# taz.de -- Kunst über eine Kleinstadt in Vorpommern: Verschwinden und Wiederkommen
       
       > Wiederholt hat sich die Künstlerin Barbara Camilla Tucholski mit ihrer
       > vorpommerschen Heimatkleinstadt beschäftigt. Nun ist „Loitz“ in Schwerin
       > zu sehen.
       
 (IMG) Bild: Zunehmend verwaiste Einkaufsstraße, farbig akzentuiert: „Window Shoppin“ (2008)
       
       Es ist eine biografische Erkundung und zugleich eine erzählerische
       Untersuchung; „Zeichnung, Malerei, Skulptur, Installation und
       Künstlerbuch“, so formuliert es [1][der Schweriner Kunstverein]: Schlicht
       „Loitz“ heißt die derzeit dort laufende Ausstellung des, eben, nicht nur
       zeichnerischen Werks von Barbara Camilla Tucholski. Loitz, das ist [2][eine
       Kleinstadt im Landkreis Vorpommern-Greifswald], die Peene fließt daran
       vorbei, die Ostsee ist auch nicht schrecklich weit weg.
       
       Hier ist [3][Barbara Camilla Tucholski] geboren worden, am 7. September
       1947 um 7 Uhr im einem Zimmer Nummer 7, heißt es. In drei Kapiteln hat die
       Künstlerin sich dem Ort ihres Aufwachsen gewidmet: „Im Schloss meiner
       Erinnerung“ von 2007, „Das Glück dieser Erde“, entstanden ein Jahr später,
       und schließlich „Window Shopping“ im selben Jahr und im Jahr darauf
       umgesetzt.
       
       Die Eltern führten einen Gasthof mit Fremdenzimmern, „In meines Vaters Haus
       gibt es viele Zimmer“, ist nun biblisch auf einem Zwischenblatt in
       Tucholskis Buch vermerkt. Es gab einen Ballsaal als eigentliches Zentrum
       der Erwachsenenwelt: Am Abend wurde Musik gespielt, Gläser klirrten,
       Gelächter. „Nachts war der Saal voller Stimmen und morgens früh
       menschenleer“, schreibt Tucholski. Das muss beeindruckend gewesen sein –
       und prägend: Ein Kind wacht auf und alles ist wieder still. Als wäre gar
       nicht gewesen, was doch war.
       
       1953, fünfeinhalb Jahre alt war da das Kind, verließ die Familie heimlich
       das Haus. Verließ die kleine Stadt, ja: gleich das ganze Land namens DDR.
       Da war dann wirklich alles weg, am nächsten Tag, in West-Berlin; kam auch
       nicht wieder, am neuen Ort im Westen; nach etlichen Umzügen landete die
       Familie irgendwann im Ruhrgebiet. All die Zimmer und der zentrale Saal
       waren verschwunden, die Verwandten und Nachbarn – und der Hund, vom Kind
       ganz besonders vermisst.
       
       ## Schicksal bestimmende Begegnungen
       
       Barbara Camilla Tucholski studierte Kunst an der Akademie Düsseldorf, 1970;
       es folgte ein Studium der Kunstgeschichte in Bonn. Noch viel später, 1995,
       wurde Tucholski dann Professorin für Kunst und ihre Didaktik an der
       Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Sie hat ausgestellt, in Wien und
       Rostock etwa, in Köln und Hamburg: „Arkadien“ oder,,Pusteblume“ oder auch
       „Menschen, Tiere und Kanonen“ heißen ihre zeichnerischen Zyklen.
       
       Dazwischen entfaltete sich ihr Loitz-Projekt, denn mitten in ihrer
       künstlerischen Laufbahn lag 1989, genauer: der 9. November. Da fiel eine
       Grenze, und im Jahr darauf verschwand gleich ihr ganzes altes Land.
       Tucholski reiste das erste Mal zurück nach Loitz. Und hatte – auch davon
       erzählt die Ausstellung – Schicksal bestimmende Begegnungen: Ihr Elternhaus
       stand noch wie einst, rosafarben zeichnete sie es, eingezwängt in eine
       Häuserreihe seinen Platz behauptend. Und auf der Straße begegnete sie zwei
       Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie sind in etwa so alt, wie sie
       und ihr Bruder damals gewesen sein mögen, beim Weggehen; Tucholski sprach
       sie an, malte und zeichnete die beiden. Nun hängen „Niko“ und „Jana“ im
       dritten Raum der Ausstellung.
       
       Tucholski kehrte auch in ihr Elternhaus zurück, zeichnete vor Ort: die
       Treppe zum Ballsaal; die siebenarmige Lampe an der Decke; das Bett,
       verborgen hinter einem Schrank. Die Ecke schließlich, in der ihr
       Kinderwagen stand und von wo aus sie in die Welt geschaut hat. Nicht, dass
       sie sich noch daran erinnern dürfte, so klein wie sie damals war; was sie
       aber tut – nur eben auf zeichnerische Weise, die einzig zählt.
       
       Da, wo um Loitz herum die Felder beginnen, entdeckte die zurückgekehrte
       Künstlerin eines Tages einen langgezogenen Flachdachbau. Darin: ein langer
       Flur, von dem, wieder, viele Zimmer abzweigen. Ursprünglich errichtet als
       Lehrlingsheim für die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, wurde
       das Gebäude in den späteren 1970er-Jahren einem neuen Zweck zugedacht:
       Daraus wurde ein Ferienheim für Pferdefreunde, Amateure und Profis.
       
       ## Ein neuer Kultur-Verein
       
       Heute steht es leer, einerseits. Andererseits sind da noch die Möbel, die
       Tapeten, die Bilder, mit Hilfe derer man den Gästen offenbar ein wenig
       ästhetischen Geschmack beibringen wollte: Kopien von Dürers „Hase“ oder ein
       „Blumenstrauß“ nach Breughel, dazu jede Menge Pferdemotive. „Zimmer 2,
       Nordlage, zwei Pferdebilder“ hat Tuchowski auf einem nächsten Zwischenblatt
       notiert.
       
       Sie machte sich mit dem Bau vertraut, begann vor Ort zu malen und zu
       zeichnen; stellte in den Zimmern aus. Und sie nahm irgendwann ihre
       StudentInnen mit, schaffte einen Ort zum gemeinsamen Arbeiten. So privat
       ihre Familiengeschichte ist, so universell ist das Projekt, den Ort und
       seine Geschichte(n) zu erfassen. Weshalb der nächste Schritt folgte zurück
       im Zentrum von Loitz, wo in der einstigen Einkaufsstraße die allermeisten
       Geschäfte längst leer stehen: Die verlassenen Fensterfronten bestückte
       Tucholski mit einfarbigen Leinwänden, die Straße hoch und wieder runter.
       
       Mittlerweile hat sie den
       Landwirtschafts-Lehrlingsheim-Pferdebilder-Flachbau gekauft, seit 2014
       residiert darin [4][der Verein „Künstler Gut Loitz“] mit wechselnden
       Ausstellungen – und Barbara Camilla Tucholski als Vorsitzender. So schließt
       sich der Kreis aus Herkunft, Weggehen, Wiederkommen und Weitergeben. Im
       Schweriner Kunstverein, einst selbst Reparaturwerkstatt des städtischen
       Elektrizitätswerks, ist Tucholskis dreiteiliges Loitz-Projekt nun erstmals
       zu sehen – in seiner ganzen schönen Vielfalt und überzeugenden Stringenz.
       
       19 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /!5793866
 (DIR) [2] https://www.filmkunstfest.de/festivalprogramm/programm-film?VNr=3208
 (DIR) [3] http://www.kunstverein-schwerin.de/2024/bct/
 (DIR) [4] https://www.kuenstler-gut-loitz.de/
       
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 (DIR) Frank Keil
       
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