# taz.de -- Gedenkstreit in der Hamburger Hafencity: Wohnen, wo die Schlächter losfuhren
       
       > In Hamburgs Hafencity entstehen Wohnungen – da, wo einst Truppen nach
       > „Deutsch-Südwest“ verschifft wurden. Historiker fordern daran zu
       > erinnern.
       
 (IMG) Bild: Kurs „Deutsch-Südwest“: Kaiserlichen Schutztruppe an Bord des Dampfers „Alexandra Woermann“, 1904 in Hamburg
       
       HAMBURG taz | Im Baakenhafen in der [1][Hamburger Hafencity] sollen drei
       neue Wohnkomplexe entstehen. Ihre Besonderheit. Die Bebauung ist bereits
       seit 2012 geplant, etliche Gebäude säumen auch bereits die Hafenkante. Den
       Bebauungsplan legte die zuständige Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen
       öffentlich aus, zwei Wochen lang seit dem 17. Mai. Schon 2022 und 2023 gab
       es Öffentlichkeitsbeteiligungen, nun konnten Bürger*innen Stellung
       nehmen zu den Änderungen und Ergänzungen des Planentwurfs „HafenCity 19“.
       
       Einspruch eingelegt hat dagegen die [2][Forschungsstelle „Hamburgs
       (post-)koloniales Erbe“] an der Universität Hamburg. Der Grund: „Dieser
       historische Ort ist eng mit dem Völkermord an den Herero und Nama
       verbunden, der in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908 verübt
       wurde“, sagt Kim Todzi, Historiker an der Forschungsstelle. Mit der
       Bebauung des Hafenbeckens westlich der Elbbrücken vertue man die
       Möglichkeit, hier einen Gedenkort zu errichten.
       
       Während des Völkermords im heutigen Namibia ermordeten deutsche
       Kolonialtruppen bis zu 100.000 Menschen. Bei der Schlacht auf dem Waterberg
       im August 1904 versuchten die Kolonialtruppen rund 60.000 Herero
       einzukesseln, die sich auf dem Plateau versammelten. Die Herero konnten
       sich in die Omaheke-Wüste fliehen, die Deutschen riegelten diese aber mit
       einem 250 Kilometer langen Absperrgürtel ab. Systematisch und mit
       Waffengewalt hielten die deutschen Soldaten die in der Wüste Umzingelten
       von den Wasserstellen fern.
       
       Lothar von Trotha, Kommandeur der Kolonialtruppen und maßgeblich für den
       Völkermord verantwortlich, erließ den sogenannten „Vernichtungsbefehl“:
       „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit
       oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr
       auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.“
       Die meisten Herero verdursteten oder verhungerten in der Wüste. Überlebende
       wurden in Lagern inhaftiert, wo sie an den Folgen der Zwangsarbeit und der
       schlechten Lebensbedingungen starben.
       
       ## Truppen wurden gefeiert
       
       Mehr als 90 Prozent der am Völkermord beteiligten deutschen Truppen reisten
       über den Ort, an dem jetzt die neuen Gebäude entstehen sollen, in das
       Kolonialgebiet. Mehr als 18.000 Soldaten und 11.000 Pferde wurden über den
       Petersenkai im Hamburger Baakenhafen verschifft. Die Bevölkerung
       zelebrierte die An- und Abfahrten der Truppen, teilweise kamen tausende
       Zuschauer*innen in den Hafen. Regierungsvertreter reisten an, die
       Soldaten bekamen „Liebesgaben“ mit auf die Reise: Das waren meist
       Postkarten oder Zigarettentäschchen, die der Senat extra anfertigen ließ.
       
       Nach der Niederschlagung des antikolonialen Aufstands wurde von Trotha 1905
       bei seiner Ankunft in Hamburg von Bürgermeister Johann Heinrich Burchard
       persönlich und mit einer Feier im Namen des Senats begrüßt. Noch bis 1999
       war der Baakenhafen der Knotenpunkt für den Hamburger Handel mit
       afrikanischen Ländern. Dann begann der Bau der Hafencity.
       
       „Der Baakenhafen ist ein authentischer Ort des Kolonialismus“, sagt Todzi.
       „Einer der wenigen, die explizit auf die deutsche Gewaltgeschichte
       außerhalb Europas verweisen.“ Allerdings fehle bisher jegliche öffentliche
       Erinnerung. Die Forschungsstelle publiziert seit 2019 zum Hafen und hat
       seine Kolonialgeschichte erstmals umfangreich aufgearbeitet. „Ich sehe die
       Gefahr, dass mit der Bebauung Fakten geschaffen werden, die nicht mehr
       rückgängig gemacht werden können“, sagt Todzi. „Das sollte nicht
       widerspruchsfrei hingenommen werden.“
       
       Drei neue Wohntürme sollen ins Wasser gebaut werden, Stege verbinden sie
       mit dem Ufer. 230 Wohneinheiten sollen so in den knapp 60 Meter hohen
       Türmen entstehen. Im ursprünglichen Wettbewerbsverfahren 2012 waren noch
       drei Zwillingsbauten mit insgesamt sechs eng beieinander stehenden Häusern
       vorgesehen. Laut Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing hat sich dieser
       Ansatz im Laufe der Zeit als unsinnig herausgestellt. 2021 wurde daher
       gemeinsam mit den drei Hamburger Bauherren ein erneutes
       Wettbewerbsverfahren durchgeführt, bei dem sich dann drei unterschiedliche
       Architekturbüros durchsetzten.
       
       ## Ruf nach Dokumentationszentrum
       
       Die Forschungsstelle fordert, „die historische Bedeutung des Baakenhafens
       angemessen zu berücksichtigen“: Man sei gar nicht grundsätzlich gegen eine
       Bebauung, schlägt aber vor, dort ein Dokumentationszentrum für die
       Geschichte des kolonialen Völkermordes und die Rolle des Hamburger Hafens
       zu errichten.
       
       Immerhin hatte nur einige Tage nach Auslegen des Bebauungsplans, am 21.
       Mai, Kultursenator Carsten Brosda (SPD) ein [3][neues stadtweites
       Erinnerungskonzept „Hamburg dekolonisieren!“] präsentiert, das die
       Schaffung „würdiger Formen und Orte des Erinnerns“ vorsieht. Dabei gehe es
       auch darum „unsere eigenen blinden Flecken in der Aufarbeitungsgeschichte
       zu erkennen“, so Brosda. Ein solcher blinder Fleck ist der Baakenhafen.
       
       Eine „koloniale Amnesie“ bescheinigt gar Jürgen Zimmerer, [4][Leiter der
       Forschungsstelle], der hamburgischen und überhaupt der deutschen
       Erinnerungskultur. „Die gesamte Grausamkeit und Brutalität des deutschen
       Kolonialismus ist nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert“, sagt er der
       taz. Der Baakenhafen könne zu einem erneuten Beispiel dieses Vergessens,
       wenn nicht gar eines bewussten Verdrängens werden.
       
       Die Gleichzeitigkeit der Veröffentlichung des Bebauungsplans und des
       Erinnerungskonzepts passt für ihn nicht zusammen. „Vielleicht weiß in
       Hamburg die eine Behörde nicht, was die andere tut. Das Erinnerungskonzept
       soll eigentlich ganz bewusst behördenübergreifend sein“, sagt der
       Kolonialhistoriker. Er kritisiert auch, dass die Stadt die
       wissenschaftliche Forschung nicht genug berücksichtigt: „Das Wissen über
       die Kolonialgeschichte des Baakenhafens ist noch kein Allgemeinwissen. Bei
       Projekten wie dem in der Hafencity braucht es deshalb wissenschaftlicher
       Grundlagenforschung, ja einen wissenschaftlichen Beirat, der auf ein
       derartiges Problem aufmerksam machen kann.“
       
       Von Seiten der Behörde für Stadtentwicklung und Bauen heißt es, dass eine
       Bebauung des Hafenbeckens einen Gedenkort nicht ausschließe. Dieser könne
       auch später noch entstehen. Einen informatorischen Austausch mit der dafür
       zuständigen Kulturbehörde habe es bisher jedoch nicht gegeben. Sprecher
       Enno Isermann versichert der taz, dass am Baakenhafen noch ein Gedenkort
       entstehen solle. „Der Baakenhafen ist Teil des Erinnerungskonzepts.
       Natürlich wäre ein schnelleres Vorgehen wünschenswert“, sagt er, „aber das
       wäre Erinnerung von oben. Wir wollen [5][die Zivilgesellschaft] in den
       Prozess mit einbeziehen.“
       
       30 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Hamburg-ehrt-bis-heute-Kolonialisten/!5691779
 (DIR) [2] https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/globalgeschichte/forschung/forschungsstelle-hamburgs-postkoloniales-erbe.html
 (DIR) [3] /Hamburg-ruehrt-an-unbequemem-Erbe/!6008985
 (DIR) [4] /FDP-stuetzt-Kolonialismus-Forschung/!5998319
 (DIR) [5] http://www.hamburg-postkolonial.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jonas Kähler
       
       ## TAGS
       
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