# taz.de -- Kolonialverbrechen in Namibia: Genozid, keine Kriege
       
       > Deutschland hat die Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen
       > Namibia als Völkermord anerkannt. An Schulen wird das kaum behandelt.
       
 (IMG) Bild: Mahnmal zur Erinnerung an die Verbrechen der Kolonialzeit in Windhoek, Namibia
       
       Mehr als 100 Jahre nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im
       heutigen Namibia [1][erkennt Deutschland die Gräueltaten an den
       Volksgruppen der Herero und Nama als Völkermord] an. Die offizielle
       Bestätigung erfolgte vor einem Jahr, als die damalige Bundesregierung eine
       Einigung mit der namibischen Seite über ein Aussöhnungsabkommen bekannt
       gab. Auch wenn das bislang nicht unterzeichnet wurde – die Anerkennung
       verändert den Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte.
       
       An deutschen Schulen ist dies jedoch so gut wie gar nicht angekommen, sagt
       Geschichtslehrerin Kristina Wolf. Und das liegt aus ihrer Sicht an den
       Freiheiten, mit denen die Lehrer*innen selbst Schwerpunkte beim Thema
       setzen können. Den Nationalsozialismus beispielsweise könne sie natürlich
       nicht ohne den Holocaust behandeln – den Kolonialismus jedoch auch ohne die
       Genozide an den Herero und Nama, so die 36-Jährige, die an einer
       Gemeinschaftsschule im Kreis Flensburg in Schleswig-Holstein unterrichtet:
       „Wir haben im Unterricht eigene Gestaltungsmöglichkeiten, wenn es darum
       geht, wie man [2][Kolonialismus im Geschichtsunterricht] vermittelt“. Viele
       wählten lieber die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus oder die Kolonien
       Europas in Lateinamerika. „Wir sind je nach Stoff sehr frei“, sagt sie.
       
       Dass die [3][Verbrechen des deutschen Kolonialismus] deshalb oft hinten
       runterfallen, bestätigt auch Kathrin Lemsky, auch sie unterrichtet
       Geschichte in Schleswig-Holstein an einer Gemeinschaftsschule. Auch die
       Fachkolleg*innen an der Schule spielen dabei eine Rolle, die gemeinsam
       Schwerpunkte für den Unterricht erarbeiten: „Wie die jeweiligen Pläne
       ausgestaltet werden, ist stark davon abhängig, wer in dieser Gruppe sitzt,
       wie die jeweiligen Lehrkräfte ausgebildet wurden, wie engagiert sie sind
       und welche Interessenschwerpunkte sie haben“, sagt Lemsky. Ihr fällt auf,
       dass jüngere Lehrer*innen deutlich öfter [4][deutsche
       Kolonialverbrechen] behandeln als ältere.
       
       Auch ihrer Kollegin Kristina Wolf fällt das auf – und sie hält es für
       falsch, dass solche Unterschiede überhaupt möglich sind. „Es sollte nicht
       eine Kann-Option, sondern ein Muss sein, dass Schüler*innen lernen, dass
       die Verbrechen der Nationalsozialisten in den deutschen Kolonialverbrechen
       sowohl eine Vorgeschichte haben als aber auch eine Nachgeschichte, also die
       Auswirkungen auf aktuelle Geschehnisse.“ Schüler*innen sollen
       nachvollziehen, dass der europäische Kolonialismus bis heute geopolitische
       Auswirkungen hat. So könnten sie auch aktuelle Diskurse über Rassismus,
       Migration und Faschismus besser nachvollziehen. Deshalb fordert Wolf, die
       Völkermorde verbindlich im Unterricht zu behandeln.
       
       Doch die Realität sieht anders aus. Ob und wie stark die deutschen
       Kolonialverbrechen Teil des Schulstoffs sind, hängt außerdem auch vom
       Bundesland ab. In Schleswig-Holstein etwa sind die Vorgaben so lose, dass
       Lehrer*innen sogar entscheiden können, wie viele Stunden sie für den
       deutschen Kolonialismus verwenden. In den meisten Bundesländern stehen
       ohnehin die europäische Expansion oder die Geschichte um Kolumbus oder den
       Sklavenhandel anderer Nationen im Mittelpunkt. Nur in einigen Ländern wie
       Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und
       Nordrhein-Westfalen nennen die Lehrpläne überhaupt einen Bezug zum
       deutschen Kolonialismus.
       
       In Sachsen soll die Rolle Otto von Bismarcks im europäischen Imperialismus
       behandelt werden, in Mecklenburg-Vorpommern die Auswirkungen der deutschen
       Kolonialherrschaft. Nur in Sachsen-Anhalt werden die Herero und Nama
       explizit genannt. Jedoch bezeichnet auch der Lehrplan dort den Genozid
       nicht als solchen, sondern fälschlicherweise als Widerstand. Aber das ist
       nicht überraschend, denn so lautete bis vor Kurzem auch noch das Narrativ
       in der deutschen Wissenschaft.
       
       Den schwerfälligen Diskurswechsel vom Widerstand zum Völkermord kann
       Susanne Grindel von der Philipps Universität in Marburg beschreiben. Die
       Historikerin forscht unter anderem zur Darstellung europäischer Geschichte
       in Schulbüchern in verschiedenen Ländern. Zu Deutschland sagt sie: „Die
       neueren Geschichtsschulbücher behandeln seit Kurzem Gewalt, Unterdrückung
       und Verbrechen als Teil kolonialer Machtausübung. Konkret werden auch die
       Genozide an den Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika dargestellt.“
       
       Allerdings sei das nur bei sehr aktuellen Schulbüchern der Fall, so Susanne
       Grindel. Erst seit 2015 spricht das Auswärtige Amt bei den
       Kolonialverbrechen Deutschlands im heutigen Namibia von Völkermord. Bis die
       neue Sprachregelung und der entsprechend angepasste Unterricht an den
       Schulen ankommt, werden wohl noch Jahre vergehen.
       
       Laut Grindel liegt das auch daran, dass die finanziellen Mittel der Schulen
       für neue Lehrbücher begrenzt seien und in einigen Bundesländern die Eltern
       die Kosten für Schul- und Übungsbücher selbst tragen müssten. „Darum sind
       häufig ältere Schulbücher im Einsatz“, so Grindel. „Neue Schulbuchsätze
       werden etwa alle zehn Jahre beschafft“.
       
       Die alten Schulbücher vermitteln jedoch weder den aktuellen Diskurs, noch
       legen sie die historischen Zusammenhänge einer veränderten Gesellschaft
       dar: „Ein europäischer Bezugsrahmen ist in den älteren Schulbüchern zu
       erkennen – jedoch betrachten sie den Kolonialismus, in Bezug auf
       Deutschland, noch als Teil der Außenpolitik des Kaiserreichs und der
       europäischen Gleichgewichtspolitik“, kritisiert Grindel.
       
       Die Folge: Die von den Schulministerien zugelassenen Unterrichtsmaterialien
       betiteln Genozide in der Regel nur als Kriege der damaligen Kolonialmächte
       und nicht als koloniale Verbrechen. Dazu kommt, dass die Schulen selbst
       nicht immer aufgeschlossen sind für neue gesellschaftliche Diskurse. So
       nimmt das jedenfalls Geschichtslehrerin Kathrin Lemsky aus
       Schleswig-Holstein wahr: „Schulen sind generell recht reformresistente
       Orte. Das sieht man schon daran, dass sich die Strukturen der alten
       Lehrpläne auch immer noch in den neuen Fachanforderungen wiederfinden
       lassen. Man hört sehr oft: Das haben wir schon immer so gemacht“.
       
       Hinzu kommt noch etwas anderes: An vielen schleswig-holsteinischen
       Gemeinschaftsschulen sei Geschichte gar kein eigenständiges Fach mehr,
       sondern ein Teil des Faches ‚Weltkunde‘“, so Lemsky. „Oft werden also
       historische Themen von fachfremden Lehrkräften vermittelt, die sich wenig
       oder gar nicht mit dem deutschen Imperialismus wissenschaftlich
       auseinandergesetzt haben“. Diese Lehrkräfte würden sich dann an den
       Rahmenlehrplänen orientieren. Und die machen wenig Vorgaben, wie der
       deutsche Kolonialismus unterrichtet werden soll.
       
       5 May 2022
       
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