# taz.de -- Kultur und Kriege: Schräge Solidarisierungen
       
       > Die liberalen Demokratien sind unter Druck. Der hybriden Kriegsführung
       > totalitärer Mächte sollte man gerade im Kulturbereich entschlossen
       > begegnen.
       
 (IMG) Bild: Zwischen Kunstfreiheit und politischer Debatte: der alte, linke Antisemitismus
       
       Es ist kein angenehmes Tableau, welches sich im Jahre 2024 vor uns
       aufgebaut hat. Davor die Augen zu verschließen, hilft indes wenig. Wir alle
       hatten uns nach 1989 mit dem Ende der Sowjetunion eine andere, friedlichere
       Entwicklung gewünscht. Es kam anders. Heute herrscht Krieg in der
       [1][Ukraine] und im Nahen Osten. Das autokratisch-imperiale Russland
       versucht, die ukrainische Demokratie zu vernichten, die
       islamo-faschistische Hamas das demokratische Israel.
       
       Doch viele in den westlichen Demokratien haben die sich zuspitzende
       Bedrohungslage, deren Akteure und Hintergründe noch kaum erkannt. Das
       spiegelt sich besonders auch in hitzig geführten Kunst- und Kulturdebatten
       wider. Dabei befinden wir uns in der Bundesrepublik gegenwärtig in einer
       seltsamen Spirale von Boykott und Gegenboykott. Künstler:innen werden
       ausgeladen, da sie sich von dem genozidalen Terror der Hamas nicht
       distanzieren.
       
       Einzelne ziehen wie in Frankfurt am Main ihre Ausstellungsbeteiligung
       zurück. [2][Eine Schriftstellerin] sagt, sie wolle nicht mehr in einem
       Verlag wie S. Fischer publizieren, der sich einer dezidiert
       antifaschistischen Haltung verpflichtet fühlt. Und in dem Aufruf „Strike
       Germany“ kündigen eher unbekannte „Kulturarbeiter“ an, die Bundesrepublik
       wegen deren pro-israelischer Haltung zu boykottieren. Es gibt Schlimmeres,
       [3][möchte man documenta15-gestählt erwidern].
       
       Der Deutsche [4][Bundestag hatte 2019 die BDS-Kampagne], die zu Boykott und
       Delegitimierung Israels aufruft, als antisemitisch eingestuft.
       Kulturschaffende, die BDS unterstützen, dürfen seither nicht mehr mit
       öffentlichen Mitteln gefördert werden. Dagegen protestierten immer wieder
       Kulturschaffende. Seit Beginn des [5][Gazakriegs] vehement. Sie sehen
       Kunst- und Meinungsfreiheit in Gefahr, sollten sie wegen Boykottaufrufen
       gegen Israels Demokratie in Deutschland nicht mehr gefördert werden.
       
       ## Verdrehung der Geschichte
       
       Wer sie kritisiert oder auslädt, muss mit Shitstorms und juristischen
       Klagen rechnen. Wo wir inzwischen stehen, zeigte sich [6][2022 beim
       Antisemitismuseklat auf der documenta15 in Kassel.] Inzwischen geht es noch
       einen Schritt weiter. Nach dem genozidalen Überfall der Hamas auf Israel am
       7. Oktober 2023 skandierten sich postkolonial Verstehende in Berlin die
       Parole „Free Palestine from German guilt“. Eine makabre Verdrehung der
       Geschichte.
       
       Die Ideologen der BDS-Kampagne haben in den letzten zwei Jahrzehnten ganze
       Arbeit geleistet. Über Kultur- und Universitätsszene haben sie einen
       angeblich postkolonialen Diskurs gesetzt, der die antirassistischen Kämpfe
       in den westlichen Einwanderungsgesellschaften mit den
       Nationalitätenkonflikten im Nahen Osten kurzschließt. Die historische
       Unwissenheit bringt fatale Fehlinterpretationen mit sich.
       
       Denn an Israel prallen heute vor allem zwei verschiedene politische
       Vorstellungen außenpolitisch aufeinander, weniger innenpolitisch. Von außen
       wollen BDS, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Islamischer
       Dschihad oder Hamas das multiethnische Israel spalten und zerstören.
       Mittels rassifizierter Kulturkämpfe versuchen sie, die arabische Minderheit
       in Israel aufzuhetzen. Diese soll sich dem separatistischen
       völkisch-religiösen Aufstands-Dispositiv anschließen.
       
       Doch die Mehrheit der Minderheit in Israel macht da bislang nicht mit.
       Anders als im Westjordanland und im Gazastreifen. Bei dieser
       Auseinandersetzung im Nahen Osten geht es weniger um klassische
       Bürgerrechtskämpfe als um die Verteidigung einer offenen Gesellschaftsidee
       (Israel mit Muslimen) gegen eine ausschließend gedachte (Palästina ohne
       Juden).
       
       ## Hetze gegen Juden, Scholz und Habeck
       
       Eine friedliche Lösung kann es aber nur geben, so die Israel umgebenden
       panarabisch, panislamisch oder völkisch-palästinensischen Kräfte eine
       Ordnung akzeptieren, die auch anderen als ihnen die vollen Bürger- und
       Menschenrechte garantiert. Darauf deutet derzeit wenig. So lehnte Mustafa
       Barghouti, ein „gemäßigter“ palästinensischer Anführer, [7][unlängst im
       taz-Interview] eine Distanzierung von der Hamas ab. Er würde sogar in einer
       Koalition mit den Islamisten regieren.
       
       Wie soll so eine friedliche Situation [8][in oder neben der israelischen
       Demokratie] je zustande kommen? Es waren die Angriffskriege der
       panarabischen und panislamischen Bewegungen und Staaten gegen Israel, deren
       Niederlagen den Ausgangspunkt für die Lage jener sich bis heute
       unversöhnlich darstellenden Bevölkerungsgruppen in Gaza, Westbank, Libanon
       und anderswo bilden.
       
       Die an der Schwächung des demokratischen Lagers Interessierten überfluten
       derzeit weltweit die sozialen Medien mit Hetzbotschaften gegen Israel,
       gegen Juden, gegen Nato, USA und auch gegen Olaf Scholz, Robert Habeck und
       die Bundesrepublik. Man sollte sich davon nicht beeindrucken lassen.
       Russlands Führer Wladimir Putin erzählt fortwährend, der Überfall auf die
       Ukraine diene der Befreiung vom Faschismus. Kaum anders die Propaganda
       derer, die dem Antiterrorkrieg Israels in Gaza nun Völkermord unterstellen.
       
       So hätten sie es gerne. Während die Hamas genozidal angriff, soll die
       Verteidigung israelischen Lebens geächtet sein. Gerade die Linke in
       Deutschland sollte gewarnt sein. Schon einmal hatte sie furchtbar geirrt,
       als viele im palästinensischen Kontext den völkisch-religiösen
       Nationalismus als einen der Befreiung verkannten. Die westdeutsche Rote
       Armee Fraktion (RAF) verteidigte 1972 den Anschlag des palästinensischen
       „Schwarzen September“ auf die [9][Olympischen Spiele in München].
       
       ## Alter, linker Antisemitismus
       
       Damals erschossen palästinensische Terroristen zwei israelische Sportler
       und nahmen neun Geiseln. Beim Befreiungsversuch der Polizei am Flughafen in
       Fürstenfeldbruck starben alle israelischen Geiseln und fünf der acht
       Attentäter. Die RAF bezeichnete den Angriff auf die israelischen Sportler
       als „antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“.
       
       Die gescheiterte Befreiungsaktion der Polizei beurteilte sie so: „Sie haben
       (…) ausschließlich darüber nachgedacht, wie sie die Revolutionäre am besten
       – mit Gas oder Sturmtruppen oder Präzisionsschützen oder wie nun –
       massakern könnten. (…) Sie hatten nur ein Ziel, nur ja dem
       Moshe-Dayan-Faschismus – diesen Himmler Israels – in nichts nachzustehen.“
       Moshe Dayan, von der RAF auch als „Schwein“ bezeichnet, hatte gegen die
       Nazis gekämpft und war 1972 israelischer Verteidigungsminister.
       
       Heinrich Himmler, dem der Jude Dayan angeblich gleichen sollte, war
       Reichsführer SS, nach Adolf Hitler einer der mächtigsten Führer im Dritten
       Reich und kalter Antisemit. Das RAF-Papier von 1972 ist kein isoliertes
       Dokument. Die Kämpfer:innen der in den 70er Jahren gegründeten
       westdeutschen Guerillagruppen RAF, Revolutionäre Zellen (RZ) und Bewegung
       2. Juni durchliefen allesamt Ausbildungslager des
       völkisch-palästinensischen Extremismus in Jordanien und Libanon.
       
       1976 entführte ein gemeinsames Kommando von PFLP und RZ eine
       Air-France-Maschine nach Entebbe in Uganda. Sie selektierten israelische
       aber auch nur jüdische Passagiere von den anderen. Die Aktion war ein
       Desaster. Danach spalteten sich [10][die RZ, einige wenige schlossen sich
       der berüchtigten Carlos-Gruppe] an, die Hauptströmung nahm Abstand vom
       internationalen Terrorismus und orientierte sich neu.
       
       ## Falsche Parteinahme
       
       Der „Globale Süden“ als herrschaftsfreie Opferbewegung war damals wie heute
       eine Chimäre. Die unhistorischen Rhetoriken verstellen den Blick auf
       außereuropäische Herrschafts- und Gewalttraditionen. In der Geschichte der
       radikalen Linken führte dies zu falschen Parteinahmen. Und zu der
       gefährlichen Annahme, die Einhaltung der Menschenrechte sei nur ein Gebot
       für den Gegner, nicht für sich selbst.
       
       Heute bezichtigen postkoloniale, sich propalästinensisch verstehende
       Aktivist:innen Israel in Gaza einer genozidalen Kriegsführung. Die
       Täter-Opfer-Umkehr erinnert fatal an die Verdrehungen der 1970er Jahre.
       
       Es war die Hamas, die am 7. Oktober 2023 mit dem [11][genozidalen Überfall
       auf Israel] diesen Krieg auslöste. Die Mörder filmten sich dabei,
       telefonierten mit ihren Verwandten und erklärten bald alles für Lüge.
       Hybride Kriegsführung und digitale Manipulation gehören zum Standard
       totalitärer Kräfte. Liberale Demokratien sind für Desinformation besonders
       anfällig, auch gegen verdeckte Einflussnahmen auf Medien, Parteien, Wahlen
       und Kulturkämpfe.
       
       Der Iran befindet sich seit 1979 in einem Überbietungswettbewerb um die
       Führerschaft im Islamismus. Er ist der wesentliche Drahtzieher von
       Terrororganisationen wie Hamas oder libanesischer Hisbollah. Im eigenen
       Land verhasst, zündeln die Mullahs im Ausland, wie sie können. Vielleicht
       finden sich auch im Westen ein paar Aktivist:innen, die glauben, es
       ginge um die koloniale Frage.
       
       ## Den Mullahs und der Hamas egal
       
       Den Mullahs aus Iran sind die Menschen im Gazastreifen so egal wie den
       Fanatikern von der Hamas. Angriff und Geiselnahme hatten den Zweck, die
       israelische Armee in eine Entscheidungsschlacht nach Gaza zu locken. In der
       Hoffnung, überall würden sich die Islamisten gegen Israel und demokratisch
       orientierte Politik erheben. Für die humanitäre Katastrophe im
       Gazastreifen ist die Hamas verantwortlich. Und die vielen, die halfen,
       eine zivile Infrastruktur in eine militärische zu verwandeln.
       
       Die, die zusahen, wie [12][Hilfsgelder der UNRWA] veruntreut wurden. Und
       auch die Ärzte, die es hinnahmen, dass ihre Patient:innen als
       menschliche Schutzschilder missbraucht wurden. Eine sichtbare Abgrenzung
       zum Islamo-Faschismus, zu dessen Taten und Narrativen sollte möglich sein,
       ohne in Kunst und Politik zu behaupten, man werde in der Bundesrepublik
       rassistisch ausgegrenzt oder fühle sich künstlerisch von Zensur bedroht.
       Hinter Antifaschismus und Menschenrechte gibt es kein Zurück.
       
       4 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [2] https://www1.wdr.de/kultur/kulturnachrichten/schriftstellerin-lana-bastasic-kuendigt-vertrag-mit-s-fischer-verlag-100.html
 (DIR) [3] /Antisemitismus-auf-der-documenta-fifteen/!5860742
 (DIR) [4] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892
 (DIR) [5] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
 (DIR) [6] /documenta-fifteen--eine-Bilanz/!5883282
 (DIR) [7] /Mustafa-Barghouti-ueber-den-Gazakrieg/!5986884
 (DIR) [8] /Zweiter-Weltkrieg-im-juedischen-Palaestina/!5758613
 (DIR) [9] /Attentat-auf-israelische-Sportler/!5927200
 (DIR) [10] /Augenzeugenbericht-eines-Ex-Guerilleros/!5726548
 (DIR) [11] /Nach-dem-Massaker-im-Kibbuz-Kfar-Aza/!5968099
 (DIR) [12] /Humanitaere-Hilfe-fuer-Gaza/!5988409
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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