# taz.de -- SPD bei der Bundestagswahl: Wahlchance des Klassenlehrers
       
       > Der Abgesang auf die SPD ist voreilig. Die Partei könnte Gerechtigkeit
       > und Solidarität mit einer hinreichend radikalen Klimapolitik versöhnen.
       
 (IMG) Bild: Sieht manchmal aus wie der Klassenlehrer der 5b: Olaf Scholz
       
       Vor einigen Wochen ist Olaf Scholz nach Washington geflogen, in seiner
       Arbeitstasche eine kleine Revolution: ein Plan für die globale Besteuerung
       von Amazon, Google und Co. Auf den Bildern des Besuchs sah man dann zwar
       einen Mann, der aussah wie der Klassenlehrer der 5b. Aber [1][Scholz] ist
       tatsächlich mit einer historischen Einigung nach Hause gekommen. Die
       Finanzminister der G20 haben eine globale Mindeststeuer für international
       agierende Unternehmen beschlossen.
       
       Eine der großen Bruchlinien der Globalisierung ist damit neu vermessen
       worden, die Flucht des Kapitals nicht mehr ganz so leicht möglich. Scholz,
       dessen Wahlkampf bisher kaum sichtbar ist, hat einen [2][Coup gelandet]. Er
       hat einen Gerechtigkeitssinn adressiert, der daran erinnert, wie
       Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert aussehen könnte: Die Stellung des
       Staates als Schutzpatron seiner Bürger.innen stärkend in einer
       unübersichtlichen, entgrenzten Welt.
       
       Als die SPD mit Olaf Scholz einen eigenen Kanzlerkandidaten kürte, erfuhr
       sie eine Mischung aus mitleidigem Lächeln und Häme. Was will eine Partei,
       die in den Umfragen um 15 bis 17 Prozent dahindümpelt, mit einem eigenen
       Kandidaten fürs Kanzleramt? Eine Ampel-Koalition – die einzige Option, die
       der SPD zur Führung einer Regierung bliebe – ist derzeit nur dann
       Gegenstand öffentlicher Diskussionen, wenn Christian Lindner ihr die x-te
       Absage erteilt. Alle Augen richten sich auf schwarz-grün, auf die teils
       vermessenen, teils tapsigen Patzer von Annalena Baerbock sowie das
       tollpatschige Kichern Armin Laschets oder nun dessen eigene kleine
       Plagiatsaffäre.
       
       Aber der rote Abgesang ist voreilig. Die SPD könnte noch gebraucht werden.
       Was passiert, wenn es angesichts der akuten Schwäche der anderen beiden
       Spitzenkandidaten für schwarz-grün am Ende gar nicht reicht? Wenn die Frage
       also doch lautet: Jamaika, Deutschland-Koalition oder Ampel?
       
       ## Fokus des Wahlkampfs jetzt auf Klimapolitik
       
       Die Flut hat den Fokus dieses Wahlkampfs ganz auf die Klimapolitik
       gerichtet, bei der Bundestagswahl stehen epochale Entscheidungen auf dem
       Spiel. FDP und Union, das lehrt ein Blick in die Wahlprogramme, würden in
       der Klimapolitik eher als Doppelbremse wirken. Eine Ampel wäre da allemal
       die bessere Option.
       
       Nur, die SPD taugt nicht nur zur Mehrheitsbeschaffung. Denn wer Klima sagt,
       muss dies auch sozial vermittelbar denken. Die überragende Aufgabe der
       nächsten Bundesregierung wird darin bestehen, radikale Entscheidungen zu
       treffen, diese aber mit einer Milde und Geduld zu vermitteln, die möglichst
       wenige Menschen zurücklässt. Dafür kommen weder die Grünen noch die
       Liberalen in Frage, deren Klientel sich jeweils auf der Gewinnerseite der
       Globalisierung versammeln. Und der rheinische Herz-Jesu-Katholik Armin
       Laschet zeigt derzeit erstaunliche Schwächen darin, die Herzen der Menschen
       zu erreichen.
       
       Die SPD könnte die Partei sein, die ein zeitgemäßes Verständnis von
       Gerechtigkeit und Solidarität mit einer hinreichend radikalen Klimapolitik
       versöhnt – und damit eine Diskussion der vergangenen Jahre öffnet, die
       blockiert schien von den Gegensätzen zwischen Stadt und Land, weiß und
       divers, woke und abgehängt, analoger und digitaler Ökonomie.
       
       Sigmar Gabriel und Martin Schulz haben viele Jahre lang nach einer Formel
       gesucht, wie eine moderne Sozialdemokratie aussehen kann, die gleichzeitig
       die Verlierer und die Gewinner der Globalisierung adressiert. Sie haben sie
       nicht gefunden. Nach der Bundestagswahl 2017 war die SPD ein Fall für die
       Palliativmedizin. Das attestierte selbst eine von der Partei engagierte
       Gruppe externer Expert.innen. „Aus Fehlern Lernen“ war die Analyse
       überschrieben. Aus zentralen Kritikpunkten hat die Partei nun Konsequenzen
       gezogen.
       
       ## Aus Fehlern gelernt
       
       Den Fehler, die Kandidatenfrage zu lange offen zu lassen, hat die SPD nicht
       noch einmal begangen. Scholz ist unangefochten, selbst aus dem
       Willy-Brandt-Haus und der Fraktion feuern keine Heckenschützen auf ihn. Wer
       bei Andrea Nahles oder Martin Schulz nachfragt, weiß, wie SPD-untypisch
       dies ist.
       
       Eine attestierte „tiefe Entfremdung zwischen sozialdemokratischer Basis und
       ihrer Führung“ ist durch die Urwahl des Vorsitzenden-Duos aus der eher
       linken Basis tendenziell überbrückt. Und das Trio aus Saskia Esken, Norbert
       Walter-Borjans und Olaf Scholz hat die Flügelkämpfe beruhigt. Zumindest bis
       auf Weiteres.
       
       Damit sind die Grundlagen für einen halbwegs stimmigen Wahlkampf
       geschaffen. Der Rest ist eine Frage des Inhalts. Als Martin Schulz 2017 vor
       allem über Gerechtigkeit und Respekt sprach, schossen die Umfragewerte „in
       kaum für möglich gehaltene Höhen“. Aber Schulz wandte sich im Wahlkampf
       anschließend anderen Themen zu, mit dem bekannten Ergebnis.
       
       Wenn Olaf Scholz in diesen Tagen spricht, muss man auf den Begriff Respekt
       nicht lange warten. „Aus Respekt vor deiner Zukunft“ steht über dem
       Wahlprogramm der SPD. „SPD“ hat die Wahlkampagne mit „Soziale Politik für
       Dich“ übersetzt. Jenseits der Floskelhaftigkeit lohnt ein Blick darauf, was
       sich dahinter verbirgt.
       
       An allererster Stelle steht im Programm das Kapitel zu Klimaneutralität. Es
       ist ein Signal. Ja, die SPD ist noch immer für den Mindestlohn. Scholz und
       Co haben sich aber entschieden, eine neue sozialdemokratische Mischung
       anzurühren: sie wollen Klimapolitik sozialverträglich gestalten und den
       Staat gegen die transnationalen Multis stärken. Die globale Mindeststeuer
       ist dafür nur ein Beispiel.
       
       ## Von den Schwächen der anderen profitieren
       
       Soziale Abfederung der Risiken in einer globalisierten, klimagebeutelten
       Gesellschaft werden eine zentrale Bedeutung bei der Wahlentscheidung haben.
       Wenn es der SPD gelingt, jene vom Soziologen Heinz Bude als „erwachsene
       Wähler.innen“ bezeichnete große Gruppe anzusprechen, die sowohl Solidarität
       als auch Klimapolitik einfordert und für die es gerade kein wirklich
       mutiges Politikangebot gibt – dann hat die Partei eine Chance, die
       womöglich entscheidenden zwei, drei Prozentpunkte mehr zu erreichen.
       
       Sie kann dabei von den unerwarteten Schwächen der anderen profitieren. Von
       den Grünen, deren Spitzenkandidatin derzeit im Wochenrhythmus dokumentiert,
       dass die ihr vorgeworfene politische Unerfahrenheit tatsächlich existiert.
       Und in der Union lacht Laschet nicht nur zum falschen Zeitpunkt, er
       schweigt auch an der falschen Stelle: da nämlich, wo es eine klare Aussage
       zur Klimapolitik bräuchte.
       
       Er ist derzeit ein Paradebeispiel, wie die Angst vor dem gesellschaftlichen
       Wandel notwendige Reformen blockiert. Das reicht für 25 Prozent der
       Bevölkerung, aber nicht für sehr viel mehr. Laschets Versuch, niemanden zu
       verschrecken, verschreckt zumindest die von Bude beschriebenen „erwachsenen
       Wähler.innen“.
       
       Der Wahlkampf ist noch lang, in den USA wartet die Nation alle vier Jahre
       auf eine „October surprise“, eine Überraschung kurz vor dem Wahltag. Aber
       wenn die Flutkatastrophe diese Überraschung schon war, wenn Olaf Scholz
       seiner gefundenen Linie treu bleibt, eine entschiedene Klimapolitik mit
       einer modernen Rolle des Staates als Kümmerer zu versöhnen – dann findet
       vielleicht auch ein Klassenlehrer aus der 5b noch seine Rolle.
       
       2 Aug 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Junge
       
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