# taz.de -- Mesut Özil beendet Fußballkarriere: Der Verkomplizierer
       
       > Fußball-Weltmeister Mesut Özil hat seine Karriere beendet. Er machte die
       > Dinge, die man so gern einfach haben will, komplizierter – nicht nur im
       > Fußball.
       
 (IMG) Bild: 8. Oktober 2010: Angela Merkel gratuliert Mesut Özil nach dem Sieg der Deutschen gegen die Türkei
       
       Der Fußball sorgt in einer komplizierten Welt für klare Verhältnisse. Das
       ist an diesem Spiel das Schöne – das schnell auch gefährlich werden kann.
       Das ist der Grund, warum so viele Menschen Woche für Woche in die Stadien
       strömen oder bei bestem Wetter vor dem Fernseher sitzen. Das Leben ist
       nicht schwarz-weiß. Dieser Einwand gilt hier nicht. Denn wenn man
       Fußballfan ist und für einen Verein brennt, dann ist klar: Es geht ums
       Gewinnen oder Verlieren; die Spieler meiner Mannschaft sind die Guten, die
       Spieler der anderen mag ich nicht; dann ist auch klar: ich möchte um jeden
       Preis, dass meine Mannschaft gewinnt, und ich unterstütze sie, so gut ich
       kann, ich verausgabe mich für sie, denn ich liebe sie.
       
       Mesut Özil, der nun mit 34 Jahren seine Karriere beendet, hat so sehr
       polarisiert, weil er kein Typ der Klarheit und Eindeutigkeit ist. Er
       verkomplizierte die Verhältnisse im Stadion auf eine Weise, die nicht für
       alle Fußballfans zumutbar gewesen ist – und auch ihn selbst immer wieder in
       schwierige Situationen gebracht hat.
       
       Zunächst durchkreuzte Özil in sportlicher Hinsicht die Erwartungen der
       Deutschen: Er glänzte nicht durch harte körperliche Arbeit und hohe
       physische Wettbewerbsfähigkeit, was den deutschen Fußball vermeintlich
       auszeichne, sondern mit Überblick, Spielintelligenz und Kreativität, wie es
       die Fußballintelligenzija in Deutschland eher anderen Fußballnationen
       zuspricht. Schlechte Körpersprache, hängende Schultern, mäkelten Experten
       immer wieder, weil ein Özil sich auf dem Platz nicht so aufspielen musste
       wie ein Thomas Müller.
       
       Wenn man bei Youtube „Best of Özil“ eingibt, dann sind es nicht dessen
       Tore, die ganz oben in der Ergebnisliste erscheinen, sondern
       Zusammenschnitte von Pässen und Assists, die man von einem deutschen
       Spieler tatsächlich nicht gewohnt war. Oft wurde er deshalb als
       uneigennützig bezeichnet, Özil mache eben seine Mitspieler besser. Aber
       wenn es mehr Spaß macht, sich die Torvorlagen eines Spielers anzusehen als
       die Tore eines anderen, dann bedeutet das etwas. Viele faszinierte diese
       sportliche Eigenheit Özils, andere machte sie sauer. Sie nahmen sie,
       bewusst oder unbewusst, als Delinquenz wahr – und das auch noch von einem
       Türken, der doch einfach froh sein sollte, dass er sich das weiße Trikot
       mit dem schwarzen Adler überhaupt überstreifen darf!
       
       ## Unrecht getan, Unrecht erfahren
       
       Jetzt, wo er aufhört und die Meldungen durch das Netz gehen, denken viele
       wohl nicht als Erstes an das Sportliche. Viele erinnern sich wohl eher an
       das umstrittene Foto mit dem türkischen Präsidenten; oder daran, wie er
       sich mit Rassismusvorwürfen von der deutschen Nationalmannschaft
       verabschiedet hat, nachdem einige ihn und die Diskussionen über ihn für das
       Vorrunden-Aus der Deutschen bei der WM 2018 verantwortlich gemacht hatten;
       daran, dass immer wieder Thema war, dass er die deutsche Nationalhymne
       nicht mitsingt; oder daran, dass jener türkische Präsident sogar zu seiner
       Hochzeit geladen war; vielleicht auch daran, dass er ganz am Ende auch noch
       zum Erdoğan-Verein Başakşehir gewechselt ist.
       
       Özil wurde Unrecht getan. Aber Özil hat auch Unrecht getan. Dafür wurde er
       zu Recht kritisiert. Man macht [1][eben keine netten Gefälligkeitsfotos mit
       einem Autokraten]. Man muss aber auch nicht gleich alte rassistische
       Vorurteile aufwärmen, wenn doch einer so ein Foto macht. Über all das wäre
       jedenfalls nicht so erregt und ausdauernd diskutiert worden, wäre Özil
       nicht einer der besten Fußballer, die dieses Land je hervorgebracht hat.
       
       Mesut Özil hat also die etwas seltsame Frage nach dem deutschen Fußball
       verkompliziert. Dasselbe hat er auch mit jener nach dem Verhältnis von
       Fußball und Politik getan; und schließlich ist auch die Frage nach
       Identität und Zugehörigkeit in Deutschland durch ihn komplizierter
       geworden. Sie war schon vor ihm nicht einfach, aber er hat gezeigt, wie
       kompliziert sie tatsächlich ist. [2][Mit Özil konnte niemand mehr
       wegschauen] und die Sache mit einem abstrakten Multikulti-Bekenntnis
       erledigen.
       
       Yıldıray Baştürk, Hamit und Halil Altıntop, Nuri Şahin – jedes Mal
       erleichterte es mich als Jugendlicher, wenn sich ein namhafter
       deutschtürkischer Fußballer für die türkische statt für die deutsche
       Nationalmannschaft entschied. Die Deutschen waren eh schon gut genug. Und
       sowieso war ich für die Türkei und nicht für Deutschland, wie viele andere,
       die in Deutschland geboren wurden, aber als Ausländer aufwuchsen.
       
       ## Kein Jubel
       
       Dann kam Mesut Özil und streifte sich das deutsche Trikot über. Am 8.
       Oktober 2010, beim EM-Qualifikationsspiel Deutschland gegen die Türkei im
       Berliner Olympiastadion, traf er in der 79. Minute zum 2:0 (Endstand 3:0).
       Nach dem Tor nahm er die Glückwünsche der Mitspieler an, er schmunzelte
       höchstens ein bisschen, aber er jubelte nicht. Ich sah Özil an diesem Abend
       zum ersten Mal live, war für [3][dieses so symbolträchtige Spiel,] dessen
       Bedeutung die meisten, die ähnlich empfanden, gar nicht genau benennen
       konnten, extra in die Hauptstadt gereist.
       
       Als viele der deutschen Türkei-Fans, bei denen ich im roten Trikot stand,
       Özil nach seinem Tor beleidigten und auspfiffen, da machte Özil einem das
       Leben mal wieder schwer. War er wirklich ein Verräter, wie die Kurve
       schrie? Oder war dieses Geschrei heuchlerisch, weil auch jeder der
       Schreienden an Stelle Özils das deutsche Trikot getragen hätte? Klar schien
       in dieser 79. Minute im Olympiastadion nur, dass es auf diese Fragen keine
       einfachen Antworten gab. Und spürbar war der Schmerz über diesen Umstand,
       den vielleicht auch der Torschütze selbst empfand und der nicht nur mit
       Fußball oder einem selbst zu tun hatte, sondern auch mit der Gesellschaft,
       die einen umgab.
       
       23 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Oezil-und-Guendoan-posieren-mit-Erdoan/!5506264
 (DIR) [2] /Kritik-am-DFB-in-Katar/!5895217
 (DIR) [3] /Reaktionen-beim-deutsch-tuerkische-Fussballduell/!5134267
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volkan Ağar
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Fußball
 (DIR) Deutscher Fußballbund (DFB)
 (DIR) IG
 (DIR) Deutscher Fußballbund (DFB)
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Kolumne Press-Schlag
 (DIR) Alternative für Deutschland (AfD)
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Umfrage zur Fußball-Nationalmannschaft: Sylt. Ein Sommermärchen
       
       Jeder Fünfte findet die DFB-Elf zu divers. Der Bundestrainer hält
       Rassismus-Umfragen trotzdem für überflüssig. Wo bleibt der große Aufschrei?
       
 (DIR) Podcast über Mesut Özil: Projektionsfläche und Akteur
       
       Warum hat Fußballstar Mesut Özil seinem Geburtsland den Rücken gekehrt? Der
       Podcast „SchwarzRotGold“ geht der Frage nach.
       
 (DIR) Özil und der Multi-Kulti-Fußball: Die grün-liberale Märchenstunde
       
       Mesut Özil beendet seine Fußballkarriere, die One-Love-Binde auch. Es ist
       Zeit, mit alten Projektionen aufzuräumen.
       
 (DIR) Lektionen der Woche: Linke Tiere, rechte Trolle
       
       Die AfD darf braun sein, die Gewerkschaft legt Deutschland lahm und Utrecht
       kokst mehr als Berlin. 5 Dinge, die wir diese Woche gelernt haben.
       
 (DIR) Kritik am DFB in Katar: Mesut Özil ist immer noch dabei
       
       In WM-Stadien sind Bilder des früheren Nationalspielers zu sehen. Doch
       hierzulande traut man sich immer noch nicht an das Thema Rassismus heran.
       
 (DIR) Transfer von Mesut Özil zu Fenerbahçe: Eine Herzensgeschichte
       
       Mesut Özil wechselt von Arsenal zu Fenerbahçe Istanbul. In der Türkei löst
       das Euphorie aus. Unklar ist, ob sich der Klub den Transfer leisten kann.
       
 (DIR) Özil und Gündoğan posieren mit Erdoğan: Deutschsein, wie eine Zwangsneurose
       
       Die Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündoğan mit Erdoğan sind politisch
       fragwürdig. Die Reaktionen darauf sind so ermüdend wie scheinheilig.