# taz.de -- Neuer Roman von Karl Ove Knausgård: Schwelende Konflikte
       
       > Der Starautor Karl Ove Knausgård erweist sich als extrem guter Erzähler,
       > der sich Probleme einhandelt. „Der Morgenstern“ heißt sein neuer Roman.
       
 (IMG) Bild: Ein Charisma wie die Nordsee selbst, tief und rau und überhaupt: Karl Ove Knausgård 2022
       
       Ein neuer Planet am Himmel verheißt selten was Gutes, das weiß man
       spätestens seit [1][Lars von Triers Endzeitfilm „Melancholia“]. Auch in
       „Der Morgenstern“, dem neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove
       Knausgård, starrt die Welt staunend nach oben: Ein Feuerball ist am Himmel
       erschienen.
       
       Knausgård schreibt nun also Science-Fiction, könnte man denken. Das ist neu
       für den 53-Jährigen, der dafür berühmt wurde, sein Leben in autofiktionalen
       Riesenromanen zu sezieren. Seit seinem sechsbändigen Zyklus „Min Kamp“
       („Mein Kampf“) gilt er als einer der letzten Vertreter eines aussterbenden
       Typus: des männlichen „Autorengenies“.
       
       Knausgård inszeniert sich als Typ mit einem Charisma wie die Nordsee
       selbst, tief und rau und überhaupt, dazu selten verlegen um eine
       Provokation. Vor Jahren lobte er die rechte Partei „Fremskrittspartiet“ als
       „Segen“.
       
       In seinem neuen Roman bricht Chaos auf der Welt aus, während der besagte
       Stern am Himmel leuchtet. Ein klinisch totes Unfallopfer erwacht wieder zum
       Leben, die Mitglieder einer Metal-Band werden bestialisch ermordet,
       komische Vögel kreisen am Himmel. Der Sommer flirrt – je nach Lichteinfall
       – melancholisch oder dystopisch.
       
       Ganze neun Ich-Erzähler:innen werden auf fast 900 Seiten eingeführt.
       Knausgårds Fans verehren den Viel- und Langschreiber als großen
       Entschleuniger, [2][seine Kritiker:innen unterstellen ihm
       „literarisches Manspreading“].
       
       ## Meister der Selbsterkundung
       
       Dabei ist es nicht mal so, dass der Erzähler Knausgård die Bühne
       breitbeinig betritt. Eher gesellt er sich unaufdringlich zur Leserin und
       erzählt sie am Stuhl fest, indem er auch fürs Nebensächlichste gute Bilder
       findet: „[…] ihr Gesicht war irgendwie entflammt, nachdem sie draußen
       gewesen war, war noch zu groß für die kleinen Zimmer im Haus.“
       
       Ein wenig ähnelt er als Erzähler seinen männlichen Figuren, die sogar
       Fremde zum Bleiben (und Trinken) überreden können. Erst geht es dabei meist
       ums akute Überwinden der Einsamkeit, dann folgen die gewichtigen Gespräche.
       In „Morgenstern“ ist es vor allem die Figur des Egil, ein Dokumentarfilmer,
       der Knausgård als Ventil für Essay-Einschübe über die Suche nach Glauben
       und Sinnhaftigkeit dient.
       
       Es ist keine Überraschung, dass ein Schriftsteller, der als Meister der
       Selbsterkundung berühmt wurde, vor allem männliche Figuren mit Tiefe
       schreibt. „Der Morgenstern“ ist bewohnt von jungen Frauen, die älteren
       Männern verfallen, und nicht mehr ganz jungen Frauen, die sich mit einem
       Leben ohne Höhepunkte abgefunden haben; von wütenden Kindern und räumlich
       oder emotional abwesenden Vätern. Der Literaturprofessor Arne, der
       zerrieben wird zwischen familiären Verpflichtungen und der Sehnsucht nach
       Laisser-faire, ist einer von ihnen.
       
       ## Orientalistische Fantasien
       
       Andere Charaktere überzeugen weniger. Der jungen Iselin schiebt Knausgård
       orientalistische Fantasien unter, die kaum zu einer weiblichen Figur im
       Studentenalter passen. Später denkt Kathrine, eine Figur um die 40, beim
       Kauf eines Schwangerschaftstests über die großen Brüste der Verkäuferin und
       das Vorurteil nach, dass „Frauen mit runden Formen fruchtbarer waren als
       schlanke Frauen“.
       
       Trotz solcher Momente ist vor allem die erste Hälfte des Romans, die den
       ersten Tag nach Auftauchen des Morgensterns beschreibt, ziemlich
       faszinierend. Knausgård wühlt Konflikte auf, deutet Verbindungen zwischen
       seinen Figuren an, legt Fährten. Viele werden ins Leere laufen.
       
       Vor Problemen steht man allerdings, sobald man sich fragt, wie der Erzähler
       Spannung und Grusel erzeugt. Oder vielmehr: auf wessen Kosten. Unbehagen
       bereitet die Geschichte von Turid, die in einer Einrichtung für behinderte
       Menschen arbeitet. Die Bewohner dieses Heims schauen ihre Pflegerin mit
       „bösen Augen“ an, onanieren permanent. Keiner dieser eigentlich vulnerablen
       Männer ist ein Charakter mit Geschichte, jeder ein demonstrativ
       unheimlicher Statist, der die verkehrte Welt im Bann des Morgensterns noch
       verkehrter erscheinen lassen soll.
       
       ## Er zitiert sich selbst
       
       Ähnlich sieht die Sache mit Tove aus, die eine bipolare Störung hat. Im
       Studium, sei sie ein Faszinosum gewesen; viel mehr erfährt man nicht über
       die Künstlerin und dreifache Mutter. Im Romanverlauf verschlechtert sich
       ihr psychischer Zustand: Wie ein Gespenst wandelt sie durch das Ferienhaus
       der Familie, tötet in ihrer Unrast Kätzchen und ängstigt ihre Kinder. Die
       Frau ohne Eigenschaften ist kaum mehr als ein Effekt, ein besonders
       dissonanter Ton im Grundrauschen aus schwelenden Konflikten und Ereignissen
       wider der Natur.
       
       Besonders bemerkenswert ist diese Figur, wenn man tut, was man nicht lassen
       kann (oder lassen soll): mit voyeuristischem Interesse nach Bezügen zu
       Knausgårds Leben suchen. In seiner „Min Kamp“-Reihe hatte Knausgård
       ausführlich die bipolare Erkrankung seiner früheren Ehefrau Linda Boström
       Knausgård thematisiert. Dem Guardian erzählte sie 2020, wenige Jahre nach
       ihrer Scheidung, wie wütend und verletzt sie über die Darstellung ihrer
       Person war.
       
       Trotzdem fährt Knausgård erneut eine manisch-depressive Frauenfigur auf.
       Auch an anderer Stelle wiederholt oder zitiert er sich selbst: Einmal mehr
       wird in „Morgenstern“ ein romantisches Verhältnis zwischen Lehrer und
       Schülerin angedeutet. Schon Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ von 1998
       handelte von einem Lehrer, der eine 13-jährige Schülerin missbraucht.
       
       ## Ausbeuterisches Schreiben
       
       Im deutschen Feuilleton wurde der Roman 2020 recht freundlich aufgenommen.
       In Schweden hingegen, wo „Aus der Welt“ schon fünf Jahre zuvor erschienen
       war, galt das Buch als Skandal. Die Literaturwissenschaftlerin Ebba
       Witt-Brattström warf Knausgård „literarische Pädophilie“ vor. Auf die
       Vorwürfe reagierte der Autor mit einem wütenden Verteidigungsartikel.
       
       In „Morgenstern“ ist es die junge Iselin, die Gefühle für ihren
       Lieblingslehrer hegt. Jahre nach ihrem Abschluss wird sie von ihm zu einem
       Treffen eingeladen, das schwer nach Date aussieht – um dort von der
       Anwesenheit seiner Partnerin überrascht zu werden. Hier ist Iselin
       diejenige, die einen beschämten Abgang macht.
       
       In der Debatte um „Aus der Welt“ bescheinigte die Autorin Berit Glanz
       Knausgård ein „ausbeuterisches“ Schreiben: Dem Roman fehle die
       Gegenperspektive zur Männerfigur, dazu die Ambivalenz, die etwa Nabokovs
       „Lolita“ ausmache. Falls Iselins Geschichte Knausgårds Versuch ist,
       diesmal der Schülerinnenperspektive mehr Raum zu geben, dann ist es ein
       sehr halbherziger.
       
       ## Ambivalenz bis zum Äußersten
       
       Überhaupt präsentiert sich Knausgård in „Der Morgenstern“ als extrem guter
       Erzähler, der sich durch Ignoranz neben moralischen auch ästhetische
       Probleme einhandelt. Und das, obwohl er die Sache mit der Ambivalenz sonst
       bis zum Äußersten treibt: Anders als Lars von Trier im Film „Melancholia“
       lässt er die Welt nicht mit einem Knall untergehen, sondern auf einen
       Jüngsten Tag mit unklarem Ausgang zusteuern. Der titelgebende Morgenstern
       kann in der Bibel schließlich sowohl für Jesus als auch für den Teufel
       stehen.
       
       Mark Fisher hat mal geschrieben, es sei einfacher, sich das Ende der Welt
       vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Für Knausgård gilt vielleicht
       auch: als eine Welt, in der andere kein Material sind, über das ein
       Schöpfer unbegrenzt verfügen kann.
       
       10 Apr 2022
       
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