# taz.de -- Politologe über UN-Umweltpolitik: „Koalitionen der Willigen“
       
       > Umweltabkommen schaffen Aufmerksamkeit für wichtige Themen und sind
       > wirksam – wenn sie die Staaten rechenschaftspflichtig machen, sagt Yves
       > Zinngrebe.
       
 (IMG) Bild: Harpyie im Amazonas-Urwald. Der Greifvogel brütet auf hohen Wipfeln, und jagt darunter Affen
       
       taz: Herr Zinngrebe, im zweiten Halbjahr 2022 jagt eine wichtige
       Naturschutzkonferenz die nächste. Gerade haben wir Vorverhandlungen zu
       einem neuen Biodiversitäts-Abkommen und eine UN-Ozeankonferenz erlebt,
       Verhandlungen für ein Hochsee-Abkommen liegen vor uns. Bringen die mehr als
       [1][ganz viel Text]? 
       
       Yves Zinngrebe: Sie bringen Themen auf die Agenda, die sonst nicht dort
       stünden, und es kommen Akteure zu Wort, die sonst Schwierigkeiten haben,
       gehört zu werden. Es macht einen Unterschied, ob Akteure aus vielen
       Ländern, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Interessengruppen sich
       einbringen können oder ob ein einzelnes Referat aus einem Ministerium mit
       einem Thema beauftragt wird.
       
       Zum Beispiel diskutieren wir das Ziel, bis 2030 insgesamt 30 Prozent der
       Erde unter Schutz zu stellen, heute viel umfassender und auch mit den
       negativen Effekten, die das für lokale Bevölkerungen haben könnte, als noch
       vor fünf Jahren. Das wurde durch die Vernetzung der Diskurse im Norden und
       im Süden möglich. Das ist eine Leistung der Zivilgesellschaft, aber eben
       auch der internationalen Verhandlungen auf UN-Ebene.
       
       Ein anderes Beispiel: Es gibt seit Jahrhunderten [2][eine Piraterie des
       Nordens von genetischen Ressourcen des Südens]. Im Rahmen des Abkommens zur
       Biologischen Vielfalt wird das endlich angesprochen. Seit der Gründung des
       Abkommens in 1992 sind die Mitgliedsstaaten in zwei Gruppen geteilt: Die
       Geberländer aus dem Globalen Norden und die ärmeren Länder mit viel
       biologischer Vielfalt im Süden. Die Fakten, die Kolonialismus und
       historische Expansion geschaffen haben, spielen auch im Feld des
       Naturschutzes und der Ernährungssysteme eine große Rolle.
       
       Welches Publikum nimmt diese Debatten war? 
       
       Zuerst einmal Regierungen und Zivilgesellschaften der Vertragsstaaten.
       Dadurch entsteht ein weicher Druck, denn beispielsweise die meisten
       Verträge im Rahmen der Biodiversitätskonvention, kurz CBD, sind ja nicht
       legal bindend. Handlungsdruck entsteht durch den Vergleich mit anderen
       Ländern und indem die Ziele zum Naturschutz Einzug in Handelsverträge oder
       die Entwicklungszusammenarbeit halten.
       
       Gibt es dafür Beispiele? 
       
       2008 hat die Regierung in Peru ein Umweltministerium geschaffen, weil das
       Bedingung für das Freihandelsabkommen mit dem USA war. In Afrika entstanden
       in den 80er Jahren eine Reihe von Umweltministerien, die allerdings so
       konstruiert wurden, dass sie hauptsächlich darauf ausgerichtet waren,
       internationale Gelder einzuwerben und zu verwalten. Das hat dazu geführt,
       dass diese Länder ihren Naturschutz an öffentliches Geld aus dem Norden
       gebunden haben. Das birgt die Gefahr, dass die Regierungen sich eher den
       Gebern aus dem Norden verantwortlich fühlen als ihrer eigenen Bevölkerung.
       
       Das waren dann ja nicht unbedingt positive Auswirkungen der
       Biodiversitätskonvention. 
       
       Das waren gute Intentionen, die aber auch zu Problemen führen. Genauso
       wichtig ist allerdings, das grundsätzliche Problem anzugehen.
       
       Nämlich? 
       
       Wie verhindern wir den alten Mechanismus, Ziele zu setzen, zehn Jahre
       zuzuschauen, wie sie verfehlt werden, und dann neue Ziele zu setzen? Man
       könnte ja bösartig unterstellen, dass das System hat. Bislang haben die
       Mitgliedsstaaten es nicht geschafft festzulegen, mit welchen Maßnahmen die
       Ziele, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen oder die Gewinne
       genetischer Ressourcen gerecht zu verteilen, konkret erreicht und wie diese
       Maßnahmen bewertet werden sollen. Dass die Länder Rechenschaft ablegen
       müssen, ist die Voraussetzung für Veränderung.
       
       Dafür braucht man Zivilgesellschaft? 
       
       Ja. Politiker werden sich nur für ein Thema ins Zeug legen, wenn sie das
       Gefühl haben, dass es von Interesse für ihre Wähler ist. Entsprechend
       entsteht auf internationaler Bühne Handlungsdruck, wenn ein Teil der Länder
       vorangeht und andere nicht zurückstehen wollen.
       
       Was macht man in Ländern ohne Zivilgesellschaft? 
       
       Das ist in der Tat ein anderes Problem – die Lage in Russland und China ist
       da anders gelagert. Die Aichi-Ziele, die in dem CBD-Abkommen standen, das
       jetzt erneuert werden muss, waren zum Beispiel eine riesige Errungenschaft,
       die auch durch die engagierte Führung Japans erreicht wurde. Die sehe ich
       derzeit in der Präsidentschaft Chinas nicht. Aber in Deutschland und in
       Europa gibt es Bestrebungen, im Naturschutz die zivilgesellschaftliche
       Beteiligung zu stärken. Daraus kann man etwas entwickeln, das man anderen
       Ländern dann als Angebot machen kann. Für autoritäre Länder wie China
       müssen wir andere Wege finden. Zum Beispiel ist das Land als
       Exportweltmeister abhängig davon, dass seine Produkte abgenommen werden.
       Sobald Märkte wie Europa hier Anforderungen an die Nachhaltigkeit stellen,
       muss auch die chinesische Regierung sich etwas überlegen.
       
       Es sieht zurzeit aber nicht so aus, als ob das diesen Ländern klar wäre.
       Gerade China und Russland mit ihren großen Fischereiflotten wehren sich zum
       Beispiel wirksam gegen Schutzgebiete in den Ozeanen. Was bringen Abkommen,
       wenn die beiden nicht im Boot sind? 
       
       Die Fischerei und die Ozeane sind ein gutes Beispiel für die Tragik der
       Allmende. Alle Länder nutzen die Ressource Fisch in der Hochsee als
       Gemeingut, und jeder befürchtet, der andere würde mehr rausholen – also
       fischen alle so viel, wie sie können. Es gibt keine Meerespolizei, die das
       beaufsichtigen würde.
       
       Die Tragik der Allmende – da waren wir mit der Nobelpreisträgerin Elinor
       Ostrom oder der deutschen Forscherin Silke Helfrich schon mal weiter. 
       
       Sie sagen ja gerade, dass die Tragik der Allmende überwunden werden kann,
       wenn die Gesellschaft es schafft, sich Regeln zu geben. Da sind wir dann
       wieder bei den Abkommen, darin müssen wir uns Regeln geben, die alle
       anerkennen, auch die mit großen Fangflotten. In vielen anderen Bereichen
       des Naturschutzes liegen die Möglichkeiten aber in den Grenzen der Staaten.
       Wenn sich hier ein paar Länder zusammentun, könnten sie Nachhaltigkeit an
       Handelsvorteile binden.
       
       Eine Art Biodiv-Handelsabkommen? 
       
       Nein, kein eigenes Abkommen, der Schutz der Biodiversität muss in
       bestehende Handelsabkommen hinein, also etwa entwaldungsfreie Lieferketten
       in das Mercosur-Abkommen.
       
       Endet das Interesse an Nachhaltigkeit in der EU nicht immer dann, wenn
       Handel und Geldverdienen beginnen? 
       
       So negativ würde ich das nicht sehen. Wir haben sehr mächtige
       Politikinstrumente auf der EU-Ebene: die Richtlinie Fauna-Flora-Habitat,
       die gemeinsame Fischerei- und Agrarpolitik. Aber wir haben nicht die
       politische Power, die guten Inhalte durchzusetzen. Hier in Deutschland
       haben wir mit dem natürlichen Klimaschutz jetzt eine Möglichkeit, die es im
       Naturschutz finanziell noch nie gegeben hat. Er ermöglicht es der
       öffentlichen Hand, Landnutzern und -besitzern finanzielle Angebote zu
       machen, wenn sie zum Klimaschutz beitragen. Aber natürlich müssen wir auch
       unsere eigenen Hausaufgaben erledigen. Wir können kaum vom Globalen Süden
       den Schutz seiner Artenvielfalt verlangen, wenn wir unsere eigene
       Agrarpolitik und unser Ernährungsverhalten nicht in den Griff bekommen.
       
       In der EU werden gute Politikansätze oft am Ende weichgespült. Im
       Mercosur-Abkommen stehen zwar entwaldungsfreie Lieferketten drin, aber so
       formuliert, dass es am Ende nichts nutzen wird 
       
       Das liegt an der Fragmentierung innerhalb der Regierung, an den
       administrativen Monstern, die wir erschaffen haben. Auf EU-Ebene haben die
       Direktionen für Umwelt und die für Industrie wenig miteinander zu tun. Die
       führen getrennte Diskurse, und am Ende kommt es darauf an, wer sich
       durchsetzt. Aber Ansätze wie der Green Deal oder die Farm-to-Fork-Strategie
       verlangen, dass die verschiedenen Ministerien miteinander arbeiten, dass
       sie ein Mainstreaming betreiben, also alle Gesetze und Maßnahmen darauf
       überprüfen, ob sie zum Klima- und Naturschutz beitragen. Das bietet etwa
       die Möglichkeit, falsche Anreize bei Subventionen abzustellen. Und wenn die
       EU, Norwegen, Japan oder Kanada nicht vorangehen – wer soll es denn dann
       machen?
       
       Verlieren die nicht angesichts des Ukrainekriegs gerade weltweit an
       Einfluss? 
       
       Die derzeitige Situation ist neu. Solange es die internationalen Abkommen
       zur Nachhaltigkeit gibt, gab es immer einen Prozess der Annäherung. Dass
       dieser Prozess jetzt stoppt, diese Rückentwicklung globaler Politiken,
       damit müssen wir umgehen. Wir brauchen jetzt auf UN-Ebene Koalitionen der
       Willigen. Das ist gut machbar, denn die Konventionen sind so gestrickt,
       dass es niedrigschwellig möglich ist, beizutreten. Und dann gibt es
       Möglichkeiten, in weiterführenden Abkommen und Protokollen ambitioniertere
       und stärker bindende Ziele festzulegen. Das Nagoya-Protokoll zum Schutz
       genetischer Ressourcen haben auch nicht alle Mitgliedstaaten
       unterschrieben. Gleichzeitig können wir die Gesprächskanäle mit Russland
       und China offenhalten. Wenn wir das nicht schaffen, haben wir gar keine
       Optionen mehr, zu gemeinsamen Zielen zu kommen. Aber wir müssen eben nicht
       bei allen Themen auf sie warten.
       
       12 Jul 2022
       
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