# taz.de -- Literaturkritik: Sprengt Denkmäler, schreibt welche!
       
       > Die sackfreien Jahre: Die aktuelle Literatur ist auf keine schlichten
       > Begriffe zu bringen, so frei ist sie. Aber was ist los mit der
       > Literaturkritik?
       
 (IMG) Bild: Tragen Leser*innen zur Lektüre von Gegenwartsliteratur die rosarote Brille?
       
       Kleine Alltagsbeobachtung: Meinem Gefühl nach interessieren sich seit
       einiger Zeit komplett alle glühend für Literatur. „Sie sind also Lektor“,
       sagen die verschiedensten Leute irgendwo in einer Warteschlange oder auf
       dem Pannenstreifen oder mitten im dunklen Wald zu mir, sobald das Reden
       zufällig auf Bücher kommt. Dann machen sie kurz Pause, die Augen glitzern,
       und jedes Mal folgt der gleiche Satz: „Ich schreibe nämlich.“
       
       In meinen Jahren als Lektor habe ich gelernt: Beim allgemeinen
       Schreibenwollen geht es auch darum, sich der eigenen Identität zu
       vergewissern, was gar nichts Neues und natürlich ehrenwert ist – und nie
       der ausschlaggebende Grund, aus dem Verlage sich für oder gegen Manuskripte
       entscheiden. Neu ist bloß, dass die Idee, selbst ein Buch zu schreiben, für
       immer mehr Milieus denkbar wird.
       
       Das hat sicher etwas mit Vorbildern zu tun. Mit der zunehmenden
       Sichtbarkeit von Geschichten und Autor*innen, die sich den Kriterien und
       Traditionen jenes etablierten, weißen, heteronormativen Bildungsbürgertums
       entziehen, das auch 2021 noch den Großteil von Verlagswesen und Kritik
       ausmacht. Für jede nicht vollkommen abgehobene Position lautet in diesen
       Jahren eine zentrale Frage der Gegenwartsliteratur: Was für ästhetische
       Veränderungen bewirken derart massive gesellschaftliche Öffnungen?
       
       Daran musste ich denken, als ich die, nun ja, Veränderungen gegenüber nicht
       gerade offenen Thesen des Münsteraner Literaturwissenschaftlers Moritz
       Baßler las. [1][Seine gerade in der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik
       veröffentlichte] lesenswerte und von [2][SZ] bis [3][FAZ] diskutierte
       Generalattacke lautet: Bei der gegenwärtig erfolgreichen Literatur gehe es
       keinen Millimeter mehr um die Hinterfragung und Verkomplizierung der Welt.
       
       ## Künstlerische Freiheit oder Selbstvergewisserung?
       
       Sondern um beschwerdefrei genießbare identitäre Zugehörigkeitsgefühle, von
       den Millionen kritiklos hingerissenen Leser*innen der
       [4][Instagram-Gedichte Rupi Kaurs] bis zur Weigerung woker
       Akademiker*innen, die postmoderne Komplexion eines David Foster Wallace
       auch nur aufzublättern.
       
       Alle diese Identitätsbubbles täten letztlich nur so, als ob sie sich mit
       schwierigen Fragen und Formen auseinandersetzten. Die eigene Weltanschauung
       Herausforderndes käme aber literarisch schlicht nicht vor bei den „Themen
       und Problemen, für die sich die partikularen Gruppen interessieren (loss,
       trauma, abuse, Misogynie, Rassismus, Kapitalismus, Flucht)“ – alles stets
       zum Wohlfühlen „in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen
       Autorinnen!“.
       
       Uff. Was für Sätze, darauf einen Schnaps. Statt darüber nachzudenken,
       welche ästhetischen Möglichkeiten demokratische Öffnungen nach sich ziehen,
       wie es sie in der Geschichte der Literatur immer wieder gegeben hat,
       erkennt Baßler unter dem Leseverhalten „partikularer Gruppen“ nichts als
       künstlerische Flachheit. Wann soll dieser kuschlig-identitätsstiftende
       Stumpfsinn eingesetzt haben? Philip Roth überführte 1969 in „Portnoys
       Beschwerden“ zu riesigem Applaus radikal einseitig jüdische Traumata in
       Fickfantasien.
       
       Warum wirft Baßler dann exklusiv einem Gegenwartstext wie [5][Olivia
       Wenzels] unter anderem vom Rassismus erzählenden Roman „1000 Serpentinen
       Angst“ vor, in einer Szene Nazis nicht deep genug darzustellen? Baßler
       basht die ihm ebenfalls zu einseitigen Prenzlauer-Berg-Zerfleischungen der
       Romane Anke Stellings – aber warum soll allein das angeblich
       „Nichtidentitäre“ in den Himmel der Literatur führen? Können
       Leser*innen ab circa acht Jahren nicht mündig mit Schreibstrategien
       umgehen?
       
       Ich fürchte, Baßlers symptomatisches Problem mit der Gegenwartsliteratur
       ist gar nicht die Literatur. Das Problem steckt vielmehr im Zustand ihrer
       Kritik, von den deprimierenden Oberlehrergehässigkeiten des „Literarischen
       Quartetts“ über die pseudomutig alle meistdiskutierten Romane des Frühjahrs
       ignorierende Liste des Preises der Leipziger Buchmesse bis zur höhnischen
       Weigerung von Teilen der Bachmann-Wettbewerb-Jury, sich mit einem „zu
       klugen“ Text der Autorin Heike Geißler auseinanderzusetzen.
       
       [6][„Kriterienkrise“] hat die Rezensentin Marlen Hobrack solche
       Fundamentalvernichtungen genannt, als sie darüber nachdachte, warum mehrere
       Rezensenten in einer Art aggressiver Arbeitsverweigerung über Karen Köhlers
       gleichnishaft ein Frauenschicksal behandelnden Roman „Miroloi“ urteilten,
       dieser sei „gar keine echte Literatur“.
       
       ## Es sind die sackfreien Jahre der Kultur
       
       In Wahrheit kaschiert das Abfertigen aktueller Texte als „kuschelige
       ästhetische Geschlossenheit von Angebot und Nachfrage“ (Baßler) oder
       kürzer: „Identitätskitsch“ (Klagenfurt-Juror Philipp Tingler) nur eines:
       Das Missbehagen etablierter Kritiker*innen darüber, dass ihre eigene
       wertgeschätzte Identität mit den zugehörigen ästhetischen Kriterien nicht
       die allgemeinverbindliche Messlatte darstellt.
       
       Dafür spricht stark, dass Baßler in seinem Essay so bemüht wie mit dem
       Teddyautomaten-Greifarm einzelne Gegenwartstexte von dem von ihm so
       genannten „neuen Midcult“ aller vermeintlich identitären Wohlfühlliteratur
       ausnimmt: Sie wären aus nebligen Gründen in „Form und Kontext“ höherstehend
       – aha, okay.
       
       So was Freies wie Ästhetik funktioniert leider im Jahr 2021 wie ein übles
       Machtritual, wie es die Bundesjugendspiele sind: Hohepriester verhängen
       Regeln, nach diesen Regeln wird sortiert, die versagenden Trottel kriegen
       bloß Teilnahmeurkunden hingeschmissen – und die bedeuteten schon damals im
       Sportunterricht in Wahrheit, dass die Sache ohne die eigene Teilnahme für
       alle anderen noch viel schöner wäre.
       
       Es geht also um Ausschlüsse.
       
       Die literaturkritische Überzeugung, dass allein man selbst sich nach
       tiefgründigen ästhetischen Maßstäben richtet, alle abgekanzelten Ästhetiken
       aber profan-stillose Politik treiben, ist selbst nichts anderes als eine
       zutiefst politische Handlung – die des Ausschließens.
       
       Und die sich immer weiter öffnende aktuelle Literaturlandschaft widersetzt
       sich heftig wie nie dieser uralten Idee der Exklusivität. Es ist dieses
       Auseinanderklaffen von Kritikerköpfen und Textkörpern, das den seltsamen
       Umstand dieser Jahre erzeugt, eine viel interessantere Literatur zu haben
       als ein allgemeines Gespräch über sie.
       
       Es sind die sackfreien Jahre der Kultur: Keine Säcke, wie etwa ich als
       Lektor, bestimmen mehr so einfach wie früher, welche Kunst in welchen Sack
       hineindarf und welche nicht. Was nicht bedeutet, dass all die für
       Kulturbetriebe notwendigen Figuren sich einfach auflösen. Sondern
       umgekehrt: In einer nun wirklich längst nicht mehr an die Codes einer
       einzigen Hochkultur glaubenden Kultur werden Lektorate, Rezensionen,
       wissenschaftliche Annäherungen überhaupt erst gut, wenn sie endlich auch
       von sich selbst sprechen – und ihre eigenen ästhetischen Positionen
       selbstkritisch benennen.
       
       Je stärker sich die Gegenwartsliteratur auf allen Betriebspositionen
       erweitert, desto mehr Diskussionsbedarf besteht an jeder Stelle. Mein
       Lektorieren etwa kommt mir vom ersten Rein-gar-nichts-Verstehen bis zum
       Kommasetzungskorrigieren kurz vor Druck längst nicht mehr so vor, als wäre
       ich der Textboss, der ästhetisch irgendwas durchzupeitschen hätte, sondern
       als könnten alle beteiligten Seiten Dinge lernen.
       
       Was wohl ähnlich für allgemeine kulturelle Diskussionen gelten könnte,
       nähert man sich ihnen ohne normative Gewalt. Nützlich wäre dazu vermutlich,
       die Literatur der Gegenwart mit ihr gegenüber aufgeschlossenen Begriffen zu
       beschreiben. Nennen wir ihre auffälligste Tendenz doch in Anlehnung an den
       US-Literaturwissenschaftler Mark McGurl: Kultureller Pluralismus.
       
       Anders als beim alle Unterschiede zu einer einzigen mäßigen Pampe
       nivellierenden „Midcult“ steckt in dieser Perspektive drin, dass in der
       Gegenwartskultur viel Verschiedenes von vielen verschiedenen Standpunkten
       her zu entdecken ist – wenn man nur will. In der pluralen Gesellschaft
       diskutieren eben nicht partikulare Identitätsmobs ausschließlich ihr
       eigenes Rudel seligmachende Bücher. Es gibt eine Vielzahl zu entdeckender
       Positionen. Kultureller Pluralismus betont, ständig auf Schreibweisen
       stoßen zu können, die gerade eben nicht die eigenen Erfahrungen ausmachen.
       
       Was jeder kurze Blick auf die Bestsellerlisten bestätigt. [7][Bernardine
       Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“] erzählte aus Sicht von zwölf
       unterschiedlichen britischen Schwarzen Frauen. Anne Webers „Annette, ein
       Heldinnenepos“ in Versform vom Leben einer französischen
       Widerstandskämpferin. Christian Krachts „Eurotrash“ von Problemen mit der
       Familie und dem Reichsein. Es wird viele Menschen geben, die zwei oder alle
       drei dieser Romane lasen.
       
       Und es ist leicht zu benennen, was das wäre, wenn durch Raunen über den
       allzu banalen Erfolg „partikularer Gruppen“ „mit den richtigen Autorinnen“
       die Idee entstehen sollte, dass nur der erste dieser drei Romane mit seiner
       Schwarzen Autorin, seinen Schwarzen Figuren und seinen Verhandlungen von
       Rassismus gar nicht für die gesamte Gesellschaft geschrieben wäre:
       Ausschließend, abwertend, rassistisch.
       
       Florian Kessler ist Lektor im Carl Hanser Verlag.
       
       14 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://pop-zeitschrift.de/2021/06/28/der-neue-midcultautorvon-moritz-bassler-autordatum28-6-2021-datum/
 (DIR) [2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/moritz-bassler-midcult-identitaetspolitik-1.5343159
 (DIR) [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/moritz-bassler-im-gespraech-ueber-gegenwartsliteratur-17428367.html
 (DIR) [4] https://www.instagram.com/rupikaur_/
 (DIR) [5] /Autorin-Olivia-Wenzel-ueber-Identitaet/!5666451
 (DIR) [6] https://www.freitag.de/autoren/marlen-hobrack/kriterienkrise
 (DIR) [7] /Bernardine-Evaristo-ueber-Sichtbarkeit/!5746578
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Florian Kessler
       
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