# taz.de -- Spielfilm über Frauen im Iran: Er ist zu alt für Sorgen
       
       > Der Film „Ein kleines Stück vom Kuchen“ zeichnet ein realistisches Bild
       > von unterdrückten Frauen im Iran. International wird der Film gefeiert.
       
 (IMG) Bild: Mahin (Lily Farhadpour) und Faramarz (Esmail Mehrabi) bei ihrem ersten Date
       
       Dass die 70-jährige Mahin (Lily Farhadpour) sich einsam fühlt, lässt sich
       komplett nachvollziehen. Ihr Mann ist seit 30 Jahren tot, die Tochter lebt
       mit ihrer Familie im Ausland und bei den seltenen Kaffeekränzchen mit den
       betagten Freundinnen, ihren „alten Mädels“, geht es dann gerne um
       Krankheiten und Darmspiegelungen. Von Letzterer hat eine Freundin mit einem
       besonders ausgeprägten Krankheits- und Arztfetisch sogar ein Video dabei,
       hach! Als im Radio von einem Roboter für Einsame die Rede ist, spitzt Mahin
       die Ohren.
       
       Um dem Trott zu entfliehen, beschließt die Frau, ihr Liebesleben zu
       reaktivieren. Ein Mann muss her, damit ihre fein während einer Daily Soap
       lackierten Fingernägel auch einen Adressaten bekommen. Die Frau streift
       durch Teheran, hält im Restaurant eines Hotels, in dem sie einst zu
       Konzerten mit hohen Absätzen und tiefen Ausschnitten tanzte, „nicht in
       dieser Hidschab-Kleidung“, die Augen auf.
       
       Es heißt nicht mehr Hyatt, sondern ironischerweise „Freiheit“, und den
       geliebten Café glacé gibt es auch nicht mehr. In einem Restaurant, in dem
       ein paar Rentner ihre Mittagspause verbringen, beobachtet sie den
       Taxifahrer Faramarz (Esmail Mehrabi), folgt ihm und lässt sich von ihm nach
       Hause fahren.
       
       [1][Das Regie-Ehepaar Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha erzählt in „Ein
       kleines Stück vom Kuchen“] mit feinem Humor und zarter Melancholie von
       Frauen im Iran, von einem späten Treffen zweier Seelenverwandter und von
       Begehren im Alter. Doch selbstverständlich ist der Film des Duos nicht
       einfach eine gut geschriebene und äußerst charmant gespielte romantische
       Tragikomödie, sondern eine, die im Iran spielt und damit: ein Politikum.
       
       ## Unheilvolle Vibes
       
       Die Kritik am iranischen Regime und später auch unheilvolle Vibes begleiten
       den Film. Einmal wird die Kritik sehr konkret, als Mahin einer jungen Frau
       gegen die Sittenpolizei hilft, die diese wegen ein paar sichtbaren Haaren
       verhaften will. „Je unterwürfiger du bist, desto mehr unterdrücken sie
       dich“, erklärt sie der dankbaren Frau, die im Park ist, um ihr Date zu
       treffen.
       
       Auch dass Lily Farhadpour die Hauptrolle spielt, ist ein politisches
       Statement, denn die Autorin und Übersetzerin engagiert sich als
       Menschenrechtlerin, ist Mitglied der NGO „Mütter für den Frieden“ und kam
       auf Kaution aus dem [2][berüchtigten Evin-Gefängnis] frei.
       
       In ihrem letzten [3][Film „Ballade von der weißen Kuh“], der auf der
       Berlinale Premiere feierte, erzählten die beiden von einer jungen Witwe,
       deren Mann unschuldig zum Tode verurteilt wurde – eine kinematografische
       Auseinandersetzung mit dem kruden iranischen Justizsystem. 2023 nahm man
       ihnen, als sie für die Postproduktion von „Ein kleines Stück vom Kuchen“
       nach Paris reisen wollten, am Flughafen die Pässe ab und drohte mit Klagen.
       
       Bei einer kurz darauf erfolgten Razzia im Zuhause des Filmeditors wurde
       Filmmaterial beschlagnahmt. Aufgrund des Ausreiseverbots konnten Moghaddam
       und Sanaeeha ihren Film nicht selbst auf der diesjährigen [4][Berlinale
       präsentieren, wo er im Wettbewerb Weltpremiere feierte] und den
       Fipresci-Preis und den Preis der Ökumenischen Jury erhielt.
       
       ## Repression und Gewalt
       
       Seit Jahren schon ist die Geschichte des international rezipierten
       iranischen Kinos zugleich auch eine von staatlichen Repressionen und Gewalt
       gegen die Meinungs- und Kunstfreiheit. Gerade erst [5][floh der von der
       iranischen Zensurbehörde und dem Sicherheitsapparat malträtierte Regisseur
       Mohammad Rasoulof vor einer achtjährigen Haftstrafe] und Auspeitschung aus
       seiner Heimat.
       
       Nach der Flucht konnte er seinen aktuellen Film „Der Samen der Heiligen
       Feige“, der mit einem eigens vergebenen Sonderpreis der Jury geehrt wurde,
       in Cannes präsentieren. Zur Weltpremiere erhielt der Regisseur fast 15
       Minuten Standing Ovations.
       
       Der ebenfalls gefeierte Regisseur Jafar Panahi, mit dem Rasoulof 2010
       während der Dreharbeiten zu einem Film über die Proteste nach den
       iranischen Präsidentschaftswahlen von 2009 wegen „Propaganda gegen das
       System“ verhaftet worden war, steht unter Berufsverbot, dreht seit Jahren
       heimlich und schmuggelt seine Filme außer Landes. Panahi wurde im Juli 2022
       erneut festgenommen und kam nach einem Hungerstreik im Februar 2023 auf
       Kaution aus dem Evin-Gefängnis frei.
       
       Dass Kunst kaum mehr unpolitisch sein kann, erzählt viel über den Zustand
       eines Landes. Und dass diese Kunst nur im Heimlichen passieren kann, in
       Safe Spaces, noch viel mehr. Der auf den großen Festivals laufende
       iranische Film spielt nicht selten in Übergangsorten – Panahi hat in seinen
       semidokumentarischen Filmen das Taxi als Filmset genutzt –, er spielt in
       inländischen und ausländischen künstlerischen Exilen, im Verborgenen.
       
       ## Trotz allem Leichtigkeit
       
       Vor diesem Hintergrund wirkt die Tatsache, dass Mahins Schwarm Faramarz
       Taxifahrer ist und dass sich „Ein kleines Stück vom Kuchen“ schließlich zu
       einem Kammerspiel entwickelt, wie eine logische Konsequenz für ein
       kritisches Kino. Doch ist es Moghaddams und Sanaeehas große Kunst, dass
       ihrem Film trotz allem die Leichtigkeit nicht abhandenkommt.
       
       Besagter Safe Space, in dem Mahin und Faramarz eine zuckersüße Choreografie
       der Annäherung vollführen, ist die Wohnung der Alleinstehenden. Die
       entschlossene Frau überredet den Taxifahrer, sie nach Hause zu begleiten.
       „Park nicht am Haus, die Nachbarn sind neugierig“, lächelt sie ihn an.
       
       Neugierig meint in diesem Fall auch, dass der Mann der Nachbarin für die
       Regierung arbeitet. Faramarz stand einst selbst im Dienste des Systems und
       kämpfte als Soldat während der Iranischen Revolution an der Front. Er wurde
       nie angemessen entschädigt und verbrachte den Großteil der letzten 30 Jahre
       in Einsamkeit.
       
       Für beide gibt es also viel nachzuholen, und es ist eine Freude, Farhadpour
       und Mehrabi bei ihrem zarten Tanz und beim Auftauen zuzuschauen. Zu Beginn
       klemmt Faramarz schüchtern in der Sofaecke, bis Mahin zum Essen Wein
       serviert. „Schenk uns ein, ich bin zu alt für Sorgen“, sagt er und erzählt,
       dass er nach dem Alkoholverbot selbst Wein gekeltert habe.
       
       ## Die Gespräche werden intimer
       
       Das angehende Paar tanzt zu iranischen Oldies, isst in Mahins malerisch
       bewuchertem Garten, und die Gespräche werden intimer. 30 Jahre habe sie
       niemand mehr nackt gesehen, sagt sie, und das Begehren lässt die Luft
       zwischen den beiden vibrieren. Mohammad Haddadis Kamera beobachtet das
       angehende Paar sanft durch die Räume der Wohnung gleitend und mit langsamen
       Kreisbewegungen.
       
       „Ein kleines Stück vom Kuchen“ zeichnet ein realistisch-humorvolles, nicht
       aktivistisch lautes Bild von unterdrückten Frauen im Iran, von dem Wunsch
       nach Freiheit gegen das theokratisch-patriarchale System. Der Beginn der
       Dreharbeiten fiel mit den Ereignissen um Jina Mahsa Amini zusammen.
       
       Die 22-jährige kurdischstämmige Iranerin wurde am 13. September 2022 in
       Teheran wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Hidschab-Gesetz von der
       Sittenpolizei festgenommen und auf der Polizeiwache derart zugerichtet,
       dass sie ins Koma fiel und am 16. September in einer Klinik starb. Der
       Vorfall zog die größten und längsten Proteste gegen das Mullah-Regime seit
       der Revolution 1979 nach sich.
       
       Moghaddam und Sanaeeha stellen dem brutalen Regime einen Film entgegen, in
       dem sich die Lebensrealitäten zweier einsamer Seelen, stellvertretend für
       die vielen Unterdrückten, märchenhaft zu wenden scheinen. Kann man diesem
       Glück trauen?
       
       10 Jul 2024
       
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