# taz.de -- Regisseurin Ducournau über Film „Titane“: „Der wandelnde Todestrieb“
       
       > Die Regisseurin Julia Ducournau gewann mit ihrem Film „Titane“ die
       > Goldene Palme in Cannes. Sie spricht über weibliche Filmteams und
       > Emanzipation.
       
 (IMG) Bild: Intimer Umgang mit Kraftfahrzeugen: Alexia (Agathe Rousselle) bei der Arbeit in „Titane“
       
       Nach einem schweren Autounfall in der Kindheit wird Alexia von ihrem Vater,
       einem Arzt, eine Titanplatte in den Kopf implantiert. Später, als junge
       Frau (Agathe Rousselle) fühlt sie sich von Fahrzeugen angezogen, auch
       sexuell, und lebt ihren Fetisch als Tänzerin bei Autoshows aus. Nach dem
       Sex mit ihrer Lieblingskarre wird sie schwanger, aus ihren Brüsten kommt
       Motoröl. Wenn ihr Menschen zu nahe kommen, wird sie zur Killermaschine. Auf
       der Flucht begegnet sie einem Feuerwehrkommandanten (Vincent Lindon), der
       sie als seinen vor Jahren verschwundenen Sohn annimmt. „Titane“ ist eine
       queere Phantasmagorie und radikales, aufregendes Körperkino, das lustvoll
       Genre- und Genderkonventionen negiert. [1][Die Französin Julia Ducournau
       erhielt dafür im Juli in Cannes die Goldene Palme], als erst zweite
       Regisseurin nach Jane Campion („Das Piano“) vor 18 Jahren. 
       
       taz: Frau Ducournau, was stand am Anfang von „Titane“: Alexia als
       Hauptfigur oder die Idee, einen feministischen, genre- und genderfluiden
       Horrorfilm zu machen? 
       
       Julia Ducournau: Wenn Sie jetzt einen Eureka!-Moment erwarten, an dem ich
       wie in einem Geistesblitz die Idee für „Titane“ hatte, muss ich Sie
       enttäuschen. Für mich ist der Feminismus in meinem Film weder Programm noch
       bewusste Absicht. Er ist einfach da, weil es mein Blick auf die Welt ist
       und meine Ausdrucksweise. Natürlich entlarve ich mit Alexia
       Genderklischees, sie findet im Laufe des Films zur Essenz ihrer selbst und
       lässt dabei sehr viele gesellschaftliche Zuschreibungen hinter sich, die
       mit Familie und Weiblichkeit verbunden sind. Doch das ist nur eine Ebene,
       die mich interessiert hat.
       
       Gab es trotzdem so etwas wie einen ersten Impuls? 
       
       Ich hatte einen wiederkehrenden Alptraum, in dem ich Einzelteile eines
       Automotors gebäre. Ich wachte jedes Mal schweißgebadet und tief verstört
       auf. Etwas in diesem Kontrast zwischen dem Akt puren Lebens und dem toten,
       kalten Material ließ mich nicht mehr los. Ich wusste nicht, wie ich damit
       umgehen sollte, bis ich beschloss, es als Bild zu nehmen und mit einer
       Vorstellung von unbedingter Liebe zu verbinden.
       
       Warum Liebe? 
       
       Nach [2][meinem ersten Spielfilm, „Raw“], wurde mir klar, wie schwer es mir
       fällt, über Liebe zu schreiben, obwohl sie ein so elementarer Teil unseres
       Lebens ist. Mich interessiert, was Liebe sein könnte. Das Ideal
       unbedingter, absoluter Liebe. Aber ich konnte es nicht in Worte fassen,
       fand keine Sprache dafür. Das forderte mich derart heraus, dass ich
       beschloss, es zu einem zentralen Thema meines nächsten Films zu machen.
       Doch auch in „Titane“ bedeutet diese Auseinandersetzung ein weitgehendes
       Fehlen von Sprache, denn Worte würden es nur einschränken und herabsetzen.
       Ich will das Publikum spüren lassen, was die Charaktere empfinden, durch
       Worte würde dem nur die Wucht genommen.
       
       Dabei haben Sie, wie Ihre Kollegin Céline Sciamma, an der Filmhochschule La
       Fémis in Paris Drehbuch studiert. Sie kommen also vom Schreiben. 
       
       Für mich bedeutet Schreiben nicht primär Wörter, ich denke in Bildern. Wenn
       ich eine Szene entwickle, spielt sie sich in meinem Kopf ab, ich sehe und
       höre alles sehr genau. Wenn ich sie nicht vor mir sehe, schreibe ich sie
       nicht auf. Und wenn ich am Ende eine Szene habe, die vollkommen ist, warum
       sollte ich dann noch einen Dialog draufkleben? Eine Tanzszene etwa drückt
       für mich nonverbal viel mehr aus, damit kann man emotional tiefer gehen als
       durch das gesprochene Wort. Manchmal lässt es sich freilich nicht
       vermeiden. Mir war bewusst, dass ich an einer Stelle des Films den Satz
       „Ich liebe dich“ verwenden muss. Aber meine Güte, hat mich das Überwindung
       gekostet!
       
       Seit der Weltpremiere in Cannes wird viel über eine Szene im Film
       debattiert, in der Alexia Sex mit einem Auto hat. Manche Kritiker werfen
       Ihnen Schock und Provokation als Selbstzweck vor. 
       
       Das verkennt doch, worum es eigentlich geht. Die Hauptfigur ist eine
       Psychopathin, von der Menschheit angewidert, hat keinerlei Empathie für
       andere. Alexia ist der wandelnde Todestrieb. Das hat viel mit ihrem Trauma
       zu tun, sie ist ein chaotischer Charakter und, zumindest zu Beginn, keine
       sympathische Figur. Wenn sie sich dann in einem Geschlechtsakt mit einem
       Auto vereint, sagt das vor allem etwas über ihre Abscheu gegenüber
       menschlichem Kontakt aus. Sie empfindet nichts, sie ist innerlich selbst so
       kalt wie die Titanplatte in ihrem Schädel.
       
       Das Auto wird zum abgründigen Fetisch. Interessanterweise beginnen Ihre
       beiden Filme mit einem Verkehrsunfall … 
       
       Dabei bin ich selbst alles andere als Autofan. Ich besitze noch nicht mal
       einen Führerschein. Der Unfall in „Titane“ ist das Urtrauma meiner
       Hauptfigur, das sie nicht verarbeiten kann. Aber es ist auch eine
       Geschichte der Selbstermächtigung. In der Carshow zu Beginn des Films
       inszeniere ich zunächst einen „männlichen“ Blick, durch den die
       ausgestellten Wagen und die Mädchen, die dort als Hostessen arbeiten und
       tanzen, auf die gleiche Art als aufreizende Objekte gesehen werden. Doch
       wenn wir in dieser Sequenz schließlich bei Alexia landen, ändert sich der
       Blick. Während sie mit „ihrem“ Auto tanzt, wird sie vom angeglotzten Objekt
       zum handelnden Subjekt, schaut direkt in die Kamera und kontrolliert ihr
       eigenes Narrativ.
       
       Diese Alexia wird gespielt von Agathe Rousselle, die zum ersten Mal vor der
       Kamera steht und anscheinend furchtlos fast jede Szene trägt. Wie haben Sie
       eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, die das ermöglicht? 
       
       Mir war wichtig, dass sie sich jederzeit sicher und geschützt fühlt. Ich
       verlange von beiden Hauptdarstellern physisch sehr viel, von Agathe und von
       Vincent Lindon, in etlichen Szenen sind sie nackt. Das geht nur mit großem
       Vertrauen. Ich erkläre genau, was wir drehen und welcher Teil ihres Körpers
       zu sehen sein wird. Bei Sex- und Nacktszenen reduziere ich die Crew am Set
       auf ein absolutes Minimum. Ein Großteil meines Filmteams sind Frauen, das
       macht die Sache sehr viel leichter.
       
       In Ihrem Regiedebüt „Raw“ ist die Transformation der Hauptfigur, die zur
       Kannibalin wird, noch im Rahmen einer möglichen Realität. „Titane“ tendiert
       stärker zum Fantastischen, der Film trägt das Mythische schon im Titel. 
       
       Ich will die Grenzen dessen erweitern, was wir als plausibel und
       glaubwürdig akzeptieren. Aber ich bin keine Genreregisseurin. „Titane“ ist
       kein Horrorfilm. Ich nutze Elemente dieser Filmsprache, von Horror ebenso
       wie Komödie und anderen Genres, und setze sie neu zusammen. Ich
       unterwandere diese Codes und breche sie auf, um sie mir für meine Zwecke
       anzueignen. Ich möchte mich nicht festlegen und auch nicht von anderen
       labeln lassen, das widerspricht meinen Überzeugungen.
       
       Sie haben damit die Goldene Palme in Cannes gewonnen, im September wurde
       ihre [3][französische Kollegin Audrey Diwan für das Abtreibungsdrama „Das
       Ereignis“ mit dem Hauptpreis in Venedig] ausgezeichnet. Sind diese
       Würdigungen von Filmemacherinnen Zeichen eines wirklichen Wandels? 
       
       Wenn es nur ein Trend sein sollte, nehme ich ein Raumschiff und verlasse
       diesen Planeten! Im Ernst: Dieses Jahr war bahnbrechend für uns alle, nicht
       nur für Frauen. Aber das heißt nicht, dass wir schon am Ziel sind. In
       Sachen Gleichberechtigung gibt es noch sehr, sehr viel zu tun, auf allen
       Ebenen. Allein was den öffentlichen Raum angeht und wie sich Frauen darin
       angstfrei bewegen können. „Titane“ ist auch aus einer Wut darauf
       entstanden, meiner Wut, dass ich, wie jede Frau, als potenzielles Opfer
       gesehen werde. Es ist eine historische Entwicklung, und ich bin froh, dass
       ich Teil davon bin. Wir werden nicht zulassen, dass es nur ein Trend ist.
       
       7 Oct 2021
       
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