# taz.de -- Theaterstück „Der Morgenstern“: Größer als das Leben
       
       > Das Hamburger Schauspielhaus adaptiert Karl-Ove Knausgårds Roman „Der
       > Morgenstern“ als spektakuläre Live-Verfilmung. Die Frage ist nur: wozu?
       
 (IMG) Bild: Spielt kleine Dramen auch mal komödiantisch überzeichnet: das Hamburger „Morgensterrn“-Ensemble
       
       Aus [1][knapp 900 Romanseiten] mit neun Episoden und neun Hauptfiguren wird
       ein Theaterabend von drei Stunden Länge. Von einem Stern wird erzählt, der
       über der norwegischen Stadt Bergen aufgegangen ist und mysteriöse
       Veränderungen mit sich bringt: Tiere verhalten sich seltsam, ein Toter wird
       bei der Autopsie wieder lebendig. Eine düstere Ahnung macht sich breit: Es
       ist die Apokalypse, die hier heraufzieht.
       
       Das bringt Anforderungen mit sich für alle Beteiligten – für die
       Hauptfiguren, die ihre Leben mit all ihren Schieflagen weiterleben und den
       Stern nicht zur Kenntnis nehmen. Und für die Zuschauer*innen, die all die
       individuellen Alltagsgeschichten vorgeführt bekommen – und darüber hinaus
       einen Weltuntergang zur Kenntnis zu nehmen haben. Was hier verhandelt wird,
       ist in der Summe also larger than life.
       
       Vielleicht hatte [2][Regisseur Viktor Bodo] deshalb die Idee, seine
       Adaption von Karl-Ove Knausgårds „Der Morgenstern“ als Mischform aus
       Theater und Film zu konzipieren: Es gibt eine drehbare Bühne, die
       Wohnungen, Hotels, Galerien oder OPs präsentiert, in denen
       Schauspieler*innen agieren. Andererseits formen die verschiebbaren
       Bühnenelemente Flächen unterschiedlicher Größe, auf die Videos projiziert
       werden; viele davon auf oder hinter der Bühne live gefilmt und direkt
       übertragen.
       
       Manchmal nehmen diese Projektionsflächen den gesamten Bühnenraum ein – das
       Schauspielhaus wird zum Breitwand-Kino. Zu sehen gibt es die
       Live-Verfilmung eines Romans unter Zuhilfenahme etlicher Filmzitate aus
       Fantasy, Mystery und Horror.
       
       ## Keine Autofiktion
       
       Erzählt werden lediglich zwei Tage Lebenszeit, allerdings aus der
       Perspektive unterschiedlicher Charaktere, darunter eine Pastorin, ein
       Journalist, seine Frau, ein Kindergärtner, ein saufender Schriftsteller.
       Anders als [3][in den Romanen, für die er berühmt geworden ist], erzählt
       Knausgård in „Der Morgenstern“ nicht von sich selbst, vielmehr episodenhaft
       von diesen Figuren: Die Pastorin hält ihren Ehemann nicht mehr aus,
       weswegen der meint, sie würde ihn betrügen, und damit alles noch schlimmer
       macht. Der Kulturjournalist will eigentlich große Storys machen und baggert
       alternativ eine Künstlerin an. Der alkoholkranke Schriftsteller will nicht
       gestört werden durch seinen Sohn, versucht aber trotzdem, die zerrüttete
       Beziehung zu heilen.
       
       Weniger schnell als die Zuschauer realisieren die Charaktere, dass es ihnen
       an den Kragen geht, seit der Stern da ist. Für die Zuschauer*innen ist
       der Stern nicht anders zu begreifen als eine Metapher für ein Unheil, das
       alle betrifft: der Klimawandel, die Pandemie, der Krieg. Knausgårds
       apokalyptisches Szenario hat es heutzutage nicht schwer, einen realen Anker
       zu finden.
       
       Das Ensemble spielt all diese kleinen Dramen oft mit einer komödiantischen
       Überzeichnung, die in Richtung Volkstheater geht. Es gibt kleine und große
       Gags und immer wieder wird das Geschehen auf eine Leinwand verlagert – weil
       jemand anruft oder gerade nicht auf der Bühne ist oder es ein interessanter
       Effekt ist, wenn die Schauspieler*innen auf der Bühne von hinten, ihre
       Gesichter aber in Großaufnahme von vorn zu sehen sind. Der Star des Abends
       ist das Videoteam, das die Kameras platziert, die Schauspieler*innen
       filmt, die Bilder schneidet, mischt und projiziert. Auch die Tonmeister und
       Sounddesigner haben viel zu tun: Diese Live-Verfilmung ist ein Meisterwerk
       der Koordination. Es ist ein Einsatz von Technik, den man eher von großen
       [4][Musical-Produktionen] kennt.
       
       ## Viel Technik, kein Mehrwert
       
       Die Frage ist nur: wozu? Das Konzept der Live-Verfilmung schadet nicht,
       liefert aber auch keinen Mehrwert. Von Zeit zu Zeit hält der Budenzauber
       Lücken bereit für schauspielerische Soli auf leerer Bühne; Monologe, die
       die Oberfläche verlassen und das Innere der Figuren zur Sprache bringen. Da
       wird es ernst – und schwer nachvollziehbar: Zu viel Material, textlich und
       technisch, ist zuvor die Bühne rauf- und runtergegangen; schwierig, sich
       einzufühlen, nichts durcheinanderzubringen, zu folgen.
       
       Der Weltuntergang, er bleibt am Ende letztlich eine Show im Schauspielhaus.
       Alles ist nur Theater, nur Film, nichts, das man allzu ernst nehmen muss.
       Es ist ein Abend, der beeindruckt durch das Viele, das er zu bieten hat.
       Aber was ihm fehlt, ist eine suggestive Kraft, um fortzuwirken.
       
       19 May 2023
       
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