# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Eine Schwäche für Menschenfleisch
       
       > Im Horrorfilm „Grave“ bekommt eine Vegetarierin Appetit auf ihre
       > Mitmenschen. Und in „Paterson“ macht Jim Jarmusch einen auf Star Wars.
       
 (IMG) Bild: Hinter der Maske ist Star-Wars-Fiesling Adam Driver für Jim Jarmusch ganz poetisch
       
       Wenn das Begehren heiß läuft, ist guter Rat teuer. Besonders, wenn man eine
       Schwäche für Menschenfleisch hat. Das muss die junge Heldin von Julia
       Ducournaus Film „Grave“ (Raw) lernen, sobald sie ihr Elternhaus verlässt,
       um (wie alle in ihrer Familie) Veterinärmedizin zu studieren. Justine
       (Garance Marillier) heißt dabei keinesfalls zufällig genauso wie die
       Titelheldin des SM-Klassikers „Justine“ des Marquis de Sade.
       
       Ähnlich wie bei de Sade werden in Julia Ducournaus erstem Spielfilm fürs
       Kino Körpergrenzen jenseits des Schmerzes überschritten. Und körperlich
       geht es allemal zu, wenn die als strenge Vegetarierin erzogene Justine bei
       einem Initiationsritual an der Uni zum ersten Mal rohes Fleisch kostet und
       kurz darauf ungeahnte Bedürfnisse in sich verspürt.
       
       Ducournau rückt ihren Figuren in diesem körperbetonten Film mit
       hochbeweglicher Kamera auf den Leib, kriecht zu Justine unter die
       Bettdecke, dieweil die anderen Justines Zähne zu spüren bekommen. Die Reihe
       „Semaine de la Critique“ hat damit einen französischen Horrorfilm im Geiste
       David Cronenbergs beigesteuert.
       
       Körper gelten darin als transformationsfähige Objekte; aber weniger des
       reinen Schocks wegen, selbst wenn die recht expliziten Akte von
       Kannibalismus an die eigenen Eingeweide gehen. Ducournau stellt vielmehr
       die Frage, was man mit sich anfängt, wenn man merkt, dass man einfach
       anders ist. Wie sagt doch der verständnisvolle Vater am Ende zu seiner
       Tochter: „Du wirst bestimmt eine Lösung für dich finden.“
       
       Gut, dass es draußen die Sonne, das Meer und weitgehend zivilisierte
       Menschen gibt, in deren Gesellschaft man die Wirkung dieser in mehrfacher
       Hinsicht eindringlichen Darbietung etwas verdauen kann. Kleine
       Überraschungen auf der Promenade der Croisette eingeschlossen: So konnte
       man unter den Passanten eine rätselhafte Gestalt bewundern, die sich von
       nahe als ein Kostüm aus Maren Ades Film „Toni Erdmann“ herausstellte.
       
       ## Mein Leben als Zucchini
       
       Weiter zur „Quinzaine des Réalisateurs“, zum französischen Animationsfilm
       „Ma vie de courgette“ (Mein Leben als Zucchini) von Claude Barras. Die
       Geschichte um das Heimkind Icare, von allen Courgette genannt, spart nicht
       an menschlichen Härten. Sämtliche Kinder, mit denen Courgette nach dem Tod
       seiner alkoholischen Mutter zusammenlebt, haben unterschiedliche
       Grausamkeiten erdulden müssen. Ihre Kullerköpfe mit den glasigen,
       tiefgeränderten Augen erzählen deutlicher davon als ihre berichteten
       Schicksale.
       
       Barras macht den Stoff mit seinen liebevoll reduzierten Puppen und Kulissen
       nicht nur erträglich, sondern findet Bilder, die in ihrer rauen und
       zugleich zarten Kindlichkeit perfekt zum schlagfertigen Witz passen, mit
       dem seine Figuren auf ihre Lage reagieren. Das Schwere wird hier leicht,
       ohne verkitscht zu werden – Tränen kann dieser wunderbar poetische Film
       gleichwohl hervorrufen.
       
       Im Wettbewerb hat der in Cannes stets gern gesehene Jim Jarmusch mit
       „Paterson“ eine Liebeserklärung an die nordamerikanische Poesie im
       Allgemeinen und seinen Helden Ron Padgett, einen Dichter der New York
       School of Poetry im Besonderen gegeben. Paterson, das ist zunächst eine
       Stadt in New Jersey. „Paterson“ heißt jedoch auch ein Gedichtzyklus des
       amerikanischen Autors William Carlos Williams, mit dem er den Ort in einen
       literarischen Topos verwandelt hat.
       
       ## Driver gibt den driver
       
       Paterson ist drittens der Name der Titelfigur: ein Busfahrer, verkörpert
       von Adam Driver. Man kann nur mutmaßen, ob es Ausdruck von Jarmuschs Humor
       ist, dass er Driver einen „bus driver“ spielen lässt. Die Rolle des nach
       strengen Routinen lebenden und nebenbei Gedichte schreibenden Paterson
       steht dem auf der ganz großen Leinwand als „Star Wars“-Schurke Kylo Ren
       präsenten Jungstar übrigens hervorragend.
       
       In seiner Mischung aus stoischer Unerschütterlichkeit und entrücktem
       Staunen trägt er den von der Handlung her minimalistischen, in seiner
       Verweisfülle hingegen schwer bepackten Film mit verlässlicher Würde. Der
       Humor, bei Jarmusch stets lakonisch angelegt, ist diesmal noch leiser als
       bei anderen Filmen, gelegentliche Albernheiten nicht eingerechnet. Ähnlich
       wie in „Only Lovers Left Alive“, mit dem der Regisseur 2013 in Cannes
       nominiert war, dient die Handlung ansonsten über weite Strecken als Vehikel
       für Jarmuschs persönlichen Kulturkosmos.
       
       Im Zentrum stehen die Dichtungen Ron Padgetts – im Film inszeniert als die
       Gedichte Patersons –, um die herum Jarmusch Personen einflicht, die mit der
       Stadt Paterson verbunden sind, vom Beat-Dichter Allen Ginsberg und dem
       Komiker Lou Costello bis zum italienischen Anarchisten Gaetano Bresci, der
       nach Paterson emigrierte und später in Italien ein Attentat auf König
       Umberto I. verübte. Jarmusch hat aus diesen Zutaten einen so poetischen wie
       komischen Film zubereitet, mit selbstgemachter Filmmusik.
       
       16 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Jim Jarmusch
 (DIR) Poesie
 (DIR) Cannes Cannes
 (DIR) Spielfilm
 (DIR) Spielfilm
 (DIR) Film
 (DIR) Index
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Cannes
 (DIR) Filmfestspiele
 (DIR) Filmfestspiele
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Film
 (DIR) Cannes Cannes
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Horror-Romanze „Bones and All“ im Kino: Ein unstillbares Verlangen
       
       „Bones and All“ ist ein blutiges Roadmovie über junge Kannibalen. Trotz
       verstörender Szenen ist es auch ein Film über eine alles verzehrende Liebe.
       
 (DIR) Regisseurin Ducournau über Film „Titane“: „Der wandelnde Todestrieb“
       
       Die Regisseurin Julia Ducournau gewann mit ihrem Film „Titane“ die Goldene
       Palme in Cannes. Sie spricht über weibliche Filmteams und Emanzipation.
       
 (DIR) Neuer Film von Jim Jarmusch: Poesie zwischen Bustüren
       
       Im Film „Paterson“ spielt „Star Wars“-Star Adam Driver einen lyrisch
       veranlagten Busfahrer – und macht dabei eine verdammt gute Figur.
       
 (DIR) Horrorfilm von 1981 auf dem Index: Legendenstatus „Gewaltexzess“
       
       Warum verbietet der Staat mündigen Bürgern das Streamen fiktionaler Filme?
       Gedanken anlässlich des Gerichtsbeschlusses zu „Tanz der Teufel“.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Wir haben die Sixties ausgelöscht
       
       Fast zum Schluss gibt es die nicht ganz so guten Beiträge. Der dänische
       Regisseur Nicolas Winding Refn musste sich sogar kräftige Buhrufe anhören.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Allegorie auf das Gefängnis Familie
       
       Familien- und Geistergeschichten sowie Sozialdramen dominieren den
       Wettbewerb. Für Letztere sind wie immer die Brüder Dardenne zuständig.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Spuk und Schabernack
       
       Beschäftigt man sich nicht mit der Vergangenheit des Kinos, sieht dessen
       Zukunft auch in Cannes nicht besonders rosig aus.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Rumpeln im Dunkeln
       
       Grusel, der sich konstant steigert: Kristen Stewart sieht in Assayas
       „Personal Shopper“ Gespenster. Und Almodóvar recycelt Motive aus seinen
       Filmen.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Eine deutsche Komödie
       
       „Toni Erdmann“ erregt Aufsehen. Völlig zu Recht. So schön gelacht wird
       selten in Kinos, noch dazu bei einem deutschen Film.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Schlafzimmer, Hämmer, Kannibalen
       
       Die Filmauswahl in Cannes ist groß genug, damit man auch mal was verpassen
       kann. Auf der Couch mit „Victoria“ und Ken Loach.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Geld ist ein Monster
       
       Jodie Fosters Post-Finanzkrisen-Thriller baut auf einer hübschen Prämisse
       auf. Am Buffet stürzen sich die Gäste dichtgedrängt auf die besten Nudeln.