# taz.de -- 20. April in Berchtesgaden: Wenn das der Führer wüsste
       
       > Wenn die Rechtsextremen am 20. April auf den Obersalzberg pilgerten,
       > sahen die Einheimischen oft betreten weg. Doch nicht in diesem Jahr.
       
 (IMG) Bild: Hitlerjugend auf dem Obersalzberg
       
       BERCHTESGADEN taz | „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“,
       steht auf einem Transparent, das zwei Männer auf dem
       Weihnachtsschützenplatz halten. Darunter das Logo der VVN-BdA, der
       Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und
       Antifaschisten. Und auf einem Schild, das ein anderer Mann mit sich trägt,
       ist zu lesen: „Björn Höcke ist ein Nazi“, Die Botschaften sind klar an
       diesem 20. April in Berchtesgaden.
       
       Weihnachtsschützenplatz – auch der Ort passt. Nicht nur wegen seiner
       zentralen Lage und der unmittelbaren Nähe zum AlpenCongress, wo gleich noch
       das Festival „Rock gegen Rechts“ stattfinden wird. Die namensgebenden
       Weihnachtsschützen stehen in ihrer Ambivalenz besonders gut für das
       schwierige Verhältnis der Berchtesgadener zu ihrer Geschichte. Schon 1933
       trugen die im Christentum verankerten Bollerschützen Adolf Hitler eilfertig
       die Ehrenmitgliedschaft an. Später aber sollen führende Repräsentanten dem
       Regime unverhohlen kritisch gegenübergestanden haben, weshalb die Vereine,
       in denen die Schützen organisiert waren, im Zuge der Entnazifizierung als
       „widerstandsähnlich“ eingestuft worden sein sollen. Eine besondere
       Verantwortung habe seine Gemeinde, sagt Bürgermeister Franz Rasp in einem
       Grußwort auf der Kundgebung.
       
       Über hundert Menschen sind auf den Platz gekommen. Zwischen
       Enzianbrennerei, Läden für Sport- und Trachtenmoden und Konditorei stehen
       sie rund um die Bühne und trotzen tapfer den Unbilden des Wetters während
       der rund anderthalbstündigen „Kundgebung für ein tolerantes und friedliches
       Miteinander“.
       
       ## Überfall im Kuckucksnest
       
       Dass diese Veranstaltung in diesem Jahr zum ersten Mal stattfindet, hat
       einen Grund: ein Ereignis, das am 24. August in einer örtlichen Kneipe, dem
       „Kuckucksnest“ stattfand und über das sogar der britische Guardian
       berichtete. An diesem Abend kamen drei Männer zu der Kneipe, die ein roter
       Stern ziert. Die drei trugen T-Shirts mit dem Aufdruck „Division
       Deutschland“. Mode, wie sie bei Neonazis beliebt ist.
       
       Es war schon fast Mitternacht. An einem Tisch vor der Kneipe saß ein
       behinderter Gast und trank ein Bier. Aus dem Nichts und völlig ohne Grund
       schlug ihm einer der drei Männer mitten ins Gesicht. Für B.U.D., ein
       Netzwerk für Betroffene rechter Gewalt, war die Tat eindeutig ein
       „behindertenfeindlich motivierter Nazi-Angriff“.
       
       Zwei der Männer konnten später von der Polizei aufgegriffen werden,
       offenbar waren es Neonazis aus Norddeutschland. Die Vermutung liegt nahe,
       dass sie wie viele ihrer Gesinnungsgenossen den Obersalzberg besuchen
       wollten. Der Wirt des „Kuckucksnests“, ein Freund des Opfers, stellte nach
       dem Überfall ein Video auf Instagram, in dem er erzählte, was passiert war.
       Es wurde etliche tausend Mal angeklickt.
       
       Und damit kam die Sache ins Rollen. Der Schock über den Angriff war die
       Initialzündung für die Initiative Berchtesgaden gegen Rechts, die sich
       daraufhin um den heutigen Vereinsvorstand Anna Stangassinger und Michael
       Gruber bildete. Es weht ein Hauch von Aufbruch durch die
       7500-Seelen-Gemeinde, ein Hauch von „Wir lassen uns das nicht mehr länger
       gefallen“.
       
       ## Sie trotzen den Nazis und dem Wetter
       
       Seither organisiert die Initiative monatliche Stammtische,
       Infoveranstaltungen, Ausflüge. Der Verein macht sich etwa auch für die
       Umbenennung der Von-Hindenburg-Allee in Berchtesgaden stark. Kein
       spezifisch Berchtesgadener Thema, in Deutschland gibt es Dutzende von nach
       Hindenburg benannten Straßen – und vielerorts den Wunsch, sie umzubenennen.
       Aber hier am Fuße des Obersalzbergs werden halt doch noch ganz andere
       Nerven getroffen.
       
       Und deshalb stehen hier nun also hundert Berchtesgadener und zeigen
       Gesicht. Für Toleranz. Gegen Hass. Gegen Nazis. Sicher, man kann sagen, das
       sind nicht allzu viele. Im Januar und Februar konnten andere Orte in Bayern
       ganz andere Zahlen aufbieten. [1][Damals, als unter dem Eindruck des
       Potsdamer Treffens, auf dem auch AfD-Politiker Deportationspläne
       besprachen, besonders viele Menschen auf die Straße gegangen sind.]
       Andererseits: Hier in den äußersten südöstlichen Zipfel der Republik muss
       man ja auch erstmal kommen. Und bei dem Wetter? Regen, Schnee, Graupel, die
       Temperaturen nur geringfügig über dem Gefrierpunkt. Nachdem zuletzt in
       Bayern bereits Temperaturen weit über 20 Grad geherrscht hatten, hat
       inzwischen der Winter wieder Einzug gehalten.
       
       Der Tag der Toleranz ist ein bunter Tag mit Puppentheater, Akrobatikshow,
       Kundgebung und viel, viel Musik. „Wir haben uns den 20.04. für dieses Event
       ausgesucht“, schreiben die Veranstalter auf ihrer Website, „weil an diesem
       Tag vermehrt mit einem Ansturm von rechtsextremen Pilgern am Obersalzberg
       zu rechnen ist.“
       
       ## Ein Berg von Grablichtern
       
       20. April: War da was? Ja, da war was. Vor 135 Jahren wurde an diesem Tag
       Adolf Hitler geboren. [2][In Braunau im oberösterreichischen Innviertel.]
       Keine 90 Kilometer nördlich von hier. Und hier am Fuße des Obersalzberg
       hatte man viele Jahre mit der besonderen Präsenz Adolf Hitlers zu leben.
       Seit 1923 kam er regelmäßig hierher, nach der Machtergreifung kaufte er das
       Haus Wachenfeld, das er zum pompösen Berghof umbauen ließ.
       
       Man kennt die Bilder, die den „Führer“ zeigen. Mit Eva Braun. Mit der
       Schäferhündin Blondi. Auf der Terrasse, mit schönstem Alpenpanorama. Wie er
       Kinder tätschelt, wie er mit dem lederbehosten Göring Bücher durchblättert.
       Hier traf er Chamberlain. Hier besprach er sich mit seinen Generälen,
       plante Kriegs- und Menschheitsverbrechen. Die Kulisse des Berghofs war
       Hitlers wohl liebstes Propagandamotiv. Unten im Tal verkaufte man gern so
       manche Devotionalie. Hitler-Verehrer pilgerten zum Obersalzberg und – das
       ist das Problem – tun dies noch heute.
       
       Deshalb wird hier jetzt gefeiert und getanzt. All den Nazis und
       Ewiggestrigen zum Trotz, die den Hass kultivieren und „Führers Geburtstag“
       noch immer dort begehen, wo sie sich dem Geist des Massenmörders besonders
       nahe wähnen.
       
       „Es wird ein Hitler-Ort bleiben, solange es solche Menschen gibt“, sagt
       Sven Keller. Auch der Leiter der 1999 eröffneten Dokumentation
       Obersalzberg, spricht auf der Kundgebung. Spricht von diesem „historisch
       neuralgischen Datum“. Als er auf die Person Hitler anspielt, kann ein
       Besucher nicht an sich halten: „Arschloch!“ ruft er laut über den Platz.
       „Da hat er nicht unrecht“, sagt Keller. Zu den unfreiwilligen Aufgaben der
       Mitarbeiter der Dokumentation gehört es, immer wieder Hinterlassenschaften
       von Hitler-Verehrern einzusammeln, meist Grablichter. Ganze Kisten haben
       sie schon davon.
       
       So befremdlich es ist, dass sich daran bis heute nichts geändert hat, sieht
       Keller doch auch positive Zeichen der Zeit: Noch vor 25 Jahren, als die
       Dokumentation eröffnet worden sei, sei die Skepsis gegen deren Arbeit noch
       groß gewesen. Die üblichen Argumente halt: Braucht’s das? Können wir die
       alten Geschichten nicht mal ruhen lassen. Heute allerdings, erzählt Keller,
       sei die Dokumentationsstätte weitgehend akzeptiert.
       
       ## „Rassismus ist Gotteslästerung“
       
       Und manchmal sind es auch die kleinen Zeichen des Widerstands der
       Zivilgesellschaft, die Keller freuen: wenn etwa wieder ein Neonazi auf
       einem Schild auf dem Weg zur Dokumentation einen einschlägigen Aufkleber
       hinterlassen habe – und schon kurz darauf sei dieser durch einen anderen
       Aufkleber überklebt worden. Oder die Hakenkreuze, die immer noch gern in
       die Rinde der Bäume geschnitzt würden, die die Amerikaner einst hier
       gepflanzt haben, damit die Natur wieder von diesem unseligen Ort Besitz
       ergreife. In mühevoller Kleinarbeit schnitzten dann andere Menschen an dem
       Machwerk weiter, bis das ursprüngliche Zeichen nicht mehr zu erkennen sei.
       So etwas gebe ihm Zuversicht.
       
       Um die Breite ihres Bündnisses zu unterstreichen, lassen die Veranstalter
       möglichst viele Redner zu Wort kommen. Der Pfarrer spricht, auch ein
       Vertreter des DGB. Ein Erfahrungsbericht einer Frau, die als Kind einer
       schwarzen Mutter in Berchtesgaden aufwächst und über viele Jahre dem
       Rassismus ihres Umfelds ausgeliefert ist, wird verlesen. Auch heute noch
       will die Frau lieber anonym bleiben.
       
       Heinrich Bedford-Strohm ist ebenfalls nach Berchtesgaden gekommen. Wer
       gegen Rechtsextremismus sei, müsse auch dagegen einstehen, fordert er. Die
       Flucht ins Private lässt der ehemalige bayerische Landesbischof nicht
       gelten. Rassismus und Menschenverachtung, das sei Gotteslästerung. Und
       gerade Christen, so Bedford-Strohm, müssten in der ersten Reihe stehen,
       wenn es gelte, Flagge zu zeigen.
       
       ## „Die einzig wahre AfD“
       
       Und selbst die AfD hat ihren Auftritt. Die „einzig wahre AfD“ freilich, die
       „Antifaschistischen Dirndl“. Man wolle diese drei Buchstaben wieder positiv
       besetzen, nachdem ihnen eine Partei den Namen geklaut habe, sagt Martina
       Wenta, eines dieser Dirndl. Sie stellt sich mit Gitarre ans Mikro. Gut,
       musikalisch werde das jetzt nicht so anspruchsvoll, entschuldigt sie sich
       vorsorglich. „Schauen wir mal, wie weit wir mit zwei Akkorden kommen.“ Dem
       Erfolg des Lieds „I hob an Nazi gseng“ tut die schlichte Akkordfolge keinen
       Abbruch. Schnell singt die Menge mit.
       
       Von der VVN-BdA schließlich spricht Friedbert Mühldorfer. Er plädiert für
       ein Verbotsverfahren gegen die AfD und verliest ein Grußwort [3][des
       Holocaust-Überlebenden Ernst Grube]. Darin beschreibt Grube, wie er als
       Jugendlicher die Familie seiner späteren Frau kennengelernt habe. Eine
       Familie, deren Vater als Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe
       von den Nazis ermordet worden war: „Während ich als jüdisches Kind
       ausgegrenzt wurde, gab es also auch Frauen und Männer, die sich den Nazis
       widersetzt haben. Diese Erkenntnis war auch für mich der Startsignal, mich
       künftig einzumischen für Frieden und Gerechtigkeit und gegen alte und neue
       Nazis.“
       
       Heute sei Engagement gegen Nazis nicht mehr gefährlich, nur unbequem. Aber
       es sei vielleicht nötiger denn je. „Die heutige Ausgrenzung von
       Schutzsuchenden erinnert mich natürlich an die verzweifelte Hoffnung von so
       vielen Juden damals in der Nazizeit, irgendwie Zuflucht und Schutz zu
       finden im Ausland. Noch haben wir die Chance, diesmal rechtzeitig tätig zu
       werden.“
       
       Als am frühen Abend dann im Kongresssaal nebenan das Festival „Rock gegen
       Rechts“ beginnt, ist manches mehr Rock, manches mehr gegen Rechts.
       Einheimische Bands sind dabei wie Nony Music oder die
       Altherren-Folkrock-Fornation Die Combonisten, die Coverversionen von
       Fleetwood Mac, Bruce Springsteen oder Mumford & Sons spielen.
       
       Aber auch überregional bekannte Gruppen treten auf – so die Wiener
       Frauenband Vulvarine, die Rock, Metal und Punk vereint, und das frühere
       Mitglied der Biermösl-Blosn Hans Well, das jetzt mit seiner Tochter Sarah
       Well und dem Günzburger Hackbrettvirtuosen Komalé Akakpo aufspielt. Ein
       Trio, das noch in der Findungsphase ist, aber für die Zukunft viel
       verspricht. „Rockmusik statt Anbetung“, sagt Hans Well: „Mein Gott, wenn
       das der Führer wüsste!“
       
       27 Apr 2024
       
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