# taz.de -- Polen fordert Reparationen: Rechnung am Jahrestag
       
       > Vor 83 Jahren fiel Deutschland in Polen ein. Nun kündigt PiS-Parteichef
       > Jarosław Kaczyński offizielle Reparationsforderungen Polens an
       > Deutschland an.
       
 (IMG) Bild: Oktober 1945 in Warschau
       
       WARSCHAU taz | Für Arkadiusz Mularczyk ist es ein großer Tag: Endlich kann
       er seinen „Bericht über Verluste, die Polen aufgrund der deutschen
       Aggression und Okkupation in der Zeit des Zweiten Weltkriegs 1939–1945
       davongetragen hat“ der Öffentlichkeit vorstellen.
       
       Im Warschauer Königsschloss, das die Deutschen 1944 – so wie die ganze
       Innenstadt Warschaus – dem Erdboden gleichgemacht und das die Polen nach
       dem Krieg in neuer Pracht wiederaufgebaut hatten, vermischt er dann aber
       alles: jüdische Tote in Vernichtungslagern, ermordete polnische
       Widerstandskämpfer, Verletzte und Zwangsarbeiter, nicht geborene Kinder,
       materielle Verluste, zerstörte Bauwerke, entgangene Steuern, verfallene
       Versicherungen. Mularczyks Vortrag ist eine einzige Zahlenauflistung. Dann
       fasst er zusammen: „Dies ergibt eine Summe von 1 Billion 200 Milliarden
       Euro an Kriegsverlusten.“
       
       Der Abgeordnete der nationalpopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit
       (PiS), die seit Ende 2015 die Regierung in Polen stellt, hatte schon 2019
       verkündet, dass der von ihm geleitete PiS-Parlamentsausschuss zu
       Reparationsfragen seine Arbeit beendet habe. Der Bericht verschwand dann
       aber in einer Schublade des Parteichefs [1][Jarosław Kaczyński], und auch
       der Parlamentsausschuss machte nach den Wahlen 2019 nicht weiter.
       
       Zwar hielten Kaczyński, Mularczyk, Premier Mateusz Morawiecki und andere
       PiS-Politiker das Thema „Kriegsreparationen“ die ganze Zeit am Köcheln,
       beschuldigten auch immer mal wieder die Deutschen in Interviews, sich
       entweder gar nicht mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt zu
       haben oder aber die Schuld für den Holocaust den Polen in die Schuhe
       schieben zu wollen, doch der fertige Bericht mit den exorbitanten, aber
       auch dubiosen Zahlen blieb unter Verschluss. Jetzt aber, so Kaczyński, „ist
       es an der Zeit, den Deutschen die Rechnung in Höhe von 1,2 Billionen zu
       präsentieren“.
       
       Die PiS braucht stets Feinde, und die antideutsche Karte soll die
       Wiederwahl im Herbst 2023 retten. Schon seit Jahren behaupten Kaczyński,
       Morawiecki und andere PiS-Politiker, dass Polen niemals Reparationen von
       Deutschland bekommen habe, anders als andere Staaten.
       
       ## Falsche Behauptungen über Reparationen
       
       Am 1. September, dem [2][Gedenktag an den Überfall Hitler-Deutschlands auf
       Polen 1939], führt Kaczyński dies auf einen Minderwertigkeitskomplex der
       Polen zurück, der dazu führte, dass sie sich diese Nichtachtung hätten
       gefallen lassen. Das ist aber falsch. Polen bekam acht Jahre lang – von
       1945 bis 1953 – Baumaterialien, Rohstoffe, ganze Züge, Lokomotiven,
       Schienen, Lkws, Busse, demontierte Fabriken, Zahnarztstühle, Nähmaschinen,
       Möbel, Kleidung, Schuhe, Produkte aus der laufenden Fabrikproduktion. Auf
       der Potsdamer Konferenz hatten die Alliierten beschlossen, dass Polen die
       Reparationen aus der sowjetischen Besatzungszone und daher über die
       Sowjetunion bekommen sollten.
       
       Der Gesamtwert der von Nachkriegsdeutschland aufzubringenden Reparationen
       sollte bei 20 Milliarden US-Dollar liegen. Dies war schon auf der
       [3][Konferenz von Jalta] festgelegt worden. Die Sowjetunion, die die
       schwersten Kriegsverluste davongetragen hatte, sollte die Hälfte erhalten,
       also 10 Milliarden US-Dollar.
       
       In Potsdam konnten sich die Alliierten auf keine Summe einigen, sondern
       überließen es den vier Besatzungsmächten, so viel aus ihren Besatzungszonen
       zu entnehmen, wie sie es für richtig hielten. Wie viel Polen in den acht
       Jahren erhalten hat, ist heute kaum noch zu schätzen. 1953 verzichteten
       erst die westlichen Alliierten, dann auch die Sowjetunion und die damalige
       Volksrepublik Polen auf weitere Reparationen. Erst bei einem
       Friedensvertrag sollte die Frage nach Reparationen neu gestellt werden.
       
       Doch beim Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 zwischen den beiden Deutschlands und
       den vier Alliierten kam das Wort „Reparationen“ gar nicht vor. Rechtlich
       gesehen ist damit die Reparationsfrage abgeschlossen. Zu den Reparationen
       werden heute auch die ostdeutschen Gebiete gezählt, die direkt nach dem
       Krieg „unter polnische Verwaltung“ gestellt wurden und dann endgültig ins
       polnische Staatsgebiet übergingen. Auch hier ist es schwer, den genauen
       Wert dieser Gebietsabtretung zu schätzen.
       
       Von deutscher Seite wurde in den letzten Jahrzehnten mehrfach angeboten,
       eine deutsch-polnische Stiftung zu gründen, die – finanziert von der
       Bundesrepublik – auf der ganzen Welt Kunstwerke erwerben könnte, um Polen
       zumindest einen Teil der kulturellen Verluste aus der Okkupationszeit
       ersetzen zu können. Doch auf diesen Vorschlag ging bislang keine polnische
       Regierung ein.
       
       1 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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