# taz.de -- Urteil zu Baumbesetzung: Klimaschutz schlägt Eigentum
       
       > In Flensburg wurde ein Waldbesetzer vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs
       > freigesprochen. Die Richterin beruft sich auf die Verfassung.
       
 (IMG) Bild: „Angemessenes Mittel“: Der erste Besetzer des Bahnhofswaldes wurde freigesprochen
       
       FLENSBURG taz | Klimaschutzziele wiegen schwerer als das Eigentumsrecht:
       Das Amtsgericht Flensburg sprach einen 41-Jährigen frei, dem
       Hausfriedensbruch vorgeworfen wurde. Der Flensburger war an der Besetzung
       des dortigen Bahnhofswaldes beteiligt, der im Februar 2021 entgegen anderen
       Zusagen und ohne Genehmigung gefällt wurde.
       
       Örtliche Investoren wollen auf dem Grundstück ein Hotel errichten. Die
       Besetzergruppe berief sich auf die Bedeutung des Mini-Waldes für das
       Stadtklima. Im Prozess ging es um eine vergleichsweise niedrige Geldstrafe.
       Den Vorschlag, das Verfahren einzustellen, lehnte die Staatsanwalt jedoch
       ab: Es bestehe öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Einen
       Notstand aufgrund des Klimawandels erkannte er nicht. Die Richterin sah das
       anders.
       
       „Wenn ein Mensch auf einem Baum sitzt, riskiert er sein Leben, um auf etwas
       hinzuweisen“, sagte der Angeklagte. Es handele sich um ein „letztes
       Mittel“, nachdem alle anderen Protestformen ausgereizt seien.
       
       Die Besetzung des Bahnhofswäldchens hatte von Oktober 2020 bis Februar 2021
       gedauert, einige Aktivist*innen hatten wochenlang in selbst gebauten
       Unterständen in den Bäumen campiert. [1][Im Februar knatterten trotz
       Corona-Auflagen die Motorsägen]: Die Firma Jara Immobilien, hinter der die
       Flensburger Geschäftsleute Jan Duschkewitz und Ralf Hansen stehen, hatte
       einen Räumtrupp beauftragt, der ohne behördliche Genehmigung Stämme
       ansägte. Die beschädigten Bäume mussten wenige Tage später gefällt werden.
       
       ## Immer noch Baustopp
       
       Bis heute wird auf dem Grundstück nicht gebaut. Aktuell verhindert eine
       Klage des BUND weitere Maßnahmen. Die Umweltorganisation kämpft für den
       Erhalt einer Quelle auf dem Gelände. [2][Im Juli hatten die Investoren
       trotz des schwebenden Verfahrens die Bagger anrollen lassen,] das
       Oberverwaltungsgericht Schleswig stoppte die Arbeiten.
       
       Im jetzigen Flensburger Prozess erklärte der Angeklagte, der sich in der
       Ratsversammlung in der Fraktion „Bündnis solidarische Stadt“ engagiert, er
       würde auf keinen Fall eine Geldstrafe zahlen, sondern würde ersatzweise ins
       Gefängnis gehen. Auf den Vorschlag der Richterin, den Vorwurf fallen zu
       lassen, ließ sich der Staatsanwalt nicht ein. Der Angeklagte sei auf das
       „umfriedete Grundstück“ eingedrungen, ohne „ein begründetes Recht, es zu
       betreten“, nur mit dem Ziel, die Rodung zu verhindern, so der
       Anklagevertreter.
       
       Ein Polizeivideo, das das Gericht vorführen ließ, zeigte eine Gestalt, die
       sich am Tag der Rodung von einem Baum zum anderen hangelte, zu hören ist
       eine Stimme, die dazu auffordert, den Baum zu verlassen. Doch diese Person
       sei gar nicht der Angeklagte, erklärte dessen Verteidiger Alexander
       Hoffmann. Er widersprach der Sichtweise, dass es sich um Hausfriedensbruch
       gehandelt habe. Denn das Grundstück sei vor dem Tag der ungenehmigten
       Räumung nicht umzäunt gewesen, auch führte ein Trampelpfad hinein.
       
       Auf den Antrag des Staatsanwalts, den Angeklagten mit 15 Tagessätzen à zehn
       Euro zu bestrafen, griff Hoffmann tief in die Historie: „Der Gedanke, man
       dürfe nichts außer dem ausdrücklich Erlaubten, ist von
       Obrigkeitsstaatsdenken geprägt. Auch das Reichsgericht erklärte eine
       niedrige Mauer zu einer Einfriedung, um einen Gewerkschafter zu
       verurteilen, der eine Rede in Hörweite zur Fabrik hielt.“ Das sei in den
       1920er Jahren gewesen, auch damals ging es um Hausfriedensbruch. „Diese Art
       von Rechtsprechung wird immer erst in nächster Dekade überprüft und
       gerügt.“
       
       Die Baumbesetzung sei eine „geringfügige Regelüberschreitung gewesen, die
       eine Debatte in der Stadt ausgelöst hat. Die Demokratie wünscht sich solche
       Diskussionen, wir müssen sie führen in einer komplizierten Welt“, sagte
       Hoffmann.
       
       In seinem Schlusswort erinnerte der Angeklagte an den Beginn der Räumung,
       bei der Bäume angesägt wurden, um die spätere Rodung zu erzwingen: „Das war
       mehr als fahrlässig – hätte sich eine der Baumbesetzer*innen auf einer
       der Seilverbindungen aufgehalten, hätte dies schnell tödlich enden können.“
       Doch alle Anzeigen gegen die nicht genehmigte Räumung habe die
       Staatsanwaltschaft abgewiesen. Stattdessen seien die Anzeigen wegen
       Hausfriedensbruchs aufrechterhalten worden.
       
       „Ich frage mich, was geht im Kopf einer Staatsanwaltschaft vor, wenn Sie
       Notwehr auf Seiten der Investoren erkennen, aber keinen Notstand beim
       Klima. Wo ist die Verhältnismäßigkeit?“, fragte der 41-Jährige. „Denken Sie
       daran, welches Signal Sie damit senden.“
       
       Ein Signal sandte das Gericht mit sehr strengen Sicherheitsauflagen vor dem
       Prozess. Die rund zwei Dutzend Unterstützer*innen, die den Angeklagten
       begleiteten, mussten eine Sicherheitsschleuse passieren, ihre
       Personalausweise wurden kopiert und zahlreiche Gegenstände ihnen
       abgenommen. „Stift und Papier, das steht jedem zu, mehr nicht“, sagte ein
       Justizbeamter auf taz-Anfrage.
       
       Gesucht werde nach Transparenten und Trillerpfeifen: „Der Prozess soll
       ordnungsgemäß ablaufen.“ Die gesammelten Daten würden nach 24 Stunden
       gelöscht. Die Durchsuchung dauerte so lange, dass das Verfahren mit fast
       einer Stunde Verspätung begann. Juli, eine der Prozessbeobachter*innen,
       kommentierte: „Das zeigt, auf welcher Seite der Staatsapparat steht.“
       
       ## Jubel im Gericht
       
       Um so lautstärker war der Jubel und Beifall im Gerichtssaal, als Richterin
       Britta Buchenau den Freispruch verkündete. „Ich sehe den Hausfriedensbruch
       als erwiesen an, und es war klar, dass der Eigentümer nicht wollte, dass
       man sich dort aufhält“, sagte sie. [3][Ausschlaggebend sei aber das
       Verfassungsgerichtsurteil, das Klimaschutz den Rang eines Staatsziels
       gegeben hat].
       
       „Früher hätte ich gesagt, dass der Staat das Klimaschutzziel von selbst
       verfolgt, aber im Jahr 2021 lässt sich das nicht halten“, sagte Buchenau.
       [4][Der innerstädtische Wald sei ein von der Verfassung geschütztes
       Biotop]. Das Ziel des Angeklagten, diesen Wald zu schützen, wiege schwerer
       als das Interesse der Investoren. „Man hätte mit der Rodung warten müssen.
       Es war ein angemessenes Mittel, im Baum zu sitzen.“
       
       Die Staatsanwaltschaft hat nun eine Woche Zeit, Einspruch zu erheben oder
       das Urteil anzuerkennen. Ein zweiter Prozess gegen einen Aktivisten, der
       ebenfalls wegen Hausfriedensbruchs angeklagt ist, wurde verschoben.
       
       8 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] https://www.bahnhofsviertelflensburg.de/bahnhofswald/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Geißlinger
       
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