# taz.de -- Amir Gudarzi über Sprache und Gewalt: Wenn Menschen Götter sein wollen
       
       > Der Autor Amir Gudarzi verbindet mesopotamische Mythen mit europäischen
       > Realitäten. Ein Gespräch über neue Dramatik, Religion, Nazis und
       > Demokratie.
       
 (IMG) Bild: Autor Amir Gudarzi beim taz-Gespräch im Juni 2024 in Berlin
       
       wochentaz: Herr Gudarzi. Mit der Inszenierung Ihres Stückes „Als die Götter
       Menschen waren“ gastierten Sie gerade bei den Autorentagen am Deutschen
       Theater in Berlin. Wann waren die Götter Menschen? 
       
       Amir Gudarzi: Eine gute Frage. Ich habe diese Zeit nicht erlebt. Ich greife
       einen alten mesopotamischen Mythos auf, in welchem die Götter zunächst noch
       arbeiten mussten und sich deswegen die Menschen erschufen. Diese ließen sie
       dann für sich arbeiten. Es ist ein bisschen ein Spiel damit.
       
       Also in dem Spiel waren die Götter zunächst Menschen. Wann wurden sie aber
       zu Göttern? 
       
       Ab dem Moment, wo sie nicht mehr arbeiten mussten. Und dann sehr viel Macht
       über andere bekamen. Sie konnten die Zeit der anderen in Anspruch nehmen
       und schließlich auch über Leben und Tod entscheiden. In dem Stück gibt es
       verschiedene Ebenen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die heutigen Götter
       erscheinen mir auch ein wenig mächtiger als die früheren.
       
       Was bewog Sie dazu, jahrtausendealte Schöpfungsmythen mit aktuellen
       Zeitphänomenen der Menschheit zu verbinden? 
       
       Ich habe mich schon lange mit diesen Ursprungsbehauptungen beschäftigt.
       Woher kommt was? Das Gilgamesch-Epos ist etwa 2.000 Jahre älter als das
       Alte oder Neue Testament. Viel älter als der Koran. Und noch älter als
       Gilgamesch ist das Atraḫasis-Epos.
       
       Das Atraḫ asis-Epos ist eine Überlieferung aus der vorantiken Zeit
       Mesopotamiens? 
       
       Genau. Mich hat interessiert, was vor den antiken und religiösen Mythen
       schon an Erzählungen vorhanden war. Das Gilgamesch-Epos hat sich in manchem
       an das Atraḫasis-Epos angelehnt, das Alte Testament wiederum an die beiden.
       Es gab in dieser Weltregion im Nahen Osten viel mehr Austausch mit Europa,
       als man lange annahm. Nationale Grenzen existierten nicht, die
       Menschheitsgeschichte wurde stark als ein Ganzes wahrgenommen.
       
       Könnte man „Als die Götter Menschen waren“ als eine Art religiöse
       Klassiker-Überschreibung betrachten? 
       
       Eher nicht. Ich habe das Epos aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt,
       lasse es dann selbst zu Wort kommen und montiere die Originalzitate mit von
       mir verfassten Passagen zusammen.
       
       Wie stark waren Sie in die Inszenierung des Stücks auf der Bühne
       eingebunden? 
       
       Nur anfangs für die Konzeptionsprobe, danach nicht mehr.
       
       Ist es nicht schmerzhaft, Idee und Text zu liefern und sich dann als Autor
       wieder zurückziehen zu müssen? 
       
       Man muss sich zurücknehmen. Ich war aber in Austausch mit der Dramaturgin
       Franziska Betz. Die Inszenierung ist das Werk der Regie von FX Mayr.
       
       Die Inszenierung arbeitet mit popkulturellen Elementen, revueartig und
       unter Einsatz verschiedener Medien. War der Einspieler mit Elon Musk Ihre
       Idee? Wurde für das Videos mit KI, künstlicher Intelligenz, gearbeitet? 
       
       Er spricht da anhand KI einen Mix aus meinem Theatertext und Passagen aus
       dem Alten Testament. Da hat natürlich das ganze Theater gelacht bei dieser
       Szene. Aber in der Umsetzung ist mir das fast ein wenig zu personifiziert,
       es geht ja um eine allgemeine Tendenz und weniger um ihn als Einzelperson.
       Der omnipotente Mensch, der aus dem All zurück auf die Sintflut und
       Vergangenheit der Erde schaut.
       
       Die Kostüme der Darsteller:innen haben mich an österreichische
       Krampus-Figuren erinnert, alpenländischen Dämonen aus vorchristlicher Zeit. 
       
       Ich hatte auch diese Assoziation mit dem Krampus, ihr Rascheln produziert
       auf alle Fälle auch einen interessanten Sound.
       
       Sie sind 2009 im Alter von 24 Jahren aus dem Iran geflüchtet. Davor haben
       Sie in Teheran die einzige Theaterschule des Landes besucht. Wie steht es
       um die iranische Theaterkunst heute? 
       
       Wenn es nach dem Regime gegangen wäre, hätte es nach der Revolution von
       1979 eigentlich gar keine Kunst mehr geben dürfen. In Teheran gab es jedoch
       weiterhin ein großes Stadttheater und mehrere Bühnen. In vielen iranischen
       Großstädten wurde nach 1979 weiter Theater gespielt.
       
       An welchen Theatersprachen haben Sie sich zunächst in Ihrer Jugend
       orientiert? 
       
       Natürlich an westlichen Bühnensprachen. Über das Fajr-Festival kamen früher
       sehr gute internationale Gastspiele ins Land. Heute ist das Theater in
       Iran so gut wie tot. Es gibt fast nur noch unkritisches Privattheater,
       künstlerisch ist das meistens eher unerheblich.
       
       Gibt es in Iran so wie im Nachbarland Afghanistan oder auch in Ägypten eine
       Tradition des populären Puppentheaters? 
       
       Wir hatten das Schattentheater. Aber das ist alles weg. [1][„Mit dem Islam
       nicht vereinbar“.]
       
       Der iranische Underground ist bekannt dafür, sich das Tanzen und das Feiern
       nicht verbieten zu lassen. Wie war das bei Ihnen und der Theater-Szene? 
       
       Wir haben uns zum Beispiel aus der Stadt in die Abgelegenheit der Wüste
       zurückgezogen und Busse für unsere Events dorthin organisiert. Das war aber
       sehr aufwendig. Später haben wir in einer großen Parkgarage in einem
       Hochhaus privat inszeniert und gefeiert. Mehr als 40, 50 Leute konnten wir
       da aber nicht reinlassen.
       
       Über die Revolten gegen die iranische Theokratie und das Ankommen nach
       Ihrer Flucht in Österreich schreiben Sie in dem Roman „Das Ende ist nah“.
       Das Buch ist letztes Jahr erschienen und hat sehr viel Aufmerksamkeit
       erfahren. Sie haben es im Original auf Deutsch geschrieben, warum nicht in
       Farsi, Persisch? 
       
       Jede Sprache hat ihre Regeln, in denen man sich unterschiedlich ausdrücken
       kann. Ein Sprachwechsel bringt auch eine gewisse Freiheit mit sich. Im
       Deutschen bewege ich mich ein bisschen wie ein Narr. [2][Ich bin gewisse
       Fesseln losgeworden, konnte Distanz gewinnen,] von den Zwängen, wie ich sie
       in Iran erlebt habe. Es war eine sprachliche Flucht vor dem, wo ich herkam. 
       
       In Ihrem Roman erzählen Sie auch von der perversen Lust patriarchal
       geprägter Männer, sexualisierte Gewalt gegen Frauen, gegen Männer und
       Kinder auszuüben. 
       
       Es gibt diese üble gewalttätige Tradition. Sie ist älter als das jetzige
       islamistische Regime. Sie drückt sich in der rigiden Trennung und
       Unterteilung nach Geschlechterstereotypen aus. Vorurteile verstärken sich
       dadurch, menschliche Bedürfnisse werden unterdrückt. Und entladen sich in
       gewaltsamen Handlungen. Aber die iranische Gesellschaft hat sich zuletzt
       doch ein bisschen verändert. Sie hat gegen das Regime [3][ein paar
       Freiheitsrechte durchgeboxt.]
       
       Warum diese rigiden Moralvorstellungen? 
       
       Es gibt eine Perversität bei diesen vermeintlich religiösen Menschen.
       Vordergründig lehnen sie alles Geschlechtliche ab. Alles, was mit Lust zu
       tun hat. Aber tatsächlich sind sie sehr darauf fixiert. Das ist schon ein
       bisschen krankhaft. Wie sie so durch die Welt gehen und alles mit Sex und
       Sexualität in Verbindung bringen. Das steckt tief drin im Alltäglichen. Ein
       Beispiel: Im Bus oder in der U-Bahn kann eine Frau sitzen. Sie steht auf
       und so ein zwanghaft denkender Mann setzt sich ganz schnell auf ihren
       Platz, um sich von der noch spürbaren Wärme erregen zu lassen.
       
       [4][In Ihrem Roman „Das Ende ist nah“ erzählen Sie über Ihre Figur A.]
       auch, wie ein oppositioneller Intellektueller aus dem Iran, ein Laizist,
       bei seiner Ankunft in Österreich von einer rassistischen Umgebung in einen
       Orientalen zurückverwandelt wird. Zudem wird A. mit allen möglichen
       Menschen aus allen möglichen Regionen im Flüchtlingslager konfrontiert und
       zusammengesperrt. Manche schlagen ihn und rauben ihn aus. Die Figur des
       bewussten politischen Flüchtlings, sie scheint eine recht einsame Figur? 
       
       Die Zusammensetzung der Geflüchteten ist sehr unterschiedlich. Demokratisch
       orientierte politische Oppositionelle, Angehörige sexueller Minderheiten
       sind im Vergleich zu Kriegsflüchtlingen aus allen sozialen Schichten
       sicherlich in der Minderheit. Und da sind dann auch immer ein paar
       schwierige Individuen darunter, vor allem wenn du zu viert oder fünft in
       einem kleinen Raum zusammengepfercht wirst. Die Hölle auf Erden, die
       bereitet immer noch der Mensch dem Menschen. Ich wollte zeigen, dass es
       diese eine Vorstellung von dem Flüchtling nicht gibt. Kein Schwarz-Weiß. Es
       sind Individuen, mit sehr unterschiedlichen Biografien und Motiven.
       
       Sie leben in Österreich. Auch dort hat bei den Europawahlen gerade die in
       Teilen rechtsextremistische FPÖ ein Viertel der Stimmen auf sich
       versammelt. Wie sollten wir Ihrer Meinung nach auf das europaweite
       Erstarken der extremen Rechten reagieren? 
       
       Zuallererst müssen wir die Augen weit öffnen und realisieren, dass die
       Demokratie weltweit tatsächlich in Gefahr ist. Das chinesische, russische
       und iranische Regime sind im Angriffsmodus. Und in den USA droht Donald
       Trump als Präsident. Die Europäische Union mit ihren Werten steht von innen
       wie außen unter Druck. Die Linke sollte aufhören, sich in Grabenkämpfen
       selbst zu zerfleischen. Die Identitären oder die FPÖ in Österreich speisen
       immer wieder gezielt völkische Provokationen ein. [5][„Remigration“ ist
       eine solche], oder das Gerede davon, Geflüchtete an bestimmten Orten „zu
       konzentrieren“.
       
       Oder, dass die nazistische SS keine verbrecherische Organisation gewesen
       sei. Was Exponenten der AfD in Deutschland dann wiederum übernehmen,
       nachdem sie sehen, wie erfolgreich die FPÖ damit in Österreich ist. 
       
       Sie beabsichtigen wirklich eine historische Verschiebung und offenbar eine
       in ihrem ethnischen Sinne betriebene Säuberung. Was für ein grausamer
       Gedanke, gerade vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte bis 1945.
       
       Als Gegengift zu völkischen Vorstellungen von Kulturen und Nationen bringt
       der Philosoph Jürgen Habermas immer wieder den Begriff des
       „Verfassungspatriotismus“ als demokratischen Anker ins Spiel. Die
       aufgeklärten Bürger:innen definieren sich demnach über Gesetze und
       Rechte, die für alle gelten. Und nicht über völkisch-biologische Annahmen
       ihrer Herkünfte. Klingt das zu nüchtern, oder können Sie dem etwas
       abgewinnen? 
       
       Ich kann damit tatsächlich etwas anfangen. Auf die demokratische Verfassung
       kann ich mich in jeden Fall recht positiv beziehen. In Iran dauert der
       Kampf um eine solche jetzt schon über hundert Jahre an. [6][Vor den Mullahs
       herrschte dort die Monarchie.] In solchen Ländern hat man nie den Luxus
       einer demokratischen Verfassung erfahren. Es lohnt sich, diese hier zu
       verteidigen.
       
       21 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kultur-und-Kriege/!5987818
 (DIR) [2] /Autorentheatertage-in-Berlin/!6012803
 (DIR) [3] /Stimmen-aus-dem-Iran/!6003101
 (DIR) [4] https://www.deutschlandfunk.de/amir-gudarzi-das-ende-ist-nah-dlf-8ef21817-100.html
 (DIR) [5] /FPOe-vor-Gericht-bei-Wiener-Festwochen/!6013442
 (DIR) [6] /Essayfilm-Der-nackte-Koenig-online/!5746881
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Literatur
 (DIR) Neue Dramatik
 (DIR) Theater
 (DIR) Roman
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Wien
 (DIR) Jürgen Habermas
 (DIR) Neue Rechte
 (DIR) Islamismus
 (DIR) Religion
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Politisches Theater
 (DIR) Deutsches Theater
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) FPÖ vor Gericht bei Wiener Festwochen: Wie Rechte ticken
       
       Die Wiener Festwochen stellen Rechtspopulisten vors Theatergericht. Die FPÖ
       sei eine Gefahr für die Demokratie, Sanktionen soll es aber nicht geben.
       
 (DIR) Autorentheatertage in Berlin: Nadelöhr der deutschen Geschichte
       
       Wo steht die deutschsprachige Dramatik? Eine Antwort geben die
       Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin. Ein Blick auf die Texte.
       
 (DIR) Kultur und Kriege: Schräge Solidarisierungen
       
       Die liberalen Demokratien sind unter Druck. Der hybriden Kriegsführung
       totalitärer Mächte sollte man gerade im Kulturbereich entschlossen
       begegnen.