# taz.de -- Stuckrad-Barres neuer Roman: Versuch über die Verstrickung
       
       > „Noch wach?“ ist mehr als eine Abrechnung mit Springer. Der Roman ist ein
       > Abgesang auf die Zustände vor #MeToo und eine Abbitte, mitgemacht zu
       > haben.
       
 (IMG) Bild: Im Ringelshirt: Benjamin von Stuckrad-Barre bei einer Lesung aus „Noch wach?“ in Berlin
       
       Ziemlich in der Mitte des Romans ist der Knoten festgezurrt. Jetzt
       „explodiert“, so der Ich-Erzähler, #MeToo. Und gleichzeitig kommen damit
       die losen Enden zusammen, die Benjamin von Stuckrad-Barre als Autor bis zu
       dem Punkt ausgebreitet hat.
       
       Bis dahin war „Noch wach?“ eine Ansammlung von lose über den Ich-Erzähler
       verbundenen Szenen. Man war in Hollywood dabei, am Pool des Hotels Chateau
       Marmont, an dem zusammen mit dem Erzähler, der mit dem Autor alles gemein
       hat, einige Rich Kids im Glamourabglanz der Filmstars ihre Verlorenheit
       vertrödeln. Und – das wird wichtig werden – an dem auch Rose McGowan
       schweigsam und unnahbar ihre Zeit verbringt. Rose McGowan, das ist im
       echten Leben die Schauspielerin, die den bis dahin allmächtigen
       Filmproduzenten Harvey Weinstein zu Fall bringen wird.
       
       Wir sind auch dabei, wenn die Führungsspitze eines Berliner Krawallsenders,
       in dem der nur leicht camouflierte Springer-Verlag zu erkennen ist, in
       Kalifornien einfällt. Machomäßig wird auf dem Highway auf dicke Hose
       gemacht. Der „Chefredakteur“ im Hummer vorneweg; er ist von Anfang an so
       eklig gezeichnet, als wolle ihn der Roman nur mit spitzen Fingern anfassen.
       Im ganzen Verlauf kommt er nur indirekt vor – und so, dass man an Kai
       Diekmann und Julian Reichelt denkt.
       
       In einem anderem Wagen folgen der Ich-Erzähler und „der Freund“, das ist
       der Besitzer des Medienkonzerns. Er ist komplexer gezeichnet. Eine
       besondere Beziehung verbindet ihn mit dem Erzähler, wie im realen Leben ein
       paar Jahre lang zwischen Springer-Chef [1][Mathias Döpfner] und
       Stuckrad-Barre, etwas zwischen Männerfreundschaft, Transfer von viel realem
       und etwas Imagekapital und nie ganz durchsichtigem Bündnis.
       
       Anspielungen auf eine durch Schreierei geprägte Kindheit des Erzählers und
       eine bis zur Lächerlichkeit ausgelebten Midlifekrise des Medienbesitzers
       durchziehen das Buch, das auch ein Nichtfamilienroman ist. Intimität gibt
       es in ihm nicht. Freundschaft schon. Aber nie selbstverständliche.
       
       ## Ein Gesicht macht Karriere
       
       Auf einer zweiten Ebene der Handlung sind wir in Berlin, wo der
       Medienkonzern einen Neubau neben das angestammte Hochhaus setzt (wie der
       reale Springer-Verlag auch), inklusive New-Work-Gadgets – flexible
       Arbeitsplätze, Duschen auf dem Dachgarten, solche Sachen. Elon Musk tritt
       auf und lacht viel – ein erzählerisches Virtuosenstück zwischendrin.
       
       Und wir lernen Sophia kennen. Sie ist die wirklich interessante Figur des
       Buches, ziemlich verdreht, irgendwo lost, irgendwo auch tough, voller
       Ambivalenzen. Als Moderatorinnengesicht einer Krawallshow hat sie Karriere
       gemacht, gleichzeitig ist sie zum Opfer des Chefredakteurs geworden.
       
       In einer Drogenselbsthilfegruppe treffen sie und der Erzähler sich. Zwei,
       die beschließen, sich gegenseitig nichts vorzumachen. Zwischen ADS-Talk und
       Selbstekel sagt sie dem Erzähler beim cleanen Kirschbananensaft: „Ich will
       dir mal was erzählen über deine sensationelle Neuentdeckung SEXISMUS: Das
       ist überall, jeden Tag. Get over it!“
       
       Was Benjamin von Stuckrad-Barre gut beherrscht: wörtliche Rede wiedergeben.
       Verstrahltes Gequatsche hat er genauso drauf wie denglischen Businesstalk.
       An vielen Stellen funktioniert auch die Eigenheit, Satzteile in Versalien
       hervorzuheben. „Ihm geht es wirklich um DICH ALS PERSON“, heißt es gleich
       am Anfang erkennbar höhnisch über den übergriffigen Chefredakteur.
       
       ## Biografie über Monica Lewinsky
       
       Wie in Hollywood die systematische sexuelle Ausbeutung geschehen konnte,
       ist nebenbei beschrieben. Das ganze Kapital von Personen besteht darin, wer
       wann wo in welche Partys und auf welche Besetzungslisten kommt. Die Männer,
       die die Eintrittskarten verteilen, haben da leichtes Spiel.
       
       Klar ist auch, was den systematischen Sexismus im Berliner Medienhaus
       verursacht: die Mischung aus Chefbreitbeinigkeit und
       Untergebenen-Duckmäusertum. Wie bereit für eine rauchende Lunte liegen also
       die Konflikte, die Illusionen, die sexistischen Schweinereien und all das
       Toxische patriarchalischer Hierarchien in der Mitte des Romans da.
       
       Und dann brennt die Lunte. Rose McGowan wird am Pool des Chateau Marmont
       dem Erzähler eine [2][Monica-Lewinsky-Biografie] in die Hand drücken und
       [3][bald darauf #MeToo lostreten,] und der Erzähler, der einst (wie der
       reale Stuckrad-Barre) für die Harald-Schmidt-Show Lewinsky-Blowjob-Kalauer
       geschrieben hat, wird es selbst in seinem leicht zynischen und vom „Freund“
       fürstlich alimentierten Beobachtungsstandpunkt nicht mehr aushalten.
       
       „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch“, hat Rose McGowan ihm
       in die Lewinsky-Biografie geschrieben. Tatsächlich wird das die Frage des
       Romans sein. Was das bedeutet und wie das geht: kein Arschloch zu sein.
       
       ## Klarheit und Hilflosigkeit
       
       Allerdings kollabiert der Roman vom dramaturgischen Peak in der Mitte aus
       erst mal ein bisschen. Denn der auf die #MeToo-Explosion folgende Plot, den
       Stuckrad-Barre sich hat einfallen lassen und der darin besteht, die
       Machenschaften des Chefredakteurs in einer für ihn vergifteten
       Key-Visual-Kampagne offenbar werden zu lassen, ist allzu dünn. Er verpufft
       auch schnell. Der Chefredakteur durchschaut die Absicht, und der Plan fällt
       in sich zusammen.
       
       Gleichzeitig ist man aber auch ganz froh, dass weder der Erzähler sich hier
       zum Retter derjenigen Frauen aufschwingt, die sich ihm anvertrauen, noch
       das Buch selbst zum #MeToo-Roman inklusive kontrafaktischem Showdown, in
       dem etwa das Berliner Medienhaus in sich zusammenbricht oder dergleichen.
       Vielmehr stehen am Ende – bei vollkommener Klarheit, wie furchtbar die
       Zustände sind – alle Figuren in ziemlicher Hilflosigkeit da. Auch der
       Erzähler.
       
       Der Roman ist zum Teil ein Abgesang und zum Teil eine Abbitte, mitgemacht
       zu haben. Was er nicht ist, ist eine schmierige Anbiederung. Während der
       Erzähler in der ersten Hälfte sein Virtuosentum manchmal allzu sehr
       vorführt, grübelt er in der zweiten Hälfte ziemlich viel und hört auch viel
       zu.
       
       Und nichts klappt hier richtig. Keine Befreiung. Keine Überwindung der
       Zustände. Keine Solidarisierung. Sophia wird noch einmal Sex mit dem
       Chefredakteur haben. Und der Erzähler wird weder endgültig austherapiert
       noch Aktivist werden.
       
       ## Opfer auf der Zoomkonferenz
       
       In einem interessanten Kapitel treffen sich erst protegierte, dann
       fallengelassene Opfer des Chefredakteurs auf einer Zoomkonferenz, erzählen
       ihre Geschichten, die ganze Erbärmlichkeit der Sache steht allen vor Augen,
       und auch der Erzähler berichtet von seinem #MeToo-Fall, als er als
       19-Jähriger von einem Showproduzenten aufs Hotelbett gezogen wurde. Und
       nichts folgt daraus.
       
       Hilflosigkeitserfahrungen bleiben stehen und gehen einem nach. Letztendlich
       ist dies ein Roman über das Verstricktsein in haltlose Zustände, und das
       Buch selbst bleibt auch darin verstrickt und weiß das aber auch.
       
       Der Schluss zieht einem noch mal die Füße weg. Während beim Medienkonzern
       gar nichts passiert, gibt es am Pool des Chateau Marmont Ermittlungen gegen
       das Hotel-Management wegen sexueller Übergriffigkeit. Die Clique am Pool
       aber ist ratlos. „Nein, uns war nichts aufgefallen“, lautet der letzte
       Satz.
       
       21 Apr 2023
       
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       Spaziergang am See.