# taz.de -- Ein Jahr nach Schiffsunglück in Italien: Erinnern an Cutro
       
       > Im Februar 2023 kenterte ein Flüchtlingsboot vor Italien, fast 100
       > Menschen starben. Der Jahrestag könnte zur Abrechnung mit der Regierung
       > werden.
       
 (IMG) Bild: Ein Teil des verunglückten Flüchtlingsboot liegt am Strand von Cutro am 28.12.2023
       
       Auf einen traurigen Jahrestag bereitet sich Italien vor. In der Nacht auf
       den 26. Februar 2023 [1][kenterte ein Flüchtlingsschiff] mit mehr als 180
       Menschen direkt vor der kalabrischen Küste, vor dem Ort Cutro im Süden
       Italiens. Jetzt werden die Gedenkfeiern vorbereitet – allerdings ohne die
       stramm rechte Regierung unter Giorgia Meloni. Die nämlich tut, als gehe sie
       die Katastrophe von Cutro nichts an, wie im Vorfeld des Jahrestags Vincenzo
       Voce anmerkte, der Bürgermeister der bei Cutro gelegenen Provinzhauptstadt
       Crotone: „Als die Regierung damals nach Cutro kam, hat sie nicht einmal
       Blumen auf den Särgen abgelegt. Die Wahrheit ist, dass niemand sie [die
       Opfer] am Strand erwartete, um sie zu retten.“
       
       Am Sonntag wird die Chefin des gemäßigt linken Partito Democratico, Elly
       Schlein, anders als Meloni nach Cutro zum Gedenkakt fahren. Die
       Oppositionsführerin beklagt, dass „wir bisher keinerlei Antwort von der
       Regierung erhalten haben“.
       
       Mindestens 94 Menschen fanden vor einem Jahr den Tod. Außerdem wurden
       mindestens zwölf Vermisste gezählt und nur 81 Gerettete. Die Flüchtlinge
       starben, weil Italiens Behörden damals wegschauten.
       
       Schon am Tag zuvor hatte ein Frontex-Flugzeug das Schiff gemeldet. Am Abend
       schickte die Finanzpolizei ein Patrouillenboot raus, rief es aber wegen
       schweren Seegangs zurück. Auch die für Seenotrettung verantwortliche
       Küstenwache fühlte sich nicht zuständig: In den Stunden, bevor das Schiff
       kenterte, gab es zwischen Finanzpolizei und Küstenwache keinerlei
       Kommunikation. Deshalb müssen jetzt diverse Angestellte beider Behörden mit
       einem Strafprozess rechnen.
       
       Statt sich zu erklären, nahm Innenminister Matteo Piantedosi die Tragödie
       zum Anlass, das „Dekret Cutro“ durchzusetzen und die Daumenschrauben für
       Flüchtlinge weiter anzuziehen, zum Beispiel mit der Errichtung von
       Abschiebezentren, demnächst auch in Albanien, und der Einschränkung der
       Möglichkeit, humanitären Schutz zu erhalten. Vor allem hat die Regierung in
       den letzten zwölf Monaten ihren Feldzug gegen die in der Seenotrettung
       tätigen NGOs fortgesetzt. Schließlich hatte Meloni im Wahlkampf 2022
       versprochen, die Flüchtlingszahlen zu senken, doch 2023 kamen mit 157.000
       Menschen so viele wie seit 2016 nicht mehr. Was Piantedosi verschweigt:
       Nicht einmal 9.000 wurden von NGO-Schiffen gerettet, also nur knapp 6
       Prozent.
       
       Piantedosi macht gemeinsame Sache mit der libyschen Küstenwache. So wurde
       ausgerechnet im Vorfeld des Jahrestags das Rettungsschiff „Ocean Viking“
       für 20 Tage an die Kette gelegt, weil die Crew Anweisungen der libyschen
       Küstenwache nicht befolgt haben soll – in internationalen Gewässern
       wohlgemerkt, aus denen libysche Patrouillenboote die von der „Ocean Viking“
       Geretteten nach Libyen zurückschaffen wollten.
       
       Die NGOs haben deshalb zum Jahrestag mit einer Erklärung reagiert, in der
       sie die Regierung auffordern, „die Behinderung unserer lebensrettenden
       Arbeit unverzüglich zu beenden“. Indirekt Unterstützung erhielten sie durch
       das Kassationsgericht in Rom – den höchsten Gerichtshof Italiens –, das
       letzte Woche die Verurteilung eines Kapitäns zu einem Jahr Haft auf
       Bewährung bestätigt hatte. Dieser hatte 101 Flüchtlinge im Mittelmeer
       gerettet, sie dann aber nach Libyen zurückgeschafft. Er und Piantedosi
       mussten sich jetzt vom Gericht sagen lassen, dass Libyen wegen der dortigen
       systematischen Menschenrechtsverletzungen „kein sicherer Hafen“ ist.
       
       Den Innenminister ficht das nicht an. Er erwiderte, er habe nie die
       Rückschaffung von Migrant*innen verlangt. Verlangt hatte er bloß, dass
       die NGOs den Libyern die Rückschaffung erlauben. Eine Reise nach Cutro
       plant Piantedosi nicht, anders als womöglich Tausende Bürger*innen. Sie
       wollen bis Montag der Opfer gedenken – auf etlichen Veranstaltungen, die zu
       einer Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik der Regierung werden dürften.
       
       25 Feb 2024
       
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