# taz.de -- Bootsunglück im Mittelmeer: Ein Sohn, ein Bruder, einer von 750
       
       > Der Pakistaner Ali Raza wollte in Europa sein Glück versuchen. Nun ist er
       > vermutlich im Mittelmeer ertrunken. Ein Besuch bei seiner Familie.
       
 (IMG) Bild: Ein Bild der griechischen Küstenwache zeigt das Schiff vor dem Untergang
       
       MANDI YAZMAN BAHAWALPUR taz | „Er war jung, intelligent, fleißig und voll
       Energie und Hoffnung. Er wollte nur ein gutes Leben für sich und seine
       Familie. Ist es eine Sünde, so einen Wunsch zu haben?“, fragt Ali Razas
       Mutter mit Tränen in den Augen. „Mein Sohn hat sich so angestrengt, um gute
       Noten zu bekommen. Er hat immer bis spät abends gelernt und nach der
       Universität noch Nachhilfe gegeben, um sich sein Studium zu finanzieren. Er
       hat nach seinem Abschluss auf einen guten Job gehofft, um seine Familie aus
       der Armut zu holen.“
       
       Ali Raza stammt aus der Kleinstadt Mandi Yazman Bahawalpur im Süden der
       Provinz Punjab, rund 100 Kilometer südlich von Multan. Die Gegend ist für
       ihren Obst- und Gemüseanbau bekannt.
       
       Raza hatte ein Mathematikstudium erfolgreich abgeschlossen und war im Alter
       von 26 Jahren einer von mutmaßlich hunderten Migranten und Flüchtlingen,
       [1][die in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni mit einem Fischkutter in
       griechischen Gewässern vor Pylos ertrunken sind]. An Bord waren Menschen
       aus Ägypten, Syrien, Afghanistan, Pakistan und Palästina, als der Kutter
       rund 45 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes unterging. Das
       Schiff hatte den Hafen von Tobruk in Libyen am 9. Juni mit Ziel Italien
       verlassen.
       
       Laut einer gemeinsamen Erklärung der Internationalen Organisation für
       Migration (IOM) und des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren auf dem
       Schiff rund 750 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Zwar gibt es keine
       genauen Angaben, doch lokale Medien in Pakistan behaupten, dass 300 bis 400
       Pakistaner an Bord gewesen seien. Warum hat eine so große Zahl von
       Pakistanern überhaupt verzweifelt versucht, ihr Land zu verlassen? Warum
       waren sie sogar bereit, dafür ihr Leben zu riskieren?
       
       „Trotz seines Universitätsabschlusses bekam Raza keinen guten Job. Er hat
       sich auf viele staatliche Stellen beworben, sich auf Auswahltests und
       Vorstellungsgespräche vorbereitet. Doch alles war vergeblich“, erzählt Ali
       Muhammad, Razas Bruder. „Dabei war er nicht ungeeignet. Aber das korrupte
       System verwehrte ihm den Erfolg. Als er einen Test und das
       Vorstellungsgespräch für eine staatliche Stelle bestanden hatte, sollte er
       plötzlich eine hohe Summe zahlen, um auch wirklich den Arbeitsvertrag zu
       bekommen“, erzählt er. Razas so grimmig wie hilflos dreinschauender Bruder
       betreibt einen kleinen Obststand auf dem lokalen Markt.
       
       ## Keine Perspektive in Pakistan
       
       Raza war der Jüngste von insgesamt drei Geschwistern, zwei Brüdern und
       einer Schwester. „Sein Vater starb, als Raza gerade zehn Jahre alt war“,
       sagt seine weinende Mutter. „Ich arbeitete als Haushaltshilfe in der
       Nachbarschaft, um meine Kinder großzuziehen. Raza war unsere einzige
       Hoffnung. Wir haben jetzt nichts mehr.“
       
       Nachdem er einige Jobs bei Privatfirmen in den Nachbarstädten hatte, zog
       Raza letztes Jahr nach Karatschi. Von der südlichen Wirtschaftsmetropole
       erhoffte er sich größere Chancen. Doch dort musste er oft den Job wechseln
       und kam auch nur auf Gehälter von 25.000 bis 30.000 Rupien, etwa 80 bis 100
       Euro.
       
       „Das Geld reichte nicht einmal für seine eigenen Ausgaben für Unterkunft,
       Essen und Transport. Wie sollte er davon noch für seine Familie
       aufkommen?“, fragt Razas Bruder. „Freunde in Karatschi erzählten ihm dann
       vom illegalen Weg nach Europa und dass er dort viel mehr verdienen könne.
       Selbst wenn er gelegentlich nur 500 Euro schicke, würde das reichen, um
       seiner Familie in Pakistan ein gutes Leben zu ermöglichen.“
       
       Junge Menschen aus dem Punjab, dem nordwestlichen Khyber Pakhtunkhwa oder
       dem von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs wagen sich oft auf die
       berüchtigte Route durch den Iran, die Türkei, Griechenland und Italien, um
       illegal Europa zu erreichen. Korruption, politische Unruhen,
       Wirtschaftskrisen, fehlende Jobmöglichkeiten und wachsende
       Hoffnungslosigkeit zwingen die Menschen, ihr Leben für eine bessere Zukunft
       ihrer Kinder und Familien zu riskieren.
       
       Berichte von Freunden und Verwandten in Pakistans sozialen Medien zeigen,
       dass Razas Schicksal kein Einzelfall ist. Es sind viele College- und
       Universitätsabsolventen, die jetzt mutmaßlich mit ihm im Mittelmeer
       ertrunken sind.
       
       ## Goldschmuck verkauft für die Reise nach Europa
       
       „Er war sehr klug, sehr höflich und mit Leidenschaft bei der Sache. Es
       bricht mir das Herz, dass ein so strahlender Stern ein so schlimmes
       Schicksal erlitten hat“, sagt Shahid Saleem. Er war Razas Professor an der
       Universität in Bahawalpur.
       
       „In diesem Land herrscht kein Gesetz. Den Armen wird das Leid aufgezwungen.
       Auch Razas Arbeitgeber beuteten ihn aus, indem sie ihm nur ein geringes
       Gehalt zahlten“, berichtet seine Mutter, „manchmal bekam er es erst nach
       Monaten ausgezahlt.“ Er sei von diesem System enttäuscht gewesen und habe
       dann die Geschichten von Menschen geglaubt, die es angeblich erfolgreich
       nach Europa geschafft hätten. „Er wurde einer regelrechten Gehirnwäsche
       unterzogen und glaubte, dass dies der einfachste Weg nach Europa sei. Wir
       haben unseren kleinen Acker verkauft und die Mitgift der Frau seines
       Bruders und den Goldschmuck verkauft. Dazu haben wir noch einen Kredit
       aufgenommen, um die 2,5 Millionen Rupien [8.000 Euro] für diese Reise zu
       bezahlen.“
       
       Pakistans Premierminister Shehbaz Sharif hat in Reaktion auf das Unglück
       inzwischen angeordnet, gegen Menschenhändler vorzugehen. 14 Personen wurden
       bereits festgenommen. Doch in den sozialen Medien nennen
       Menschenrechtsaktivisten das nur die Spitze des Eisbergs. Sie sagen, dass
       es ohne die aktive Beteiligung hoher Beamter unmöglich sei, Menschenhandel
       in so einem Ausmaß zu betreiben.
       
       [2][Razas Mutter macht auch die Grenzpolitik der EU-Länder
       mitverantwortlich.] „Niemand verlässt gern sein Heimatland und verbringt
       sein Leben in der Fremde. Die Länder des Westens sollten verstehen, was wir
       in unserem Land durchmachen. Sie sollten uns in dieser Zeit helfen und
       nicht ihre Grenzen schließen und uns in dieser Armut zurück- und sterben
       lassen“, sagt sie.
       
       Anders als Ali Reza ist dem Pakistaner Anwar Shah die illegale Migration
       nach Europa gelungen. Er berichtet von den Schrecken seiner Reise, wie er
       Monate in Iran, Libyen und Italien verbrachte, wo er raues Wetter ertrug,
       wenig bis gar nichts zu essen hatte und auf der Straße übernachten musste:
       „Selbst wenn es gelingt, Europa illegal zu erreichen, ist das Leben hier
       nicht einfacher.“ Es gebe große Herausforderungen wie etwa Sprachprobleme,
       fehlende Qualifikationen und die mühsame und langwierige Beschaffung
       legaler Papiere.
       
       ## Seine Mutter hofft noch
       
       Viele Migranten nehmen für ihre Reise Kredite auf, sodass ihre Familien
       erste Überweisungen erwarten, sobald sie dort angekommen sind. Doch wegen
       der genannten Schwierigkeiten in Europa könnten Migranten die Erwartungen
       nicht erfüllen, was sie oft in schwere Depressionen stürze, meint Anwar
       Shah: „Ich habe von vielen Migranten gehört, die Suizid begingen. Zuletzt
       erfuhr ich von einem in Deutschland, der sich selbst getötet haben soll.
       Andere Migranten werden kriminell, und viele Menschen verbringen Jahre in
       Asylzentren und warten auf ihre Anerkennung als Flüchtlinge.“
       
       [3][Griechenlands Behörden haben inzwischen ihre Such- und Rettungsaktion
       beendet und alle Vermissten für tot erklärt.] Unter den 104 Überlebenden
       sollen sich 12 pakistanische Männer befinden. Razas Familie hat keine
       Nachricht erhalten, dass er unter den Überlebenden sei. Trotzdem wartet
       seine Mutter auf ein Wunder: „Vielleicht wurde er von jemand anderem
       gerettet, und nach einiger Zeit meldet er sich und sagt uns, dass es ihm
       gut geht.“ Sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten und hoffnungsvoll zu
       klingen.
       
       Übersetzung aus dem Englischen Sven Hansen
       
       26 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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