# taz.de -- Frauen und unerwünschte Gefühle: Das Recht auf Wut
       
       > Fürsorglichkeit wird gesellschaftlich verweiblicht, Wut vermännlicht.
       > Wären Emotionen geschlechtsunabhängig, würden viele Ungerechtigkeiten
       > enden.
       
 (IMG) Bild: Wer wütend ist, hat Macht. Wer sie nicht ausleben darf, wird kontrolliert
       
       Wut ist eine ausgesprochen nützliche Emotion. Im Prinzip ist sie ein
       innerer Kompass, der zeigt, ob etwas Ungerechtes passiert. Meine eigene
       Empörung ist ein Warnsignal. Sie schützt mich. Menschen, die ärgerlich
       reagieren, werden häufig als fähiger, kompetenter und kräftiger
       wahrgenommen. Das erlebt Simone O., wenn sie als Krankenschwester ihre Wut
       nutzt. Sie ist 51 Jahre alt und seit über 33 Jahren „am Bett“, das heißt in
       der Intensivstation tätig.
       
       Simone O. liebt diese vermeintlich unbeliebte Emotion: ihre Wut. Sie nutzt
       sie als Katalysator: Sie schluckt ihre Wut nicht herunter oder drückt sie
       weg, sondern wandelt sie in Energie, um Grenzen zu setzen. Beispielsweise,
       indem sie ihre Patient*innen vor jungen Assistenzärzt*innen
       schützt, sobald diese sich selbst überschätzen und ihnen schaden könnten.
       Und das, obwohl sie aufgrund der Hierarchien im Krankenhaus nicht
       eingreifen dürfte. Das sicherte ihr den Spitznamen „Bitch der Station“.
       
       „Dabei finde ich die Bezeichnung überhaupt nicht schlimm“, so Simone O.,
       „Ganz im Gegenteil. Wir – ein paar Kolleginnen und ich – haben sie uns
       erarbeitet“, sagt sie stolz. „Wut zu demonstrieren hat auch viel damit zu
       tun, in was für einem Setting du dich bewegst. Ich bediene mich der
       Stereotype der Drachen-Schwester. Dabei ist es mir egal, was die Leute über
       mich denken. Das macht mich frei“, sagt sie. Ein Drache speit Feuer, ist
       stark, selbstbewusst und mächtig. Dieses Bild beschert Simone Respekt und
       die Kraft, sich jenseits des verweiblichten Fürsorglichkeitskults zu
       bewegen.
       
       Denn Fürsorge wird in der Regel als weiblich wahrgenommen. Dieser Prozess
       entlässt Männer aus der Verantwortung, liebevoll zu sein, und entwertet
       Frauen in Careberufen. Das sorgt dafür, dass Menschen, die in diesen
       Bereichen arbeiten und überproportional häufig weiblich sind, strukturell
       schlechter bezahlt werden, unter Stress leiden und eine hohe
       Arbeitsbelastung haben.
       
       Der perfide Gedanke ist: Frauen pflegen doch gern. So gern, dass sie das
       für wenig oder kein Geld machen. Es ist ihr natürliches Verlangen. Es ist
       das Fundament der kapitalistischen Ökonomie. Fürsorge gibt’s aufs Haus.
       
       ## Niemand nimmt sie ernst
       
       Aber nicht nur Fürsorglichkeit, auch Wut wird gegendert. Männer und Frauen
       empfinden gleichsam Wut, doch wenn eine Frau sich öffentlich ärgert,
       verliert sie Souveränität. Niemand nimmt sie mehr ernst.
       
       Männer streben nach Dominanz, Frauen sorgen sich. Jedes weiblich gelesene
       Wesen, dass sich jenseits dieser Emotionsklaviatur verhält, wird öffentlich
       geshamed. Angela Merkel ist super. Andrea Nahles zu viel. Nach Macht zu
       streben ist stark. Wenn Frauen es tun, sind sie niederträchtig. Schon in
       Kindheitstagen wird das Stereotyp durch die böse Hexe oder Cruella De Vil
       verfestigt.
       
       Bei „Männern“ und „Frauen“ geht es nicht um den einen Mann oder die eine
       Frau, sondern vielmehr um die heteronormative Brille. Die kulturelle
       Vorstellung, wie sich beide Geschlechter zu verhalten haben. Das schließt
       nicht nur Menschen jenseits dieser Binarität aus, sondern ist im Prinzip
       der Kern des Problems.
       
       Im Patriarchat ist die ideale Frau ein sanftes Wesen, das sich um andere
       sorgt. Sie ist aufopferungsvoll und nie wütend. Sie ist so Zen, dass sie –
       obwohl sie so unfassbar viel zu tun und überhaupt keine Zeit zum Meditieren
       oder zum Entspannen hat – trotzdem stets freundlich, lächelnd und
       ausgeglichen ist. Wenn sie es nicht ist, wird sie als zickig oder schwierig
       beschrieben. Sollte sie sich auch noch aufregen, wird sie hysterisch
       genannt.
       
       ## Emotion für politischen Protest
       
       Diese Begriffe sollen Frauen an ihren Platz in der Gesellschaft erinnern,
       dankbar und lieb zu sein. Das System dient zur Kontrolle von Frauen und
       ihres gefährlichen Potenzials. Es gibt eine tiefe kulturelle Angst vor
       wütenden Frauen: Wut ist eine essenzielle Emotion für politischen Protest.
       Simone O., die Drachen-Schwester, hat das verstanden und setzt es ganz
       konkret in ihrem beruflichen Alltag um.
       
       Wer wütend ist, hat Macht. Wer sie nicht ausleben darf, wird kontrolliert.
       Allerdings ist Simone O. nur ein Beispiel, nicht die Regel. Die Lösung ist
       nicht, dass alle Frauen wütend sind und wie kleine Hulks rumpoltern. Denn
       wer öffentlich ausrastet, wird nicht ernst genommen. Viele Frauen können
       sich das nicht leisten. Es geht vielmehr um strukturellen Wandel. Eine
       Veränderung unseres Verständnisses von Fürsorglichkeit und Weiblichkeit
       sowie von Wut und Männlichkeit. Denn die Emotionen sind kein Gegensatz.
       Ganz im Gegenteil: in Kombination sind sie mächtig.
       
       Das Ziel ist eine geschlechtslose Emotionswelt. Dabei ist der erste
       Schritt, das Problem anzuerkennen: Fürsorglichkeit wird gesellschaftlich
       verweiblicht, Wut vermännlicht. Beides muss vermenschlicht werden.
       
       Der zweite Schritt ist die Umsetzung. Wie werden Kindern Emotionen
       beigebracht? Aktuell werden Gefühle gegendert – von Eltern sowie
       Verwandten, in Partner*innenschaften, im Fernsehen, Film und in der
       Literatur. Es braucht bekräftigende Geschichten von wütenden Frauen, die
       stark und wirkungsvoll sind und von zärtlichen und fürsorglichen Männern,
       die stark und wirkungsvoll sind. Dann erst können Emotionen bewusst
       umgekehrt werden – damit es irgendwann selbstverständlich ist, dass Papa
       Oma pflegt. Wenn eine geschlechtsunabhängige und radikale Fürsorge im
       Zentrum unserer Gemeinschaft stünde, würden sich alle füreinander
       verantwortlich fühlen. Eine gemeinschaftliche Fürsorge.
       
       Das würde dafür sorgen, dass Frauen wie Männer behandelt werden. Dasselbe
       Gehalt, denselben Anteil machtpolitischer Räume bekämen. In der Theorie ist
       das etwas, das viele Menschen wollen, in der Praxis klappt es nicht so
       recht.
       
       Doch wären Wut und Fürsorglichkeit geschlechtsunabhängig, würden viele
       Ungerechtigkeiten enden. Alle wären für die Pflege von Menschen in der
       Gesellschaft verantwortlich. Dadurch würde dieser Bereich automatisch
       aufgewertet und gestärkt. Jede*r dürfte Grenzen setzen, ohne soziale
       Folgen. Auf diese Weise würden viele Personen gehört, die heute an den Rand
       der Gesellschaft gedrängt werden.
       
       Wir wären empathisch miteinander, weil dieses Gefühl an kein Geschlecht
       geknüpft wäre. Die Gemeinschaft wäre wirklich gleichberechtigt und würde
       gesellschaftliche Aufgaben dementsprechend wirklich teilen. Nicht nur damit
       es danach aussieht – sondern weil sie es fühlt.
       
       8 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ciani-Sophia Hoeder
       
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