# taz.de -- Kubanische Künstlerin zu Hannah Arendt: „Der Text ist Sprengstoff“
       
       > Tania Bruguera protestierte gegen die Diktatur in Kuba. Ihre
       > Leseperformance von Arendts Totalitarismus-Analyse wird nun in Berlin
       > wiederaufgeführt.
       
 (IMG) Bild: Tania Bruguera 2015 während ihrer Performance „Where Your Ideas Become Civic Actions“ in Havanna
       
       taz: Tania Bruguera, wird Ihnen nicht selbst ein bisschen unheimlich, wie
       sehr Hannah Arendts erstmals 1951 erschienenes Werk „Elemente und Ursprünge
       totaler Herrschaft“ in die heutige Zeit passt, etwa wenn man zu Putin
       schaut, zu Trump, zur Hamas und natürlich auch in Ihre Heimat Kuba? 
       
       Tania Bruguera: Ja, es wird immer trauriger und wirkt immer natürlicher.
       Ich hatte in meinem Studio in Havanna eine Liste mit Autokraten. Sie wuchs
       und wuchs. Und ich fragte mich, was ist dann bloß der Sinn von Geschichte?
       Wir leben in einer Welt, die durch die Banalisierung von Wissen und von
       einer Demontage der Institutionen gekennzeichnet ist. Manches, was Hannah
       Arendt schrieb, wurde mit der Zeit revidiert. Aber vieles, was sie über
       Nationalstaaten, über Antisemitismus, über Imperialismus beobachtete, ist
       immer noch nützlich.
       
       Ursprünglich entstand das Projekt 2015 in Kuba. Sie waren unter Hausarrest
       gestellt und luden Freunde und Kollegen zur Lesung ein. Wie genau war da
       die Situation? 
       
       Genau genommen war das Projekt von meinen Verhöroffizieren inspiriert. Es
       war die Zeit, in der Barack Obama und Raúl Castro Verhandlungen über Kuba
       aufnahmen. Und ich dachte: großartig. Aber ich hatte auch eine Frage:
       Werden wir dann wieder eine Kolonie? Ich schlug ein Projekt vor, in dem
       Leute auf dem Platz der Revolution über ihre Zukunftsvorstellungen von Kuba
       befragt werden sollten. Daraufhin wurde ich ins Gefängnis gesteckt und
       wurde viel verhört. Weil eine meiner Arbeiten sich auch auf [1][Wladimir
       Tatlin] bezog, befragte mich eine Verhörerin zu ihm. Sie hatte sich
       wirklich den Wikipedia-Eintrag zu Tatlin eingeprägt. Da dachte ich darüber
       nach, wie meine Arbeiten meine Vernehmer dazu bringen könnten, über ihre
       Aktionen nachzudenken, wie ich ihnen also etwas durch meine Kunst
       beibringen könnte.
       
       Was sind jetzt in Berlin und angesichts der aktuellen Weltlage die
       wichtigsten Aspekte aus dem [2][Buch von Hannah Arendt]? 
       
       Es war wichtig, das Buch 2015 in Kuba zu lesen. Aber es öffnet auch die
       Augen dafür, dass Totalitarismus nicht einfach nur aus bestimmten
       ökonomischen Bedingungen entsteht, sondern auch aus der Unfähigkeit der
       Regierenden, im Sinne der Mehrheit demokratisch zu agieren. Ich war sehr
       besorgt, als Trump seine erste Kandidatur zur US-Präsidentschaft
       ankündigte. Denn in ihm erkannte ich einen potenziellen Diktator. Meine
       amerikanischen Freunde lachten damals über mich. Und ich erinnerte sie,
       dass wir auch in Kuba vorher eine Verfassung hatten, Gewaltenteilung und
       Institutionen. Auch im Deutschland der 1930er Jahre gab es eine. Das heißt,
       Rechte kann man niemals als garantiert betrachten.
       
       Wie wird die Lesung im Hamburger Bahnhof organisiert sein? 
       
       Sie wird in der einstigen Bahnhofshalle stattfinden. Gemeinsam mit der
       Kuratorin Alice Koegel hatten wir zuerst vor, dass jeder in seiner
       Muttersprache liest, deutsch, türkisch, spanisch und so weiter. Aber unser
       Ziel ist ja, dass Menschen verstehen, was die anderen sagen und miteinander
       diskutieren. Also wird es auf Deutsch und Englisch sein. Wir werden lesen
       und kommentieren. Wir laden auch eine Reihe von Expert*innen ein, aber
       es kann sich auch jeder, der will, dazu äußern, was der Text in ihm bewirkt
       und wie er sich zur aktuellen Situation verhält. Ich sehe den Text als eine
       Art Sprengstoff, der Gedanken freisetzt und ein kollektives Leben kreiert.
       Ich mag einfach dieses Konzept der Vita activa von Arendt. Es geht mir in
       der Performance nicht um richtig oder falsch, sondern um eine Reflexion zu
       unserer Zeit.
       
       Sie werden selbst auch lesen? 
       
       Ja, jeden Tag ab 19 Uhr.
       
       Und wie werden Sie die 100 Stunden durchhalten? 
       
       Ich werde viel Kaffee brauchen. Als wir das Projekt in Kuba machten, waren
       wir am Ende alle ziemlich müde. Das wird jetzt kaum anders sein.
       
       Wie würden Sie selbst diese Arbeit bezeichnen: Ist es eine Performance, ein
       Reenactment, handelt es sich um Arte útil – nützliche Kunst? 
       
       Ich mag die Bezeichnung Reenactment nicht, denn sie betont die
       Wiederholbarkeit. Ich würde es lieber Redoing nennen. Es findet auch in
       einem anderen räumlichen und politischen Kontext statt. Und ich ändere
       einiges. Wir werden nicht chronologisch vorgehen wie damals, sondern eher
       fragmentarisch und uns auf bestimmte Themen konzentrieren. Ich würde
       sagen, es handelt sich um Arte de conducto (Verhaltenskunst oder
       Behavioral Art, die Red.), denn das Projekt ist nur vollendet mit den
       Reaktionen der Menschen. In Kuba war die Zuhörerschaft der Staat, und die
       Antwort des Staates war wichtig. Bei der neuen Version jetzt in Berlin
       handelt es sich vor allem um die Reaktion der Bürger*innen, um ein
       Nachdenken darüber, wer die Macht hat.
       
       Könnten Sie näher beschreiben, was Sie unter Arte de conducto verstehen? 
       
       Ich kam auf den Begriff, als ich studierte und mich mit Performance
       auseinandersetzte. Lateinamerika hat eine lange Geschichte der Performance,
       die ganz anders ist als Performance in den USA oder Großbritannien, was
       damals der Kanon war. Dagegen wollte ich rebellieren und mich auch davon
       distanzieren. Und ich merkte, dass ich, wenn ich mich in der politischen
       oder sozialen Kunst bewege, dass mein künstlerisches Material dann die
       Sprache der Gesellschaft ist, wie wir kollektiv kommunizieren. Wir lesen
       immer die Signale, die uns andere durch ihr Verhalten senden.
       
       Werden Sie jetzt, das erste Mal nach [3][der documenta 2022], wieder in
       Deutschland sein? 
       
       Ja.
       
       Wie fällt Ihr Rückblick für die documenta aus? Sie waren ja mit einem
       umfangreichen Projekt über kubanische Künstler*innen, die vom Staat
       verfolgt werden, dabei. 
       
       Ich denke, die letzte documenta wird, ähnlich wie die documenta 11, bei der
       ich ebenfalls dabei war, mit einigem zeitlichen Abstand als eine
       wahrgenommen werden, die für einen kulturellen Umbruch sorgte. Was ich an
       ihr mochte, war, dass hier Künstler und Projekte eingeladen waren, die
       nicht lamentierten und sich auch nicht als Opfer präsentierten, sondern
       sagten: [4][Ich komme aus diesem Teil von Afrika, Asien oder Lateinamerika]
       und wir haben hier dieses spezifische Problem, und ich zeige auch, wie wir
       versuchen, das zu lösen. Die documenta war auch für Deutschland eine
       Gelegenheit, über seine Probleme zu reden …
       
       … Sie spielen auf die [5][Antisemitismus-Debatte an], die die ganze
       documenta überschattete … 
       
       … aber dann wurde die Möglichkeit für Gespräche verschenkt. Was wir heute
       sehen, ist eine Verhärtung von Verurteilungen und vielleicht die Folge der
       verpassten Diskussion.
       
       Wie schätzen Sie Ihre eigenen Erfolge hinsichtlich der Weiterbildung der
       kubanischen Verhörspezialisten durch die Beschäftigung mit Hannah Arendt
       ein? 
       
       Sie lernten, allerdings nicht für eine Veränderung, sondern nur für eine
       Stärkung der Macht. Meine Haltung ist aber, niemals die Hoffnung
       aufzugeben, selbst wenn es für mich momentan gar nicht möglich ist,
       überhaupt nach Kuba einzureisen.
       
       6 Feb 2024
       
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