewollt – die Versöhnung mit der verfemten Moderne. So wie Bode und
       Haftmann sie vor den unverputzten Wänden des Fridericianums platzierten,
       verdrängte sie zugleich die Frage nach Verbrechen und Verantwortung mittels
       einer „Inszenierung diffuser Verstricktheit“ und dem „Pathos
       transzendentaler Obdachlosigkeit“. In Kassel stand Lehmbrucks Arbeit 1955
       in den ausgebombten Ruinen. In Berlin steht sie nun in einem niedrigen Saal
       unter einer Deckenleuchte auf einem niedrigen Podest. Zum Beweisstück
       geschrumpft, lässt sich die ideologische Prägekraft von einst höchstens
       erahnen.
       
       ## Wie auf Schnitzeljagd
       
       Ansonsten gleicht die Schau mitunter einer forensischen Schnitzeljagd, bei
       der man sich ziemlich oft über Vitrinen beugen muss. Etwa, um das vergilbte
       Dokument in Augenschein zu nehmen, mit dem der Oxforder Historiker Bernhard
       Fulda die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns belegen konnte.
       
       Oder um mit zwei grauen Künstlerlisten vom Dezember 1954 belegt zu
       bekommen, dass jüdische und kommunistische Künstler:innen auf den ersten
       documenta-Schauen nicht nur zufällig nicht wieder rehabilitiert wurden,
       oder weil nicht schnell genug an Leihgaben zu kommen war, sondern mit
       Vorsatz aus der Moderne à la Haftmann ausgegrenzt wurden.
       
       Auf dem Zettel findet sich der durchgestrichene Name von Otto Freundlich,
       einem kommunistischen Künstler, der 1943 in Majdanek ermordet wurde, und
       der von Rudolf Levy. Der jüdische Maler wurde 1943 in Florenz, wo
       zeitweilig auch Haftmann wohnte, von der SS verhaftet. Er starb auf dem
       Transport nach Auschwitz.
       
       Es ist also kein Zufall, dass in der Ausstellung viele Werke des Emigranten
       Levy wie ein Selbstporträt aus seinem Todesjahr hängen, die auf der
       documenta 1 nicht gezeigt wurden. Hier weitet sich das Prinzip der
       Kuratorinnen „Lücken aufzeigen, ohne sie zu reproduzieren“ zur
       Rehabilitierung.
       
       ## Ausgrenzung des Jüdischen
       
       Die Ausgrenzung des Jüdischen verfolgte natürlich einen Sinn. So wie Bode
       und Haftmann auf Abstrakte wie Fritz Winter, Georges Braque oder Alexander
       Calder setzten, sollte das die Abgrenzung zum NS-Kunstverständnis und den
       Anschluss an das ästhetische Credo West markieren. Wären jüdische Künstler
       berücksichtigt worden, hätte unweigerlich die Frage nach dem Terrorsystem
       der Nazis im Raum gestanden, das sie ermordete und an dem etliche der
       Mitarbeiter:innen der ersten vier documentas beteiligt waren.
       
       Vielleicht schrieb deshalb Haftmann wider besseres Wissen den
       ungeheuerlichen Satz: „Die moderne Kunst wurde als jüdische Erfindung zur
       Zersetzung des ‚Nordischen Geistes‘ erklärt, obwohl nicht ein einziger der
       deutschen modernen Maler Jude war.“ Groß prangt das Zitat aus seinem
       epocheprägenden Werk „Die Malerei des 20. Jahrhunderts“, von dem ein
       Originalexemplar unter einem Glassturz in der Schau ruht, auf einer der
       Stellwände der Ausstellung.
       
       Erst 1977, 22 Jahre später also, standen die Zeichen in Kassel auf
       Aufarbeitung. Ausgerechnet mit dem Bild eines der bis dato ausgegrenzten
       Künstler aus der DDR. In Berlin ist noch einmal Werner Tübkes
       großformatiges Ölgemälde „Die Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III“
       von 1965 zu sehen. Mit der Figur eines fiktiven Richters spielte der
       sozialistische Manierist auf die Auschwitzprozesse an.
       
       Es gehört freilich zur Dialektik der documenta, dass sie nie nur ein
       Verblendungs- und Instrumentalisierungszusammenhang war. Spätestens
       mit der von dem Schweizer [2][Kurator Harald Szeemann] kuratierten
       documenta 5 im Jahr 1972 ebnete sie unter dem Titel „Bildwelten heute“ die
       Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur ein, hatte sie sich aus dem engen
       Korsett der Gründerväter befreit.
       
       Davon zeugen die lustigen Gartenzwerge mit den Gesichtern von Adenauer,
       Chruschtschow oder de Gaulle, die Eberhard Roters damals als Beispiele des
       Trivialrealismus in der Sektion „Parallele Bildwelten“ neben Büsten oder
       ideologischen Emblemen gezeigt hatte. Doch unabhängig von jeder
       ideologischen Blickformatierung durch die Schau, die im nächsten Jahr mit
       ihrer 15. Ausgabe 67 Jahre alt werden wird, eint alle ihre Freund:innen
       das Gefühl der „Erwartung von etwas Künftigem, noch Unbenennbaren“.
       
       ## Erweiterung der Grenzen
       
       Das gestand Ingeborg Lüscher, die Frau des 2005 gestorbenen Harald
       Szeemanns, dem Übervater aller Kurator:innen, DHM-Kuratorin Julia Voss in
       einem Interview, das in dem hervorragenden, weil prägnanten und
       informativen Katalog abgedruckt ist.
       
       Bei jeder bevorstehenden Ausgabe, so beschrieb die Foto- und
       Installationskünstlerin das der Schau eben auch eigene Prinzip der
       imaginativen Grenzerweiterung, hofften die Besucher doch immer wieder auf
       „die Ausdehnung der Welt“. Ein zeithistorisches Kontinuum, das sich nicht
       ausstellen lässt.
       
       19 Jun 2021
       
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