# taz.de -- Nationalsozialismus und Kolonialität: Der Schmerz der Anderen
       
       > Die NS-Erinnerungskultur ist bedroht. Ein Plädoyer, sie aus dem Geist der
       > Empathie und der Solidarität neu zu begründen – radikal universell.
       
 (IMG) Bild: Das Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“ erscheint am Freitag
       
       Schreibt die Gegenwart die Geschichte um? [1][Der Ukrainekrieg] ist ein
       Kampf um Erinnerung, um das moralische Erbe des Zweiten Weltkriegs und des
       Antifaschismus – und dieser Kampf wird keineswegs nur von Putin geführt.
       Manche bezeichnen mit den Begriffen Holocaust, Endlösung und Auschwitz nun
       gegenwärtige Schrecken, die einen tun es aus Verzweiflung, andere aus
       politischem Kalkül.
       
       Wer eben noch mit dogmatischer Strenge auf der Singularität der Shoah
       bestand, nennt [2][Putin nun den neuen Hitle]r. Wer gestern einer
       postkolonialen Linken vorwarf, sie relativiere den Judenmord, versenkt die
       Spezifik der NS-Verbrechen heute in einem wiederentdeckten
       Antitotalitarismus. Als wolle die öffentliche Debatte gar hinter den
       [3][Historikerstreit] von 1986 zurückfallen.
       
       Ich halte die neue Trivialisierung von NS-Verbrechen und die alte
       Ausgrenzung kolonialer Opfer für zwei Gesichter desselben Phänomens: eines
       seelenlosen und im Kern desinteressierten Gedenkens. Die Alternative dazu
       ist, Erinnerungskultur und Antifaschismus aus einem Geist der Empathie und
       Solidarität neu zu begründen. Mein Buch, „Den Schmerz der Anderen
       begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, das am Freitag erscheint, ist
       dazu ein Beitrag.
       
       Ich habe mir dafür Inspirationen in diversen Ländern geholt; denn ein
       neues, inklusives Erinnern bedarf einer veränderten Ethik der Beziehungen,
       muss deutsche und europäische Selbstbezogenheit hinter sich lassen. Und
       zeigt nicht gerade die Geschichte der Ukraine, wie unklug es ist, die
       Berührungspunkte von Nationalsozialismus und Kolonialität zu leugnen? Als
       sogenannter Lebensraum und als Kornkammer war die Ukraine ein Herzstück von
       Hitlers Expansion nach Osten.
       
       ## Zwei Gesichter desselben Phänomens
       
       Längst kennt die Forschung den Begriff NS-Kolonialismus, und der
       rassistische Charakter des Ostfeldzugs ist heute unstrittig. Manche
       Hinweise darauf sind atemberaubend präzise. Nichtdeutsche Gehilfen in den
       Vernichtungslagern, die meist unter sowjetischen Kriegsgefangenen
       rekrutiert worden waren (darunter zahlreiche Ukrainer), hießen in der
       Umgangssprache von Wehrmacht und Einsatzgruppen „Askari“ – so wie drei
       Jahrzehnte früher die afrikanischen Hilfssoldaten in der Kolonie
       Deutsch-Ostafrika.
       
       Ein Wort arabischen Ursprungs, schlicht Soldat bedeutend, gelangte über
       Swahili in den Wortschatz der Kolonialherren und von dort an die
       Schauplätze der Shoah in Osteuropa. Die ukrainischen Hilfstruppen der SS
       wurden auch als „Schwarze“ bezeichnet. Historische Redlichkeit verlangt,
       gerade heute an die Dimensionen der NS-Verbrechen in der Ukraine zu
       erinnern. Die deutschen Besatzer ermordeten dreieinhalb Millionen
       Zivilist:innen, davon waren anderthalb Millionen jüdisch.
       
       Weitere dreieinhalb Millionen Ukrainer starben als Soldaten der Roten Armee
       oder an Kriegsfolgen. Und doch lösen ukrainische Städtenamen in
       Nachrichtensendungen kaum Assoziationen aus, die auf uns zurückverweisen
       würden. [4][Mariupol]: von der Wehrmacht in Schutt und Asche gelegt.
       Charkiw: die Straßen der Innenstadt voller aufgehängter Partisanen,
       tatsächlicher oder vermeintlicher; die Leichen hingen tagelang zur
       Abschreckung.
       
       Was in der Ukraine und in Belarus geschah, darüber herrscht bei uns
       bedrückende Unkenntnis. Dieses Ausblenden, über so viele Jahrzehnte, hat
       mit antislawischer Verachtung zu tun – eine Leerstelle im Gedenken, die der
       Indifferenz gegenüber südlichen Opfern der Kolonialzeit durchaus verwandt
       ist. Derzeit befasst sich eine Ausstellung in Amsterdam mit den
       niederländischen Kolonialverbrechen in Indonesien: Massenexekutionen von
       Zivilisten, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuringen.
       
       ## Bedrückende Unkenntnis
       
       Von welcher Zeit sprechen wir? Von der Zeit der Nürnberger Prozesse.
       Zwischen 1945 und 1949, als sich NS-Täter vor den Tribunalen verantworten
       mussten, begingen Franzosen, Briten und Niederländer in ihren Kolonien
       Verbrechen, die nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls
       crimes against humanity waren.
       
       Als in Amsterdam 1947 unter dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus) die
       erste Ausgabe der Tagebücher von Anne Frank erschien, nahmen
       niederländische Soldaten in der Kolonie den Kindern ganzer Dörfer die
       Väter. Von der proklamierten Universalität der Rechte wurde nach 1945 ein
       Großteil der Menschheit begründungslos ausgeschlossen. Das sich
       entwickelnde Völkerrecht fand für die Taten von Europäern außerhalb Europas
       keine Anwendung.
       
       Es gab für die Kolonien weiterhin eine andere Moral, eine andere Ethik, und
       die Erfahrung des Nationalsozialismus, des Holocausts hatte daran nichts
       geändert. Kann es verwundern, dass sich dies direkt oder indirekt in
       außereuropäische Betrachtungen der Shoah eingeschrieben hat? Die
       Verweigerung einer Universalität, die sich an der Gleichheit der Menschen
       und dem gleichen Recht auf Unversehrtheit orientiert, zieht sich bis in
       unsere Tage, als Normalität einer moralischen Asymmetrie.
       
       Und erneut können wir einen Bogen zur Ukraine schlagen: Wer sich fragt,
       warum die Genoziddefinition so eng ist, dass sie die [5][Verbrechen von
       Butscha] möglicherweise nicht erfasst, findet einen Teil der Antwort hier:
       Die Kolonialmächte wollten bei der Aushandlung der Konvention ihre eigenen
       Massentötungen von Zivilisten als vermeintlich normale Kriegsführung außen
       vor halten.
       
       Der Holocaust galt als Modell schlechthin für Genozid, obwohl der Urheber
       des Begriffs, Raphael Lemkin, zur Illustration bereits koloniale Gewalt mit
       herangezogen hatte. Welches Leid hat Stimme, welcher Schmerz spricht zur
       Welt? Wie die Ökonomie der Empathie funktioniert und wie kollektive
       Annahmen steuern, wen wir als unsrig, als zugehörig empfinden, erleben wir
       in diesen Wochen. Die Grenze Europas verlaufe dort, wo die Barbarei
       beginnt, war jüngst zu lesen. Eine Denkfigur, die allerdings geradewegs ins
       Thema führt.
       
       25 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [2] https://www.zeit.de/news/2022-05/12/schaeuble-zieht-parallelen-zwischen-putin-und-hitler
 (DIR) [3] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296
 (DIR) [4] /Stadt-im-Widerstand/!5852158
 (DIR) [5] /Nach-dem-Massaker-in-Butscha/!5843396
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlotte Wiedemann
       
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