# taz.de -- Roman „Vaters Meer“ von Deniz Utlu: Unter der Wüste liegt das Meer 
       
       > Ein starkes Stück Prosa: Deniz Utlus Roman „Vaters Meer“ über einen
       > Hannoveraner Teenager und den Verlust seines Vaters ist ein literarisches
       > Meisterwerk.
       
 (IMG) Bild: Der in Hannover geborene Autor Deniz Utlu
       
       Deniz Utlus Literatur löste im Frühsommer eine Kontroverse aus. Als er aus
       dem Manuskript seines noch unveröffentlichten Romans „Vaters Meer“ auf den
       47. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt las, reagierten
       einige der Juroren harsch ablehnend. Er lese lieber Thomas Bernhard, teilte
       der österreichische Literaturkritiker Klaus Kastberger auf der
       Veranstaltung in Kärnten mit.
       
       Das klang sehr kategorisch. Eine weitere österreichische Kritikerin und ein
       Deutschschweizer schlossen sich ihm an. Auch die Berliner Journalistin Mara
       Delius (Die Welt) sagte, die vorgetragenen Romanauszüge Utlus seien
       literarisch „flach“, „konventionell“ und sprachlich ohne Tiefe.
       
       Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten. So forderten in dieser
       Zeitung im Juli die Literaturwissenschaftlerinnen [1][Maha El Hissy und Ela
       Gezen einen „Turkish Turn“] in der deutschsprachigen Literatur(-kritik).
       Wer Nâzım Hikmet oder Yaşar Kemal nicht gelesen habe, könne auch einen
       Autor wie (den 1983 in Hannover geborenen) Deniz Utlu nicht verstehen.
       
       Doch auch diese Intervention klingt eher missverständlich. Ansonsten wäre
       eines der größten Talente der deutschsprachigen Literatur wohl an seinem
       eigenen Anspruch gescheitert. Denn Deniz Utlu schreibt nicht für eine
       nationale oder ethnische Gruppe. Seine Literatur ist universell.
       
       ## Nicht Turkologe, nicht Germanist
       
       Man muss also weder Turkologe noch Germanist sein, weder den Kanon der
       deutsch- noch den der türkischsprachigen Literatur abrufen können, um sich
       in dem Sog von Utlus „Vaters Meer“ zu begeben. Der Roman ist verständlich,
       anregend und antiautoritär, wenn auch komplex und in jedem Fall vielseitig
       lesbar.
       
       Der 40-jährige Autor Utlu ist mit seiner Hauptfigur Yunus dabei
       unverkennbar auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Zeit, als ein Kind
       namens Yunus in Hannover noch nicht absehen konnte, dass sein aus Mardin
       stammender Vater nach zwei Schlaganfällen plötzlich ins Koma fallen würde
       und dann jahrelang bis zum Tod in einem Locked-in-Syndrom verharren müsste.
       
       Aus der Bewusstlosigkeit erwacht, kann der Vater außer seinen Augen nichts
       mehr bewegen, also nur durch diese und den Wimpernschlag kommunizieren.
       Über Jahre wird der Patient künstlich ernährt und von Yunus’ Mutter
       gepflegt. Der Junge selbst besucht ihn in Abständen, immerhin regelmäßig.
       Er verkapselt sich.
       
       Als Teenager muss er nach seinem eigenen Weg suchen. Nach einem, mit sich
       und der nicht mehr prinzipiell veränderbaren Konstellation umzugehen.
       
       ## Große Gefühle
       
       Mit großem literarischen Geschick verstrickt Schriftsteller Utlu den
       jugendlichen Yunus in eine fortwährende Auseinandersetzung mit sich selbst.
       Während der Vater in seinem Körper eingeschlossen sprach- und bewegungslos
       im Bett liegt, durchläuft Yunus die Phase der Adoleszenz. Er sucht und
       findet zu sich selbst durch Poesie, Musik, Lektüren, Freundschaften und
       Liebe. Und er lebt auf sehr schön beschriebene Weise im
       Zweipersonenhaushalt mit seiner Mutter in Hannover zusammen.
       
       Die Unerreichbarkeit des kranken Vaters führt den Heranwachsenden nach und
       nach zu einer immer stärkeren Beschäftigung mit der Geschichte seiner
       Eltern, ihrer Herkunft und den Mythen, die sich in ihren Biografien
       verbergen. Die durch die Krankheit zwangsläufig hervorgerufene Distanz löst
       emotional einen umso größeren Wunsch nach Nähe aus.
       
       Yunus lebt die Gegenwart, verbunden mit einer Geschichte, die symbolisch
       eingeschlossen, in dem Körper des Locked-in-Patienten nebenan liegt. Und
       die ihn zunächst überwältigt und die Flucht ins Innere suchen lässt.
       
       Er inszeniert Gespräche mit dem Vater, dessen Gehirn nur spärliche
       Antwortsignale mit dem Auge sendet. Es ist diese Lebenssituation, vor der
       der Autor seine Figur ermächtigt und auf die literarische Reise ins
       südostanatolische Mardin schickt – aber auch nach Kızkalesi, Istanbul,
       Hamburg – oder eben durch die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover,
       seinen Lebensmittelpunkt.
       
       ## Geheimnisvolles Mardin
       
       Wie wenig Yunus über die Geschichte seines Vaters weiß, wird ihm erst nach
       und nach durch das Graben in der Erinnerung klar. Daraus gestaltet sich ein
       literarischer Trip, eine Recherche, die zu Selbstvergewisserung und zu
       Literarisierung führt. „Vater war eine Leerstelle, die ich füllte“, lässt
       Utlu Yunus denken. Und damit meint er mehr als das Zusammenleben mit seiner
       Mutter, einer imponierenden Frau, die in der Türkei studiert hat und
       berufstätig ist.
       
       Utlu geht in seiner raffinierten literarischen Konstruktion ein ganzes
       Stück weiter und lässt dies seine Hauptfigur recht unmittelbar ausdrücken:
       „Mein Vater, als der Erzähler, der er war, beschrieb die Dinge, wie sie
       sich angefühlt hatten, und nicht zwingend, wie sie geschehen waren – gerade
       darin fühle ich mich ihm nah, im Erzählen und im Erinnern.“
       
       Utlu autorisiert so Yunus aus Hannover, auch über Erinnerungen zu sprechen,
       die weit über das tatsächlich bewusst Erlebte hinausgehen, aber die mit
       seiner Biografie und der seiner Eltern unweigerlich verbunden sind. So man
       sie zum Leben erweckt.
       
       Yunus soll jedoch nicht der Sklave seiner Abstammung sein: „Ich will nur an
       das erinnern, was mir mein Vater mitgegeben hat, wenn ich über ihn
       nachdenke.“ Er bestimmt also selbst, wann und wie weit er es damit treibt.
       Er lebt sein eigenes Leben. Yunus ist nicht aus Mardin, auch wenn er durch
       seine Eltern mit der Region verbunden bleibt.
       
       ## Arabesken und Passerelle
       
       In der Geschichte von Yunus verbinden sich „märchenhafte“ Erzählungen aus
       der mündlich arabisch-türkischen Familienüberlieferung mit jenen der
       existenziellen Unmittelbarkeit eines pubertierenden Gymnasiasten aus der
       Bundesrepublik. Der Flaneur streunt wie andere Jugendliche in Hannover
       durch die Passerelle oder über die Lister Meile.
       
       Die Erinnerungen an die einzige Reise mit dem Vater in die frühere
       Metropole Mardin, nahe der türkisch-syrischen Grenze, begleiten ihn. Mit
       der Dauer des Siechtums des Vaters werden sie in der Erzählung von Yunus
       präsenter. Realität und Fiktion verschwimmen. „Vater war eine Erzählung
       geworden, er war keine Person mehr.“
       
       Und so ist auch das Meer im Titel dieses Buches eine Metapher. Sie bezieht
       sich auf die Wüste bei Mardin, jener alten kosmopolitischen Stadt, in der
       die Fäden der Handlung immer wieder mythisch aufgeladen zusammenlaufen,
       ohne je an ein Ende zu kommen.
       
       „In Mardin hätte ich gerne einmal mit Vater unter freiem Himmel geschlafen.
       Auf dem Dach von Großvaters Steinhaus in den blauen Betten, die sie im
       Sommer auf allen Dächern der Stadt aufstellten, den Mauerseglern bei ihren
       hektischen Flügen im Sonnenuntergang zugesehen, ihrem Tschilpen gelauscht,
       später dagelegen mit Blick auf das finstere, wasserlose Meer von Mardin,
       mit der goldenen Schlange unter dem Himmel.“
       
       ## Ein Meer aus Sand
       
       Eine Erinnerung gleitet in der metaphysischen Vorstellungswelt des Jungen
       literarisch in die nächste. „Wo ich eine Wüste erwarte, stoße ich auf ein
       Meer. Hinter einem Felsvorsprung, den ich kenne, gelange ich an unbekannte
       Buchten. Oder: ich sehe meinen Vater schwimmen, steige ins Meer und bin
       plötzlich umgeben von Sand, kein Vater. Ich suche nach einer Möglichkeit,
       damit zurechtzukommen, dass es ein absolutes Erinnern nicht gibt. Erinnern
       bedeutet am Leben erhalten.“
       
       Gegen eine solch sprachmächtige und virtuose Literatur zur Schmähung
       Thomas-Bernhard-Klassiker zu bemühen, scheint hilflos.
       
       Deniz Utlu hat ein starkes und bleibendes Stück Prosa geschaffen. [2][Auf
       Fatma Aydemirs „Dschinns“ (2022)] folgt hier mit „Vaters Meer“ der nächste
       Streich einer neuen Autorengeneration, die mit Selbstbewusstsein und
       Könnerschaft die Alteingesessenen und deren Sujets herausfordert. Utlu oder
       Aydemir haben sehr unterschiedliche, aber mit Sicherheit große
       deutschsprachige Romane geschaffen, die man literarisch beurteilen muss.
       
       Und nicht wegen der Namen und der Herkunft der Autor:innen in die
       Sonderschublade „Migrationsliteratur“ packen darf. Die ganze große
       amerikanische Literatur wurde schließlich von den Nachfahren der
       Einwanderung erschaffen, ohne permanent Ursprungsdiskurse zu führen. Aber
       so weit sind wir in Old Europe noch nicht. Zumindest nicht im
       Kulturbetrieb.
       
       22 Aug 2023
       
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