# taz.de -- Deutsche Kolonialverbrechen und Schule: Black History Matters
       
       > An einer Schule haben Schüler:innen eine Black History Class
       > entwickelt. Sie fordern, dass Kolonialverbrechen Teil des Stundenplans
       > werden.
       
 (IMG) Bild: Gefangene Herero-Frauen und ihre Kinder unter deutscher Kolonialherrschaft, 1905
       
       BERLIN taz | Es kommt nicht jeden Tag vor, dass sich Jugendliche von dem,
       was in deutschen Klassenzimmern gelehrt wird, berühren lassen. An der
       Berliner Nelson-Mandela-Schule geschieht dies kurz vor den Sommerferien an
       drei aufeinanderfolgenden Tagen – und das liegt an der Person, die eigens
       von Namibia nach Deutschland gereist ist, um eine Lücke im deutschen
       Lehrplan zu füllen. Und um der deutschen Gesellschaft zu spiegeln, wie
       wenig sie sich ihrer blutigen Kolonialgeschichte stellt. Auch heute noch,
       nach über hundert Jahren.
       
       An Tag zwei ihres dreitägigen Seminars an der Nelson-Mandela-Schule steht
       [1][Sima Luipert] im Raum 111/112 und erzählt von ihren Vorfahren: von
       ihrer Urgroßmutter, die in einem Konzentrationslager die Schädel der
       Ermordeten reinigen musste, damit das Deutsche Kaiserreich sie vermessen
       und in Museen ausstellen konnte. Von ihrer Großmutter Katrina, die weiße
       Haut hatte, weil deutsche Soldaten in der Kolonie Deutsch-Westafrika
       massenhaft Gefangene vergewaltigten.
       
       Und von ihrem Ururgroßvater Cornelius Frederick, der heute noch irgendwo in
       einem deutschen Museumskeller liegt. „Nach unserem Glauben kann seine Seele
       erst ruhen, wenn er in seiner Heimat begraben ist“, ruft Luipert auf
       Englisch in den Raum. „Wann gibt uns Deutschland endlich seine Knochen
       zurück?“
       
       Luipert ist Mitglied der Nama Traditional Leaders Associaton, der
       politischen Vertretung der Nama in Namibia. Normalerweise trifft sich die
       52-Jährige in Deutschland mit Politiker:innen und
       Menschenrechtsaktivist:innen, um über Reparationszahlungen der
       Bundesregierung [2][für den Genozid deutscher Truppen an den Nama und
       Herero] zu sprechen. An diesem sommerlichen Junitag sagt sie zu knapp 20
       Schüler:innen vor ihr: „Die deutschen Kolonialherren haben meine
       Vorfahren enteignet, gejagt, versklavt und getötet. Das ist auch eure
       Geschichte“.
       
       ## Wut und Fassungslosigkeit
       
       Was Sima Luipert über die deutschen Besatzer im heutigen Namibia erzählt,
       löst im Klassenzimmer Fassungslosigkeit und Wut aus. Die meisten hören zum
       ersten Mal von dem blutigen Kapitel der deutschen Geschichte, obwohl ein
       Großteil von ihnen schon die 12. Klasse besucht. „Wir haben in der Achten
       mal über Bismarck gesprochen“, erinnert sich eine Schülerin. „Da ging es
       aber nur darum, dass Deutschland auch Kolonien haben möchte.“ Eine
       Mitschülerin fragt: „Wie kann es sein, dass wir noch nie von diesen
       Verbrechen gehört haben? In dem Land, das weltweit für die systematische
       Vernichtung von Menschenleben bekannt ist?“
       
       Tatsächlich machen die Bundesländer wenige Vorgaben, ob und wie Schulen die
       deutsche Kolonialgeschichte behandeln sollen – auch in Berlin. Der
       Völkermord an den Nama und Herero ist jedenfalls kein verpflichtender
       Bestandteil des Unterrichts. Schüler:innen könnten problemlos zum Abitur
       kommen, ohne von [3][den Verbrechen der deutschen Kolonialzeit] gehört zu
       haben, sagt Hanna Urbahn, die an der Nelson-Mandela-Schule Geschichte
       unterrichtet. Leider gebe es in den Lehrplänen viele solcher weißen
       Flecken. Und im Fach Geschichte müsse man „immer reduzieren“ – auch um den
       Stoff für das Zentralabitur durchzubekommen. Den Impuls von außen begrüßt
       Urbahn deshalb sehr.
       
       ## Seminar auf Initiative der Schüler:innen
       
       Seit einem Jahr findet an der Nelson-Mandela-Schule ein Seminar zu
       [4][Schwarzer Geschichte] statt – auf Initiative der Schüler:innen. „Nach
       den Black-Lives-Matter-Protesten haben wir in der Diversity Task Force viel
       darüber gesprochen, dass die Perspektive derer, die kolonisiert wurden, in
       gesellschaftlichen Debatten viel zu häufig fehlt“, erzählt die
       Zwölftklässlerin Chloé. Um das zu ändern, müsse sich als Erstes die Schule
       ändern und ihren Kanon um dekoloniale Perspektiven erweitern. Wenn das
       nicht an der internationalen Nelson-Mandela-Schule gelinge, an der
       vergleichsweise viele People of Color sind und der Unterricht auf Englisch
       stattfindet – wo dann?
       
       Aus dem Anliegen der Diversity Task Force ist, mit der Unterstützung
       einiger Lehrer:innen, ein bundesweites Modellprojekt der Bundeszentrale für
       politische Bildung geworden: die Black History Class. Im vergangenen Jahr
       wurde zunächst gemeinsam über ein mögliches Curriculum beraten, Anfang
       dieses Schuljahres ging es los. Alle Schüler:innen ab der 11. Klasse
       durften bei den monatlichen Workshops teilnehmen. Einmal im Halbjahr gab es
       noch einen Studientag für die ganze Schule. Mittlerweile steht fest, dass
       das Seminar im nächsten Schuljahr weitergeführt wird.
       
       ## Workshop geht unter die Haut
       
       Das freut auch Chloé. „Ich finde es super, was wir in diesem Jahr alles
       gemacht haben“, sagt sie und zählt auf: Empowerment-Workshops für Schwarze
       Schüler:innen, Anti-Rassismus-Workshops für den Rest. Ein Spaziergang
       durchs Afrikanische Viertel, in dem bis heute viele Straßen nach
       Kolonialverbrechern benannt sind. Ein Seminar zu Schwarzer Popgeschichte
       inklusive Besuch einer Fachbibliothek. Das Seminar mit der Nama-Aktivistin
       Luipert bezeichnet Chloé, die auch in Urbahns Geschichts-Leistungskurs ist,
       als einmaliges Erlebnis. Wie vielen Mitschüler:innen geht auch Chloé
       der Workshop unter die Haut.
       
       „Als Schwarze Frau zu hören, dass sexuelle Gewalt gegen Schwarze Frauen als
       Kriegsmittel eingesetzt wurde, macht mich traurig und wütend.“ Das Programm
       der Black History Class hat die Diversity Task Force gemeinsam [5][mit dem
       Berliner Verein Each One Teach One] (EOTO) erstellt. Auch Projektleiterin
       Makda Isak hält die deutschen Lehrpläne bei der Behandlung der deutschen
       Kolonialgeschichte für stark lückenhaft. „Es ist erschreckend, wie wenig
       sich seit meiner eigenen Schulzeit getan hat“, sagt Isak. Sie beobachtet,
       dass dekoloniale Perspektiven immer noch die Ausnahme im Unterricht sind.
       
       ## „Schulsystem verändern“
       
       Ziel der Black History Class sei aber nicht allein, die Lücken im deutschen
       Lehrplan zu stopfen: „Unser Ansatz ist, dass wir das Schulsystem verändern
       wollen, indem wir junge Menschen empowern“, sagt Isak. An der
       Nelson-Mandela-Schule scheint das Konzept aufzugehen. „In diesem Jahr haben
       die älteren Schüler:innen bereits Workshops für die jüngeren gegeben“,
       berichtet Makda Isak. „Und auch für die Lehrkräfte“. Ähnliche Ziele
       formuliert auch Peggy Piesche, die das Projekt bei der Bundeszentrale für
       politische Bildung betreut.
       
       Piesche leitet am bpb-Standort Gera den Fachbereich Politische Bildung und
       plurale Demokratie. Ihre Schwerpunkte dabei sind Diversität,
       Intersektionalität und Dekolonialität. „Wir wollen, dass die
       Schüler:innen Selbstwirksamkeit erfahren und Akteur:innen von
       Veränderungsprozessen werden“, sagt Piesche. Für intersektionale
       Bildungsarbeit sei dieser Ansatz zentral. Und er entspreche auch der
       Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen heute. „In den Schulen ist die
       gesellschaftliche Vielfalt viel größer als noch vor zehn, zwanzig Jahren“,
       sagt Piesche, die als Schwarze Person in der DDR aufgewachsen ist. Diese
       Diversität müssten die Lehrpläne stärker widerspiegeln. Das Projekt Black
       History Class sei ein gutes Beispiel, wie sich die Schulen aber langsam für
       antikoloniale Perspektiven öffneten. Wie wichtig diese Öffnung für die
       gesamte Gesellschaft wäre, erkennt Piesche an vielen aktuellen Debatten,
       wie etwa dem zögerlichen [6][Umgang mit geraubten Kunstobjekten].
       
       ## Baerbock verweigerte ein Treffen
       
       „Es geht letztlich auch darum, wie wir uns als Gesellschaft an unsere
       Kolonialgeschichte erinnern wollen“, sagt Piesche. Das fordert auch Sima
       Luipert ein. „Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um irgendjemand um
       Hilfe zu bitten“, sagt sie. „Im Gegenteil: Ich bin hier, um euch dabei zu
       helfen, euch dieser Vergangenheit zu stellen.“ Aus Luiperts Sicht bedeutet
       das vor allem, die Bundesregierung in die Verantwortung zu nehmen. Von der
       neuen Außenministerin Annalena Baerbock ist Luipert enttäuscht. Vor der
       Bundestagswahl hätten die Grünen ihre Forderungen nach einem Dialog auf
       Augenhöhe noch unterstützt. Bisher habe Baerbock aber ein Treffen mit
       Luipert verweigert.
       
       Für Tag drei des Seminars ist eine Vertreterin des Auswärtigen Amtes
       eingeladen, die Leiterin des Referats Grundsatzfragen Subsahara-Afrika.
       Geplant ist eine Diskussionsrunde zu Reparationen und angemessenem
       Gedenken. Die Schüler:innen der Nelson-Mandela-Schule sollen die Fragen
       stellen.
       
       29 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Genozid-an-Herero-und-Nama/!5702260
 (DIR) [3] /Kolonialverbrechen-an-Herero-und-Nama/!5775474
 (DIR) [4] /Kaempferischer-Black-History-Month/!5828996
 (DIR) [5] /Black-Communities-Zentrum/!5859048
 (DIR) [6] /Hamburger-Ausstellung-von-Benin-Bronzen/!5820824
       
       ## AUTOREN
       
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