# taz.de -- G20-Elbchaussee-Prozess jetzt öffentlich: G20-Angeklagter klagt die Justiz an
       
       > Kurz vor seinem Abschluss ist der Elbchaussee-Prozess wieder öffentlich.
       > Der Angeklagte Loic S. gibt eine Erklärung ab, die ihn nicht entlastet.
       
 (IMG) Bild: Als Demonstrieren noch erlaubt war: Demo gegen den Elbchaussee-Prozesses im Dezember 2018
       
       HAMBURG taz | „Bitte setzen Sie ihre Masken auf, das hier könnte ein
       Superspreader-Event sein“, sagt die vorsitzende Richterin Anne
       Meier-Göring. Im Saal ist es trotz Coronaregeln knüppeldicke voll.
       
       Die fünf Angeklagten, die sich wegen der [1][Krawalle an der Elbchaussee]
       während des G20-Gipfels im Juli 2017 vor dem Hamburger Landgericht
       verantworten müssen, haben jeweils zwei Pflichtverteidiger*innen. Außerdem
       sind neben der Kammer samt Schöff*innen, einer Dolmetscherin und einem
       Vertreter der Jugendgerichtshilfe auch ihre Angehörigen im Saal. Der
       Elbchaussee-Prozess nähert sich dem Ende, deshalb ist am 64.
       Verhandlungstermin zum ersten Mal seit anderthalb Jahren [2][die
       Öffentlichkeit wieder zugelassen].
       
       Den fünf jungen Männern, von denen zum Tatzeitpunkt zwei minderjährig
       waren, drohen hohe Haftstrafen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, am
       morgen des 7. Juli 2017 Teil eines Aufzugs gewesen zu sein, der von der
       Polizei unbemerkt durch die Elbchaussee gezogen war, Autos und Mülleimer
       angezündet und Scheiben eingeschlagen hatte. Dunkle Rauchschwaden standen
       damals am Himmel, der entstandene Sachschaden wird auf eine Million Euro
       geschätzt.
       
       Trotz der [3][aufwendigsten Öffentlichkeitsfahndung in der Geschichte der
       Hamburger Strafverfolgung] sind die vier Offenbacher und der Franzose die
       Einzigen, die die Ermittler*innen im Komplex Elbchaussee bislang vor
       Gericht bringen konnten.
       
       ## Erziehung wiegt schwerer als Öffentlichkeit
       
       Dass die Öffentlichkeit so lange ausgeschlossen war, hatte Meier-Göring im
       Dezember 2019 gegen den Willen der Angeklagten angeordnet. Die Verehrung
       der G20-Demonstrant*innen innerhalb der linken Szene könnte moralischen
       Druck auf die Heranwachsenden ausüben, argumentierte die Richterin und
       stellte das „Erziehungsinteresse“ über das Interesse der Öffentlichkeit.
       Zum Ausgleich dafür räumte sie dem französischen Angeklagten Loic S. nun
       die Möglichkeit ein, sich gegen Ende der Hauptverhandlung öffentlich zu
       erklären.
       
       Zu den Ereignissen an der Elbchaussee sagt S. in seiner einstündigen
       Erklärung jedoch nichts. Stattdessen kritisiert er die ungleiche
       Reichtumsverteilung auf der Welt, prangert Umweltzerstörung und
       Globalisierung an, spricht über das Problem der nuklearen Abfälle und die
       Macht von Konzernen wie Bayer und Monsanto, die weltweit Kleinbauern in die
       Abhängigkeit trieben. Er berichtet von seiner Festnahme, dem
       Gefangenentransport, der Zeit im französischen Gefängnis, den sechzehn
       Monaten in der Hamburger U-Haft.
       
       Es ist eine mutige Erklärung und eine, die ihn nicht unbedingt entlasten
       wird. „Im Gefangenentransporter urinierte jemand auf den Boden, weil er
       nicht auf die Toilette durfte“, schildert S. „Die Pippilache lief über den
       Boden und ein Karton mit meinen Sachen sog sie auf.“ Später habe ein
       Wärter, der den Umstand nicht bemerkte, den Karton ins Gefängnis getragen.
       „Da stellte sich dann doch so etwas wie Gerechtigkeit ein“, sagt S., „denn
       es ist nicht richtig, jemanden daran zu hindern, Pippi zu machen.“
       
       S. greift in seiner Rede auch die Justiz an. „Es gibt Steuerparadiese und
       Milliarden Euro, die darin verschwinden. Es gab die Panamapapers und die
       Luxleaks, aber im Knast habe ich keine Steuerhinterzieher und keine Reichen
       getroffen, sondern nur Arme und Migranten. Das ist Klassenjustiz.“ Während
       des ersten Monats in Untersuchungshaft habe er keine Wechselkleidung gehabt
       und seine einzige Unterhose in der Dusche waschen müssen. Später habe seine
       Familie ihm 50 Unterhosen geschickt, die er auch an die anderen Gefangenen
       verteilt habe.
       
       Mit Cornflakes-Packungen habe er das Spielfeld eines Risiko-Spiels
       erweitert und Figuren aus Mehl, Wasser und Salz gebastelt, damit zwölf
       statt sechs Gefangene mitspielen konnten. Er habe Alternativregeln
       aufgestellt, damit es kein Wettbewerb, sondern ein Miteinander sei.
       
       ## „Ich möchte mich nicht entschuldigen“
       
       Gegen Ende seiner Rede kommt S. doch noch auf die Ereignisse des
       G20-Gipfels zu sprechen. Im Schanzenviertel habe er beobachtet, wie
       Polizist*innen mit Schlagstöcken einen Journalisten verprügelten und auf
       Demonstrant*innen losgingen, offenbar nur weil sie sich in der Nähe der
       Roten Flora aufhielten. Im Schatten eines Busches im Florapark hätten
       Polizist*innen auf eine Person eingeknüppelt. „Ich bin von ruhiger Natur,
       aber das Gefühl der Ungerechtigkeit empört mich“, sagt S.. Er habe zwei
       Bierflaschen in Richtung der Polizist*innen geworfen. „Ich möchte mich
       nicht entschuldigen“, sagt S. – „umso mehr, als dass es mir nicht gelang,
       die Polizeibeamten zu treffen.“
       
       Dann schildert er eine andere Situation, in der er im Chaos zwischen
       Demonstrant*innen, Barrikaden, Polizist*innen und Wasserwerfern einer alten
       Dame über die Straße half. Am Bürgersteig angekommen habe der Strahl des
       Wasserwerfers sie getroffen, offenbar nicht aus Versehen, sondern gezielt.
       
       „Es ist sehr schwer, einen Polizisten in Dienstausrüstung zu verletzen, wie
       es die Staatsanwaltschaft so vielen G20-Angeklagten vorwirft“, sagt S..
       „Wieso wirft niemand der Polizei vor, dass sie in Kauf genommen hat, die
       alte Dame zu verletzen?“ Er habe daraufhin zwei Steine auf den Wasserwerfer
       geworfen. „Warum schweigt das Gericht zur Polizeigewalt?“, fragt S. „Und wo
       sind in den Medien die Bilder von Polizisten, die mit Schlagstöcken auf
       Schädel einschlagen?“
       
       Am Ende applaudieren die wenigen Zuschauer*innen, die trotz der
       Coronabeschränkungen in den Zuschauersaal durften. Zum angekündigten
       Plädoyer der Verteidigung kommt es aus zeitlichen Gründen nicht mehr. Das
       Urteil soll am 10. Juli fallen. Aber dass der Komplex dann wirklich
       abgeschlossen ist, ist damit nicht gesagt.
       
       Die Staatsanwaltschaft hatte gleich zu Beginn klargemacht, dass sie die
       Kammer um Meier-Göring für zu mild hält und [4][einen Befangenheitsantrag
       gegen sie gestellt]. Wie das Oberlandesgericht hält die Anklagebehörde die
       Krawalle in der Elbchaussee für einen arbeitsteilig organisierten,
       beispiellosen Gewaltakt. Auch wenn den Angeklagten selbst keine Gewalttaten
       nachzuweisen sind, hätten sie dennoch zum schweren Landfriedensbruch und
       den Sachbeschädigungen beigetragen. Sollte die Strafe nach Ansicht der
       Anklagebehörde nicht hoch genug ausfallen, wird der Bundesgerichtshof den
       Prozess wohl neu aufrollen müssen.
       
       Hinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags zitierten wir Loic S.
       mit den Worten „Ich möchte mich nicht dafür entschuldigen – höchstens
       dafür, dass ich nicht getroffen habe.“ Dies war aber, wie aus der
       [5][schriftlichen Version seiner Erklärung] hervorgeht, nicht seine
       Aussage.
       
       17 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Aus-Gruenden-des-Jugendschutzes/!5561312
 (DIR) [3] /Kommentar-Oeffentlichkeitsfahndung-G20/!5503839
 (DIR) [4] /Verfahren-gegen-G20-Mitlaeufer/!5604289
 (DIR) [5] https://eahh.noblogs.org/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Schipkowski
       
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