# taz.de -- Debatte um autofiktionale Romane: Zählt nur noch die Authentizität?
       
       > Bevor das neue Literaturjahr so richtig losgeht: ein Versuch, etwas
       > Unordnung in die Debatte über den Erfolg der Autofiktion zu bringen.
       
 (IMG) Bild: Dieses Bild wirkt authentisch. Oder bedient es nur fiktive Muster, wie Authentizität aussieht?
       
       Eigentlich gibt es – konnte man neulich mal wieder denken, als sich viele
       Beobachter über die erste Folge der neuen Literatursendung „Studio Orange“
       von Sophie Passmann so überschäumend aufregten – das Bedürfnis nach zwei
       ganz unterschiedlichen Literaturformaten.
       
       Nach einem, das man gern schaut, weil man sich in ihm gut über
       Neuerscheinungen informieren, über produktive Gedanken freuen und sein
       Literaturenthusiasmus intelligent gespiegelt sehen kann. Das war die erste
       Folge von „Studio Orange“ dezidiert nicht, die Sendung ist danach aber
       immerhin besser geworden.
       
       Es gibt aber auch das klammheimliche Bedürfnis nach einem Format, das man
       gar nicht gern, vielleicht sogar dezidiert auf gar keinen Fall sieht – über
       das man sich aber wunderbar empören und über diese Empörung gut mit anderen
       Menschen ins Gespräch kommen und sich darin des eigenen, besseren,
       kulturaffineren Geschmacks versichern kann.
       
       Dieses Schema gibt es auch bei den Büchern selbst. Man liest Clemens Setz
       und [1][auf keinen Fall den neuen Roman von Juli Zeh] (oder andersherum).
       Man liest wiederentdeckte Autorinnen wie Tove Ditlevsen und auf keinen Fall
       Heinz Strunk. Eine Schwärmerei für das eine geht tatsächlich oft mit einer
       Abwertung des anderen einher (literarische Beobachter wie Maxim Biller
       bespielen dieses Schema sehr ausdrucksstark).
       
       ## Nobelpreis, Buchpreis, Büchnerpreis
       
       Wobei längst erstens zu fragen wäre, ob so eine binäre Sicht überhaupt noch
       in die komplizierter gewordene Gegenwart passt. Und zweitens, ob die von so
       einem Dualismus grundierten Literaturdebatten nicht von ihrer Ausrichtung
       her prinzipiell viel zu ordentlich geraten. Jetzt bei den aufflackernden
       Diskussionen rund um den aktuellen Erfolg der Autofiktion zum Beispiel.
       
       Tatsächlich ist es wohl gut, nun am Beginn des neuen Jahres einmal dem
       nachzugehen, was da im vergangenen Jahr passiert ist. Um nur die großen
       Literaturpreise zu nennen: Nobelpreis für Annie Ernaux, Deutscher Buchpreis
       für Kim de l’Horizon und, wenn man einen weiten Begriff von Autofiktion
       ansetzt, Georg-Büchner-Preis sowie Schillerpreis für Emine Sevgi Özdamar.
       
       Das ist ein beeindruckender Durchmarsch. Der viele Beobachter irritiert und
       zu Verteidigungen des Fiktiven und Literarischen herausfordert. Verbunden
       allerdings mit dem Ergebnis, dass die Autofiktion allzu pauschal den
       Bereichen des Inhaltlichen und Thematischen, wenn nicht gleich des
       gesellschaftlichen Aktivismus zugeschlagen und dagegen ebenso pauschal die
       Fiktion und damit die Arbeit an Form und Sprache hochgehalten wird.
       
       Autofiktion wird als Moralisierung verstanden und dagegen die Kunst des
       Erzählens ausgespielt. Doch so eindeutig ist es nicht. Denn die Autofiktion
       ist keineswegs von außen als Trend oder Mode über den Literaturbetrieb
       gekommen.
       
       ## Die Rolle von #MeToo
       
       Man muss wohl aufpassen, dass man sie nicht zu nah an gesellschaftliche
       Bewegungen wie #MeToo und Blacklivesmatter heranrückt, mit denen sie
       andererseits aber selbstverständlich etwas zu tun. Diese Bewegungen haben
       sich seit Mitte der Zehner Jahre aus ihren spezifischen Kontexten (Prozess
       gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein, Ermordung des Schwarzen George
       Floyd durch einen Polizisten) gelöst und erweitert zur großen
       Infragestellung von Sätzen wie: „Nun stell dich doch nicht so an“ oder
       „Damit musst du dich abfinden, das ist eben so.“
       
       Im Zuge der Solidarisierung mit diesen Protesten wuchs das Interesse an
       detaillierten Beschreibungen davon, wie in unseren Gesellschaften mit den
       Einzelnen tatsächlich umgegangen wurde und wird, nicht nur im Showbusiness
       und in den Gettos, sondern auch in den Familien, den Betrieben, den Schulen
       und Universitäten, im Alltag. Und selbstverständlich spielt dieses
       Interesse für den Erfolg der Autofiktion eine Rolle.
       
       Doch damit geht die Autofiktion keineswegs im Aktionismus auf. Wenn man
       einmal von ganz weit weg drauf sieht, kann man eher vielleicht sogar
       feststellen, dass beide, die Autofiktion wie die Protestbewegungen,
       Ausdrücke eines gesteigerten Selbstbewusstseins der Einzelnen sind. So
       möchte man nicht mit sich umgehen lassen und registriert genau, wie
       vorangegangene Generationen und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen mit sich
       umgehen lassen mussten. Dass die inzwischen eingeübten neuen
       Ausdrucksformen der sozialen Medien ständig neues Debattenfutter brauchen,
       spielt dabei auch eine Rolle.
       
       ## Die Arbeit des Lebens
       
       Damit aber wurden Tendenzen an die Oberfläche gepusht, die im
       Literaturbetrieb schon seit langer Zeit bereitlagen. Was heute Autofiktion
       heißt, trat spätestens mit den Grundmodernisierungen des Gesellschaft in
       den sechziger Jahren unter dem Begriff der Erfahrung an. Dieter Wellershoff
       ging autobiografisch der „Arbeit des Lebens“ nach. Niemand anderes als
       Peter Handke publizierte 1972 in seiner Muttererzählung „Wunschloses
       Unglück“ einen Klassiker des Autofiktionalen.
       
       Im Umfeld des Essayisten Michael Rutschky setzte man auf „Erfahrungshunger“
       und experimentierte für Bücher, [2][die sich zwischen Fiktion und Sachbuch
       nicht klar entscheiden wollen,] mit Bezeichnungen wie „Bücher ohne
       Familiennamen“ oder „Creative Non-Fiction“ oder auch mit Übernahmen des
       amerikanischen Begriffs des Memoirs. Der US-Autor David Shields
       aktualisierte das 2010 mit der Wendung „Reality Hunger“ und so weiter.
       
       Das literarische Interesse dieser Traditionslinien ging dahin, den
       gesellschaftlichen Entwicklungen und den Bedingungen des eigenen Erlebens
       eben nicht aus der Perspektive politischer Allgemeinbegriffe nachzugehen,
       wie es die Achtundsechziger taten, sondern konkret aus den alltäglichen
       Erfahrungen heraus, aber eben durchaus mit analytischem Blick.
       
       ## Unbehagen am realistischen Erzählen
       
       Verbunden war das mit einem Gefühl des Unbehagens an den eingeführten
       literarischen Formen des realistischen Erzählens. Das lakonische „Er sagte
       – sie sagte“ à la Hemingway, das von Flaubert herrührende auktoriale
       Verstecken in den vom Fühlen der Figuren her gefärbten Beschreibungen, das
       hatte sich, so etwa die Analyse des einflussreichen US-Literaturkritikers
       James Wood, längst verselbstständigt. Es hat sich gewissermaßen totgesiegt,
       bis hin zu den berühmt-berüchtigten erzählerischen Einstiegen von
       Spiegel-Reportagen.
       
       James Wood war es, der den Autor Karl-Ove Knausgård in den USA durchgesetzt
       hat, dessen sechsbändige „Min Kamp“-Reihe den Einbruch der Autofiktion in
       den Mainstream einläutete, bevor dann Didier Eribon und vor allem Annie
       Ernaux kamen und so breiten Erfolg für ihre sezierende Sprache solcher
       Phänomene wie Scham und Klassismus gefunden haben.
       
       Was Knausgård betrifft, so kann man gegenüber seinem autobiografischen
       Projekt als Ganzem Unbehagen empfinden. Die letzten Bücher der Reihe sind
       einfach zu hastig geschrieben, und es gibt berechtigte Zweifel daran, ob
       der [3][Umgang mit der zerbrechenden Beziehung zu seiner damaligen Frau]
       noch irgendwie okay ist. Doch das ändert nichts daran, dass die ersten
       Bände grandios sind und vor allem ihre Wucht innerhalb eines genuin
       literarischen Settings entfalteten: Im Vergleich zu den Bänden „Sterben“
       und „Lieben“ sahen eingeführte Bemühungen einen, wie es heißt, „verdammt
       guten Roman“ zu schreiben, eine Zeitlang ziemlich alt aus.
       
       ## Ernaux lebt vom Sound
       
       Sobald man Autofiktion auf diese Weise nicht ausschließlich vom
       #MeToo-Protestpol her, sondern auch als Einsatz im Spiel der literarischen
       Formen begreift, wird die Gemengelage interessant unordentlich. Knausgård
       und Ernaux trennen Welten, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal.
       Ernaux lebt stark von ihrem kühl bohrenden Sound. Als weitere Spielart der
       Autofiktion wäre Sigrid Nunez zu nennen.
       
       Die Art und Weise, wie sich in „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ der Roman
       eines Frauenlebens aus verschiedenen autobiografischen Essays
       zusammensetzt, ist auch formal aufregend. Kurz, statt das Fiktive pauschal
       gegen Autofiktion ins Spiel zu bringen, ist es an der Zeit, innerhalb des
       Felds des Autofiktionalen zu differenzieren.
       
       Zumal die Autorinnen und Autoren längst auch wieder daran arbeiten, die
       klare Trennung der Bereiche aufzuheben. Kim de l’Horizon „Blutbuch“ etwa
       ist keineswegs ausschließlich autobiografisch zu lesen, es trägt auch
       romanhafte Züge und führt vor allem auch eine in Bezug auf literarische
       Formen reflexive Spur mit, indem es ganz unterschiedliche Schreibweisen
       darauf hin ausprobiert, wie weit sie in unsere Zeit passen.
       
       In so einer schlauen Wendung wie „ins Förmchen goethen“ verbinden sich dann
       auch Formreflexion und Gesellschaftsanalyse. Wer in den aktuellen
       Literaturdebatten gegen die soziologische Seite der Autofiktion das
       utopische Potenzial der literarischen Form ausspielen möchte, sollte schon
       auch einmal über die Rolle nachdenken, die das Setzen auf Form in der
       klassisch bürgerlichen Literaturgesellschaft gespielt hat. Verbunden war
       sie, da hat Kim de l’Horizon einen Punkt, mit Affekt- und
       Begehrenskontrolle.
       
       ## Keineswegs nur Soziologie
       
       Was Autofiktion interessant macht, ist so keineswegs nur Soziologe oder die
       Artikulation virulenter Punkte um race, class und gender, sondern eben die
       implizite Reflexion literarischer Formen und die Verschiebungen, die sich
       damit ergeben. Und es gibt auch schon genuin literarische Romane, die nicht
       neben oder sogar gegen die Autofiktion geschrieben sind, sondern wie nach
       der autofiktionalen Wendung – die Impulse der Autofiktion aufnehmend und
       zugleich danach suchend, das literarische Spielbein wieder freizubekommen.
       
       Auch wenn man Christian Krachts „Eurotrash“ nicht gar so epochal finden
       muss, wie viele Beobachter es tun, kann man doch feststellen, dass hier der
       Versuch unternommen wird, den Traumaplot und das Narrativ von der
       Aufarbeitung der Herkunft neu zu literarisieren. Und Martin Kordić legt in
       „Jahre mit Martha“, sozusagen mit dem Formbesteck der Autofiktion, eine
       komplett fiktive Form vor, von schwierigen Sozialaufstiegen und den feinen
       Unterschieden in unserer Gesellschaft zu erzählen.
       
       Das Authentische und das Fiktive – diesen Gegensatz gibt es in den reinen
       Form eben wohl gar nicht; interessant sind die Vermischungen und
       Wechselbeziehungen. Und die guten Bücher – sowohl die ausgedachten wie die
       autofiktionalen – wissen das auch.
       
       13 Jan 2023
       
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