# taz.de -- Deutsch-polnische Beziehungen: Wider die deutsche Ignoranz
       
       > Deutsches Unwissen ist Futter für die PiS, wenn sie gegen Deutschland
       > wettert. Das Deutsch-Polnische Haus ist ein Schritt, um die Lektion
       > nachzuholen.
       
       Die Zeit der deutsch-polnischen Euphorie nach 1990 ist vorbei. Als Helmut
       Kohl und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im Herbst 1989
       eine Versöhnungsmesse im niederschlesischen Krzyżowa/Kreisau feierten,
       schien es, als sei ein langer Weg zu Ende gegangen. Er hatte mit den
       berühmten Worten polnischer Bischöfe von 1965: „Wir vergeben und bitten um
       Vergebung“, und Willy Brandts Kniefall von Warschau 1970 ikonische Symbole
       hervorgebracht.
       
       Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die deutsch-polnische
       Zusammenarbeit intensiviert und professionalisiert. Seit den frühen 1990er
       Jahren ermöglicht das [1][Deutsch-Polnische Jugendwerk] den Jugendlichen
       aus beiden Ländern grenzüberschreitende Reisen, die [2][Europa-Universität
       Viadrina] in Frankfurt (Oder) bringt Studierende beider Länder zusammen,
       die [3][Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit] fördert gemeinsame
       Projekte, die Zahl deutsch-polnischer Städte- und anderer Partnerschaften
       ist imposant.
       
       Der Aufbau deutsch-polnischer Institutionen und zivilgesellschaftlicher
       Netzwerke war zum großen Teil vom deutsch-französischen Vorbild inspiriert.
       Im Vergleich damit bleiben aber deutsch-polnische Arrangements von vielen
       Lücken geprägt und entfalten nicht die sozialisierende Wirkung, die der
       regulierte Intergouvernementalismus in Frankreich und Deutschland hat.
       Obwohl die deutsch-polnische Kooperation auf lokaler und regionaler Ebene
       gut funktioniert und die Wirtschaft beider Länger eng miteinander
       verflochten ist, fehlt die zwischenstaatliche Routine.
       
       Während ein Regierungswechsel oder die weltanschauliche Inkompatibilität
       zwischen Paris und Bonn kaum Auswirkungen auf ihre „Entente élémentaire“
       (Willy Brandt) hatten, erweist sich die [4][deutsch-polnische „Werte- und
       Interessengemeinschaft“], wie sie der damalige Außenminister Krzysztof
       Skubiszewski 1990 ansprach, als ein äußerst fragiles Wesen. Trotz manchmal
       gravierender inhaltlicher Unterschiede zwischen den beiden Regierungen
       finden deutsch-französische Regierungskonsultationen regelmäßig und
       inzwischen in Form des [5][Deutsch-Französischen Ministerrats] statt.
       
       ## Seit 2018 keine Regierungskonsultationen
       
       Deutsch-polnische Regierungskonsultationen, die laut Nachbarschaftsvertrag
       von 1991 eigentlich jedes Jahr zustande kommen sollten, finden seit 2018
       nicht statt. Ironischerweise verschlechtern sich die deutsch-polnischen
       Beziehungen gerade in dem Moment, da die bisher größten deutsch-polnischen
       Stolpersteine beseitigt wurden: Über die in Polen so lange heftig
       kritisierte Pipeline [6][Nord Stream 2] fließt kein Gas, die deutsche
       Abhängigkeit von russischer Energie wurde abgebaut, und die deutsche
       Russlandpolitik steht seit dem [7][russischen Angriff auf die Ukraine] im
       Zeichen einer Zeitenwende.
       
       In den vergangenen 30 Jahren gab es zwischen Deutschland und Polen wohl nie
       bessere Voraussetzungen für eine – von so vielen (nicht nur) polnischen
       Beobachter*innen geforderte – Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die
       Ursachen für die aktuelle Krise in den deutsch-polnischen Beziehungen
       liegen aber nicht nur in der relativ schwachen Institutionalisierung der
       Zusammenarbeit zwischen Berlin und Warschau und der polnischen Enttäuschung
       über die als zögerlich wahrgenommene Unterstützung Deutschlands für die
       Ukraine.
       
       Die zentrale deutsch-polnische Sollbruchstelle ist die gemeinsame
       Geschichte oder genauer gesagt der öffentliche Umgang mit ihr. Das deutsche
       Unwissen über die NS-Verbrechen in Polen gehört zu den Leitmotiven der
       deutsch-polnischen Nachbarschaft. 1994 erreichte es eine peinliche
       Prominenz, als Bundespräsident Roman Herzog in einem Interview vor seiner
       Reise nach Polen den Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 mit dem
       Warschauer Aufstand von 1944 verwechselte. Diese Verwechslung war kein
       Zufall.
       
       Eine Studie aus dem Jahr 2018 ergab, dass von 40 untersuchten deutschen
       Geschichtsschulbüchern lediglich zwei den Warschauer Aufstand erwähnten.
       Eine nur noch bis Sonntag laufende Ausstellung am polnischen
       Pilecki-Institut in Berlin gezeigte Ausstellung heißt [8][„Ein unbestraftes
       Verbrechen“], denn Heinz Reinefarth, der die Massaker in Warschau 1944
       verantwortete, wurde für seine Taten nie zur Rechenschaft gezogen.
       
       ## Antideutsche Rhetorik der PiS
       
       Zwar zeigte die DDR 1957 einen [9][Dokumentarfilm über ihn], aber im Westen
       erfreute er sich nach dem Krieg einiger gesellschaftlicher Anerkennung –
       als schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter und Bürgermeister von
       Westerland auf Sylt, wo er 1979 verstarb. Erst 2014 drückte der
       schleswig-holsteinische Landtag den Opfern sein Mitgefühl aus, und die
       Stadtverwaltung von Westerland bestätigte auf einer vor dem Rathaus
       aufgestellten Tafel die Verantwortung Reinefarths für die Gräueltaten in
       Warschau.
       
       Auch deshalb nimmt der Bürgermeister von Westerland regelmäßig an
       Gedenkveranstaltungen in Warschau teil. Doch diese Tatsachen, die etwas
       über das heutige Deutschland aussagen würden, werden in Polen gerne
       ignoriert. Denn eine wesentliche Forderung der Warschauer Außenpolitik ist,
       dass die Deutschen mehr über die deutschen Kriegsverbrechen in Polen wissen
       sollten. Zugleich wird aber dieser im Kern ebenso zutreffende wie
       berechtigte Wunsch innenpolitisch instrumentalisiert.
       
       Dieses Vorgehen konnte man in Polen schon 2005 beobachten, als die PiS zum
       ersten Mal die Parlamentswahlen gewann und bis 2007 das Land regierte.
       Antideutsche Rhetorik war in Warschau an der Tagesordnung. Seit dem zweiten
       [10][Wahlsieg der PiS 2015] vertieft sich dieser Trend.
       
       Polnische Spitzenpolitiker übertreffen sich gegenseitig mit antideutschen
       Parolen, regierungsnahe Journalist*innen und Intellektuelle berichten
       fleißig über den angeblichen deutschen Antipolonismus in Geschichte und
       Gegenwart, von der Regierung finanzierte Organisationen hängen
       Straßenplakate mit schriller Deutschlandkritik auf.
       [11][Reparationsforderungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro] für
       Kriegsschäden, die Polen von NS-Deutschland erlitten hat, sind ein in der
       deutschen Öffentlichkeit relativ gut bekannter Teil dieser Politik.
       
       ## Deutschlang-Bashing vor Parlamentswahl
       
       Weniger bekannt sind hingegen Versuche der polnischen Regierung und
       regierungsnaher Medien, die Geschichte der deutsch-polnischen Annäherung
       insgesamt und das Erbe des Brückenbauers [12][Władysław Bartoszewski]
       insbesondere zu verteufeln. In den letzten Wochen vor den Parlamentswahlen
       erreichte das [13][Deutschlandbashing in Polen] allerdings eine neue Stufe
       der Dreistigkeit.
       
       Reale und gefühlte Ignoranz, innenpolitische Instrumentalisierung, die
       manchmal zu populistischem Missbrauch führt, sowie selektive Wahrnehmung
       sind eine gefährliche Mischung. Zumal das Wesen von Aussöhnung gerade
       Wissen um und Verständnis für wechselseitige Befindlichkeiten ist und das
       Erreichte kein Automatismus. Die Bereitschaft, sich für die
       deutsch-polnische Zusammenarbeit zu engagieren, ist zurzeit aber gering:
       Deutsche Diplomat*innen sprechen selten Polnisch, und die politische
       Leidenschaft gilt anderen Themen.
       
       Deutsch-polnische Gesellschaften leiden unter Überalterung. An der
       Viadrina, wo sich die deutsch-polnischen Kompetenzen auf einzigartige
       Weise bündeln, gibt es kein Lehramtsstudium, das Multiplikatoren
       hervorbringen würde. Schlimmer noch, die Zahl der Studierenden hat sich
       gegenüber den Höchstständen von vor 20 Jahren fast halbiert. Angesichts
       dieser wenig erfreulichen Entwicklungen bräuchte die deutsch-polnische
       Nachbarschaft dringend einen Neustart.
       
       Die vom Auswärtigen Amt befürchtete „Ungarisierung“ der Beziehungen – eine
       Verlagerung jeglicher zwischenstaatlicher Aktivität auf rein regionale und
       lokale Ebenen –, sollte die PiS erneut die Wahlen für sich entscheiden,
       will letztlich niemand. Aber unabhängig davon, ob es nach dem 15. Oktober
       zu einem Regierungswechsel kommt, muss sich Deutschland seiner Hausaufgaben
       annehmen und endlich einen umfassenderen, vorurteilsfreien Blick auf die
       deutsch-polnische Geschichte wagen.
       
       ## Instrument für die verbesserte Verständigung
       
       Das in Berlin geplante [14][Deutsch-Polnische Haus] ist dafür der richtige
       Ansatz: Es soll die gemeinsame Geschichte der beiden Nachbarn erzählen, vom
       Mittelalter über die Zeit der Teilungen Polens bis zur mühsamen
       Verständigung nach 1945. Im Zentrum steht selbstverständlich der Zweite
       Weltkrieg. Aber das Haus wird auch mehr als ein Museum sein; ein
       Gedenkzeichen soll das polnische Leid symbolisch anerkennen, dezentrale
       Angebote und schulische Projekte sollen Begegnungen mit Polen ermöglichen,
       die es so selten gibt.
       
       Mit dem [15][Deutschen Polen-Institut] und der [16][Stiftung Denkmal für
       die ermordeten Juden Europas] wurden zwei Institutionen mit der
       Realisierung beauftragt, die einzigartige fachliche Kompetenz mit
       reichhaltiger Erfahrung in derartigen Herausforderungen verbinden. Es kommt
       jetzt darauf an, das geringe politische Interesse wettzumachen. Und es geht
       darum, möglichst viele wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure
       – auch aus Polen – einzubinden.
       
       Völlig klar ist aber: Dieses Haus müssen die Deutschen für sich bauen. Es
       soll weder als ein diplomatisches Zeichen noch als eine Reaktion auf
       Forderungen der PiS, noch als Ablass in der Reparationsdebatte gemeint
       sein. Dann hätte es seinen Zweck verfehlt. Das Deutsch-Polnische Haus wird
       vielmehr einen Beitrag dazu leisten, dass die Deutschen ihre polnischen
       Nachbarn und deren Befindlichkeiten endlich besser verstehen.
       
       Viel wichtiger als eine von Warschau ins Spiel gebrachte finanzielle
       Beteiligung an dem Haus wäre deshalb ein polnisches Pendant dieser
       Institution; denn obwohl die Polen viel mehr über die Deutschen und ihre
       Geschichte wissen als umgekehrt, beruht Verständigung doch immer auf
       Gegenseitigkeit. Aber Deutschland hat hier eine Bringschuld, die es zügig
       und mit politischem Nachdruck einlösen sollte.
       
       14 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://dpjw.org/
 (DIR) [2] https://www.europa-uni.de/de/index.html
 (DIR) [3] https://sdpz.org/
 (DIR) [4] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/100624-bm-dt-pol-forum/218060
 (DIR) [5] /Deutsch-franzoesischer-Ministerrat/!5910287
 (DIR) [6] /Konflikt-zwischen-Russland-und-Ukraine/!5830831
 (DIR) [7] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [8] https://www.visitberlin.de/de/event/das-massaker-von-wola-05081944-ein-unbestraftes-verbrechen
 (DIR) [9] https://www.youtube.com/watch?v=AV2PLrZCsiQ
 (DIR) [10] /Rechtsruck-in-Polen/!5258878
 (DIR) [11] /Reparationsforderungen-aus-Polen/!5901760
 (DIR) [12] /Nachruf-auf-Wladyslaw-Bartoszewski/!5010886
 (DIR) [13] /Kampagne-der-Regierung-in-Polen/!5926279
 (DIR) [14] /Plaene-fuer-Deutsch-Polnisches-Haus/!5957087
 (DIR) [15] https://www.deutsches-polen-institut.de/
 (DIR) [16] https://www.stiftung-denkmal.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephan Lehnstaedt
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